# taz.de -- Debatte Familie und Erziehung: Tigermütter und Wolfsrudel | |
> Der Erfolg von Erziehungsratgebern zeigt die große Angst der | |
> Mittelschicht um die Zukunft ihrer Kinder. Dabei verunsichern sie Eltern | |
> oft. | |
Bild: Entspannt bleiben statt Ratgeber lesen: Familienleben ist eben manchmal w… | |
Kinder machen das Leben unberechenbar, aber schön, so lautet eine | |
vielzitierte Binsenweisheit. Wie das aber mit Binsenweisheiten so ist: Sie | |
stimmen nur halb. | |
In Wirklichkeit ist unsere Gesellschaft dabei, das unberechenbare Element | |
aus dem Alltag mit Kindern zu tilgen. Noch nie zuvor wurden Kinder vom | |
Heranwachsen im Mutterleib bis zur Volljährigkeit so gründlich untersucht, | |
statistisch verglichen und psychologisch ausgedeutet wie jetzt. Und noch | |
nie waren Erwachsene in ihrer Rolle als Eltern so verunsichert. | |
Eigentlich könnten die Bedingungen für die Kinderaufzucht kaum günstiger | |
sein: Die Kindersterblichkeit hat seit den 1950er Jahren ganz erheblich | |
abgenommen, gefährliche Krankheiten sind auf dem Rückzug, es gibt | |
Regelungen zum Mutterschutz, Eltern- und Kindergeld. | |
Trotzdem quälen sich Eltern heute mit Ängsten herum, die ihren eigenen | |
Eltern noch unbekannt gewesen sein dürften. Während die sich, gern mit | |
Zigarette zwischen den Lippen, ans Steuer setzten und mit dem schlafenden | |
Säugling samt Kinderwagen unangeschnallt zum Einkaufen fuhren, machen sich | |
ihre Kinder nun Sorgen darum, ob sie den Nachwuchs überhaupt zum Einkaufen | |
mitnehmen sollen: Droht dem Baby da nicht eine Reizüberflutung? Kommt nicht | |
der Biorhythmus aus dem Gleichgewicht, wenn mal der Mittagsschlaf ausfällt? | |
Und wie viel Schlaf ist eigentlich normal? | |
## In der Verunsicherungsspirale | |
Ängste junger Eltern sind beileibe nichts Neues. Neu ist aber das | |
breitenwirksam aufbereitete Fachwissen, auf das Ratsuchende zurückgreifen | |
können. Die Kindheit befindet sich im Würgegriff der Experten: Kaum eine | |
Zeitung kommt ohne Erziehungskolumne aus, in Zeitschriften und Ratgebern | |
geben Hebammen, PädagogInnen und ÄrztInnen Tipps. | |
Das Problem ist nur: All diese ExpertInnen können zu unterschiedlichen, zum | |
Teil entgegengesetzten Schlüssen kommen. Stillen bis zum dritten Lebensjahr | |
oder Mischkost ab drei Monaten, durchimpfen oder Masernpartys veranstalten | |
– für jede Meinung findet sich der passende Ratgeber. | |
Für den Buchhandel ist das gut. In den letzten 20 Jahren ist das Angebot an | |
Erziehungsratgebern explosionsartig gestiegen, wie Monika Schlitzer von der | |
Interessengemeinschaft Ratgeber im Börsenverein Deutscher Buchhandel | |
bestätigt. Besonders gewachsen sei das Bedürfnis an Informationen über | |
Schwangerschaft, Geburt und Kinderernährung. | |
Die Eltern aber laufen Gefahr, sich im Überangebot einander | |
widersprechender Informationen zu verheddern. Der erste Griff zum Ratgeber | |
erfolgt meist gezielt, um Hilfe in Einzelfragen zu bekommen: Wie klappt es | |
mit dem Durchschlafen? Wie kriege ich mein Kind dazu, Gemüse zu essen? | |
Doch der Verkaufslogik folgend, werden Ratgeber immer häufiger geschrieben | |
wie pädagogische Manifeste. Statt Praxistipps gibt es Erfolgsformeln und | |
Patentlösungen. Funktioniert es nicht, ist man der falsche Elterntyp für | |
die Methode und sollte sich eine andere suchen. | |
## Leitwolfmethode oder doch lieber Tiger Mom? | |
Abgesehen davon, dass so gleich mehrere AutorInnen an der Lösung einer – | |
