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# taz.de -- Debatte Sexismus: Den Schweinehund niederringen
> Skandal, Debatte, nächster Skandal. Und jetzt? Gleichberechtigung gibt es
> erst, wenn alle täglich daran mitarbeiten – auch die Männer.
Bild: Irgendwann wird ein Mann im Anzug „die Sexismusdebatte“ für beendet …
Wiedereinmal aus allen Wolken gefallen: Mehr als drei Jahre nach dem
[1][#aufschrei] gegen Alltagssexismus [2][macht eine junge Politikerin auf
die Übergriffigkeiten aufmerksam, denen sie in der Berliner CDU ausgesetzt
gewesen ist], und es werden wieder die alten Fragen gestellt: Sind wir
wirklich eine sexistische Gesellschaft? Gibt es keine wichtigeren Themen,
mit denen wir uns beschäftigen sollten? Benutzen Frauen solche Vorwürfe
nicht viel zu oft, um sich einen Vorteil zu verschaffen?
Selbst außerhalb der überschaubaren feministischen Filterblase hätte die
deutsche Mehrheitsgesellschaft längst schlüssige Antworten darauf finden
können, nein: finden müssen. Stattdessen bleibt Aktivist*innen nur erneut
festzustellen, dass Teilerfolge wie die Verschärfung des Sexualstrafrechts
nicht das große Ganze erzwingen. Daran ist offenkundig nur wenigen gelegen,
ebenso wie an der Aufarbeitung von systemimmanentem Sexismus.
Der zelebrierte Gestus ungläubiger Überraschung ist dabei keine
Randerscheinung. Er ist Teil des Problems. Unsere Gesellschaft ist nicht
nur deshalb zutiefst sexistisch, weil sie Menschen aufgrund ihres
Geschlechts diskriminiert, sondern weil sie sich beharrlich weigert, dies
anzuerkennen und dazuzulernen. Weite Teile der Presse schreiben immer noch
von „Sex-Attacke“, wenn sie über sexualisierte Gewalt berichten. Mögliche
Opfer von Sexualverbrechen werden ausgiebig auf Schlampenhaftigkeit hin
überprüft, so, als bestünde überhaupt die Möglichkeit, dass sie ihr Recht
auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung verwirken
könnten. Jeden Sommer wird mit unschöner Regelmäßigkeit [3][über ein
Hotpantsverbot für Schülerinnen] diskutiert. Und Frauen haben die
Fußball-EM der Männer zu dekorieren und nicht etwa im Fernsehen zu
kommentieren.
Die eingangs gestellten Fragen sind längst beantwortet. Sie immer noch in
einer Art repetitiver Selbstversicherung zu wiederholen ist an
Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Frauen werden weiterhin mehrheitlich
für Care-Tätigkeiten zuständig gemacht, dafür schlecht bezahlt und kaum
wertgeschätzt. Aber sind wir eine sexistische Gesellschaft? Noch vor der
Pubertät werden Mädchen aggressiv mit Körpernormierungen und
Verhaltensansprüchen konfrontiert, die sie von den Sportplätzen und aus den
Mathe-Leistungskursen vertreiben. Die ihr Selbstbewusstsein brechen, ihren
Blick verengen und ihre Freiheiten beschneiden. Aber ist das wichtig?
Eine alleinerziehende Mutter, die sich politisch engagiert, erhebt ihre
Stimme und benennt Sexismus. Als Folge davon wird sie angefeindet und
ausgegrenzt. Ihr Sexualleben wird unter die Lupe genommen, ihre Motive
werden in Zweifel gezogen. Ihrer Partei gilt sie als Nestbeschmutzerin. Der
Vorfall wird für sehr lange Zeit wie ein Makel an ihr haften, und zwar
unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Aber tat sie es nicht, weil
sie sich Aufmerksamkeit und Vergünstigungen erhofft hat?
