| # taz.de -- Urlaub auf Staatskosten: Willkommen im Nörgelland | |
| > Dürfen Eltern während der Elternzeit gemeinsam mit ihrem Baby verreisen? | |
| > Klar! Wer das unmoralisch findet, ist kleingeistig und verkennt die | |
| > Realität. | |
| Bild: Für die Gehirnentwicklung von Babys ist Reisen positiv | |
| Deutschland hat eine neue Neiddebatte. Vor zehn Jahren wurde von der | |
| Bundesregierung das [1][Elterngeld] eingeführt. Eine staatliche Leistung, | |
| die Eltern vor allem im ersten Jahr nach der Geburt eines Kindes, | |
| finanziell unterstützen soll. Und ja, es gibt berechtigte Kritik daran – | |
| aber dazu später. Wichtig ist erst mal: In einem Land, in dem zu wenig | |
| Kinder geboren werden, ist das eine gute Sache. Aber wir leben eben in | |
| einem Nörgelland. | |
| Viele junge Familien nutzten das Geld, um wochenlang gemeinsam zu reisen, | |
| schreibt etwa [2][Kerstin Lottritz auf sueddeutsche.de], und das sei | |
| verwerflich. Die Argumentation geht in etwa so: Die meisten Väter nehmen | |
| nur zwei Monate Elternzeit, die Mindestbezugsdauer, um Anspruch auf | |
| vierzehn bezahlte Elternmonate zu haben. Die Erziehungsarbeit bleibt also | |
| trotz Elterngelds hauptsächlich bei der Frau. So weit, so nachvollziehbar. | |
| Nun aber die Nörgelei: „Statt in ihrer kurzen Elternzeit zu Hause zu | |
| bleiben und ihre Partnerin beim Wiedereinstieg ins Berufsleben zu | |
| unterstützen, verbringen viele Väter die „Papa-Monate“ lieber gleichzeitig | |
| mit der Mutter – um die gemeinsame Elternzeit für eine ausgedehnte Reise zu | |
| nutzen“, schreibt Lottritz. | |
| Urlaub auf Staatskosten. Wie unverschämt! Denn wer das mache, nutzte das | |
| Sozialsystem aus und kommt der Verantwortung nicht nach, das Geld seinem | |
| Zweck entsprechend einzusetzen. Auf [3][welt.de schreiben Katrin Spoerr und | |
| Sabine Menkens] ein Pro und Contra zur Frage: Dürfen Eltern Urlaub auf | |
| Staatskosten machen? Diese Frage allein. Diese Moral dahinter. Schlimm. | |
| Man kommt nicht umhin, sich Menschen mit erhobenen Zeigefinger und | |
| heruntergezogenen Mundwinkeln vorzustellen, die vor sich hin nörgeln: Also | |
| wer sich schon für Kinder entscheidet und dafür Elterngeld kassiert, der | |
| soll im Gegenzug zumindest auch zu Hause leiden, allein! Ein gemeinsamer | |
| Urlaub, in dem Eltern sich auch um ihre Partnerschaft kümmern? Skandal! | |
| Diese Neiddebatte ist so schräg, wo soll man bloß anfangen? | |
| Beginnen wir mit der Relevanz: Zahlen darüber, wie viele Paare tatsächlich | |
| in der Elternzeit gemeinsam verreisen, gibt es nicht. Fest steht: Etwa | |
| jeder dritte Vater bezieht Elterngeld, was bedeutet, dass nur etwas mehr | |
| als ein Drittel der Elterngeldbezieher das überhaupt hätten machen können. | |
| Wie kommt die SZ-Autorin dazu, zu schreiben, „viele“ Eltern verreisen | |
| gemeinsam in der Elternzeit. | |
| Denn „viel“ ist so ein wunderbar vages Wort, mit dem man im Journalismus | |
| jede Nichtigkeit zum Gesellschaftsthema erheben kann. Zudem beträgt das | |
| Elterngeld mindestens 300 Euro und höchstens 1.800 Euro monatlich. Die | |
| Vorstellung vom Strandurlaub an der Côte d’Azur, von Eltern-Kind-Yoga auf | |
| Bali oder Wandern in Nepal ist damit wohl für die wenigsten finanzierbar. | |
| ## Privatsache, Punkt | |