vermutlich ganz simplen – pädagogischen Frage verdienen, tragen derlei | |
Verkaufsmaschen zur Entmündigung von Eltern bei. | |
Ein gutes Beispiel dafür ist der Ratgeber „Jedes Kind kann schlafen | |
lernen“. Mit dem Schlafprogramm des Kinderarztes Richard Ferber sollen | |
Babys zum Durchschlafen gedrillt werden. Für die einen Eltern ein genialer | |
Trick, für die anderen eine Qual. Das Buch steht seit Jahren auf den | |
Bestsellerlisten, 2013 starteten Eltern eine Petition für seine | |
Indizierung. | |
Wie auch immer man zur Ferber-Methode steht: Das eigentliche Problem ist | |
der Bescheidwisserton des Buches. Wollte man am Anfang der Lektüre nur eine | |
Frage zum Schlaf klären, steht am Ende die Erkenntnis: Als Mutter oder | |
Vater musst du Führungsqualitäten zeigen, sonst hast du verloren. | |
Das wiederum setzt eine Verunsicherungsspirale in Gang: Bin ich als Mutter | |
zu nachgiebig? Gebe ich als Vater ein gutes Vorbild ab, geben wir die | |
richtige Richtung vor für ein glückliches Leben? Auf solche Grundsatzfragen | |
sollte jede Familie besser eine eigene Antwort finden. | |
Der Blick ins Ratgeberregal zeigt auch hier vor allem Schablonenhaftes: | |
Liebevolle Familienführung nach der Leitwolfmethode des dänischen | |
Familenpädagogen Jesper Juul? Oder knallhartes Erfolgstraining nach dem | |
Prinzip der chinesischen „Tiger Mom“ Amy Chua? | |
Letztere hatte mit ihrem 2011 auf Deutsch erschienenen Buch erregte | |
Debatten ausgelöst. Eine Mutter, die ihren Töchtern mit eisenharter | |
Disziplin Höchstleistungen abfordert? Bestseller oder nicht – die | |
chinesische Methode hat hierzulande nicht Schule gemacht. | |
## Förderwahn und Erfolgsdruck | |
Man muss Ratgeberliteratur nicht ernst nehmen. Soll sie lesen, wer will – | |
oder es lassen. Aber ihr Erfolg zeigt, wie groß die Angst der Mittelschicht | |
um die Zukunft ihrer Kinder ist. Die Zeiten sind unsicher, das Abitur ist | |
schon lange kein Garant mehr für gesellschaftlichen Aufstieg – da kommen | |
vermeintliche Erfolgsformeln wie gerufen. Und diese Formeln haben einen | |
weiter reichenderen Einfluss, als man denken könnte. | |
Die Generation der Verunsicherten hat sich unter dem Einfluss beständiger | |
Ratgeberlektüre auf ein gemeinsames Ziel verständigt: die optimale | |
Förderung ihrer Kinder. Laut dem aktuellen Kinder- und Jugendbericht der | |
Bundesregierung besuchen bereits 40 Prozent aller unter Dreijährigen privat | |
organisierte Kurse. | |
Auch hier vertrauen Eltern offenbar nicht mehr auf die eigene Kompetenz, | |
sondern verlassen sich auf Profis. Krabbelgruppe oder Babyschwimmen werden | |
jetzt als Investition betrachtet – mit entsprechendem Erfolgsdruck. Laut | |
Kinder- und Jugendbericht ist die Zeit von 95 Prozent der Sechs- bis | |
Zehnjährigen aus Besserverdienendenhaushalten nach der Schule für Gruppen | |
und Vereine verplant. | |
Was hilft gegen den Förderwahn? Locker bleiben. Das heißt auch: weniger | |
Ratgeber lesen. Und in Momenten der pädagogischen Verzweiflung lieber mal | |
ein Buch mit Sponti-Sprüchen aus der eigenen Kindheit zur Hand nehmen: | |
„Wissen ist Macht – aber nichts wissen macht auch nichts.“ | |
Mehr Texte aus der Reihe „Familienangelegenheiten“ unter | |
[1][taz.de/Familie] | |
11 Dec 2016 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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