## Doppelte Zumutung
Sexismus funktioniert in diesem Zusammenhang als doppelte Zumutung. Zum
einen als Diskriminierungspraxis, die Menschen auf ihr Geschlecht reduziert
und entlang spezifischen Zuschreibungen an Männer und Frauen ein
Machtungleichgewicht installiert. Zum anderen als reflexartige
Rechtfertigungsstrategie: Das stimmt ja alles gar nicht. Und falls es im
Einzelfall doch einmal stimmen sollte, ist es nie so schlimm wie behauptet.
Als feministische Aktivistin werden Sie nicht nur für Ihre Meinung, Ihr
Aussehen, ihr Geschlecht und schlussendlich für Ihre schiere Existenz
angegangen – Sie müssen sich zudem auch noch fragen lassen, warum Sie dabei
so rumbrüllen.
Am Ende wird diese Gesellschaft so weit kommen, dass sie Frauen mit allen
Mitteln den Mund verbietet und ihnen dabei vorhält, nichts gegen die
Verhältnisse zu sagen, die doch angeblich so ungerecht sind. Sie wird dabei
zusehen, wie Frauen sich aus sozialen Netzwerken zurückziehen, weil man
ihnen mit Vergewaltigung droht, und sie für ihren Kampf gegen sexistische
Windmühlen als „Aufmerksamkeitshuren“ bezeichnen. Sie wird so tun, als
seien juristische Falschbeschuldigungen ein spezifisches Problem des
Sexualstrafrechts und kein generelles Phänomen, mit dem Rechtsprechung
fertig zu werden hat. Sie wird von einer politischen Schwalbe wie Angela
Merkel behaupten, dass sie einen gleichberechtigten Sommer macht. Weil mit
Barack Obama bekanntermaßen die Polizeigewalt gegen Schwarze umgehend
aufhörte und der unsägliche Rassismus für immer besiegt war.
## Keine Altherrenwitze bitte
Um ernsthaften Forderungen zuvorzukommen oder sie zu übertönen, wird jemand
einwerfen, dass man doch bitte die Altherrenwitze unterlassen möge. Ein
Mann in Anzug wird „die Sexismusdebatte“ für beendet erklären. Er wird
dabei ein bisschen so klingen, als hätte niemand die Absicht, eine Mauer zu
errichten. Und am Horizont wird schon der nächste Skandal aufblitzen, mit
dem überhaupt nicht zu rechnen war. Bei dem man wieder aus allen Wolken
fällt, um eine neue Runde schon beantworteter Fragen einzuläuten.
Dieses Ende ist längst erreicht. Wir waren nie über Geschlechterklischees
und die Lust an Diskriminierung erhaben. Sexismus ist kein Mantel, den wir
bloß in einer großen, emanzipatorischen Geste ablegen müssen. Es ist auch
keine Aufgabe, die Männer dankend ablehnen können, weil sie sie nicht
betrifft. Der Unwille, Differenzierungsarbeit vorzunehmen und auf eigene
Privilegien zu verzichten, betrifft ja gerade sie. Genau wie die
Selbstgefälligkeit, sich einzureden, Mann habe alles Erreichte allein
geschafft.
Sexismus ist unsere Sicht auf Menschen, Beziehungen und Macht. Er ist der
innere Schweinehund, der einen stets begleitet und den man in zähen,
ermüdenden Kämpfen aufs Neue niederringen muss. Zugegeben: Aus allen Wolken
fallen ist zweifellos der dramatischere Auftritt. Aber das Bemühen darum,
dem anderen jeden Tag auf Augenhöhe zu begegnen, entfaltet mehr Wucht.
So viel mehr, dass der Teufel Sexismus seinen alten „Es gibt mich gar
nicht!“-Trick hoffentlich irgendwann nicht länger spielen können wird.
16 Oct 2016
## LINKS
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[2] /!5342841/
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## AUTOREN
Nils Pickert
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