| Wer „Urlaub auf Staatskosten“ mit aufgeblasener Brust als „Das gehört si… | |
| aber nicht“ abstempelt, entspringt der gleichen Kleingeistigkeit wie all | |
| jene, die fordern, Flüchtlinge sollten nur Gutscheine erhalten, um sich | |
| etwas zu essen kaufen zu können. Oder jene, die diskutieren, ob sich | |
| Hartz-IV-Empfänger vom staatlichen Geld Zigaretten und Prosecco leisten | |
| dürfen. Denn was heißt das im Umkehrschluss? Ein Urlaubsverbot in der | |
| Elternzeit? | |
| Dieser Wunsch nach staatlicher Autorität hat in einer freien Gesellschaft | |
| nichts zu suchen. Genauso wenig, wie der Staat es kontrollieren kann, ob | |
| das monatliche Kindergeld nun in neue Kindersöckchen investiert wird (die | |
| verliert man doch ständig!), kann er darüber entscheiden, was mit dem | |
| Elterngeld passiert. Das ist Privatsache. Punkt. | |
| Aber nun zum Reisen an sich. | |
| Man könnte Forschungen zitieren, die belegen, dass gemeinsames Reisen sich | |
| positiv auf die Gehirnentwicklung von Kindern auswirkt. Aber es reicht auch | |
| der gesunde Menschenverstand. Beim Reisen lässt sich zudem der Härtefall | |
| proben: Wer ohne Schnuller und ohne die Möglichkeit, Dinge ständig zu | |
| desinfizieren, mit einem Kind durch Indien reist, lernt zu improvisieren, | |
| und kehrt relaxt zurück. Das kann dem Kind nur zu Gute kommen. Keine | |
| Wickelkommode? Egal, Boden und Handtücher funktionieren auch. Kein | |
| Babybett? Egal, ist nämlich sehr kuschelig mit Baby im Bett. Babys brauchen | |
| im ersten Jahr gar nicht viel, das kann man beim Reisen wunderbar lernen. | |
| Man kann Fernreisen aus anderen Gründen doof finden, wegen der Umwelt etwa. | |
| Und Reisen ist natürlich ein Privileg, Elternzeit hin oder her. Nur die | |
| wenigsten Menschen auf dieser Welt können es sich überhaupt leisten, andere | |
| Teile der Erde zu erkunden. Aber: Es soll ja Menschen in Deutschland geben, | |
| deren Eltern nicht hier geboren sind. Und die haben auch häufig Familie in | |
| anderen Teilen der Welt. | |
| ## Bautzen oder Mumbai? | |
| In einer Einwanderungsgesellschaft kann gemeinsames Reisen in der | |
| Elternzeit deshalb auch schlicht bedeuten, das neugeborene Kind erstmals | |
| seinen Großeltern, Cousins, Cousinen, Onkeln und Tanten vorzustellen. Ist | |
| es nun okay, mit dem Elterngeld zu den Großeltern nach Bautzen zu fahren, | |
| aber nicht nach Lagos, Istanbul oder Mumbai? Reisen ist Ausdruck einer | |
| globalisierten Welt. | |
| Nun, um endlich mal auf die anfangs erwähnte berechtigte Kritik | |
| zurückzukommen. Man kann sich durchaus aufregen über das Elterngeld: Am | |
| meisten profitieren davon wohlhabende Familien. Wenig profitieren dagegen | |
| Selbstständige und Menschen, die Schichtarbeit leisten, Arbeitslose und | |
| Geringverdiener. | |
| Und natürlich spiegelt sich beim Elterngeld die Ungleichheit der | |
| Geschlechter wieder. Deshalb, liebes Netz, diskutiert besser, wie man das | |
| Elterngeld gerechter gestalten kann. Mit Nörgelei hat das nämlich nichts zu | |
| tun. Sondern mit Politik. Wenn man schon mit Moral kommt, dann sollte man | |
| es für alle besser und gerechter, aber nicht für alle schlechter machen. | |
| 24 Mar 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/familienleistungen/elterngeld/e… | |
| [2] http://www.sueddeutsche.de/leben/kindererziehung-elterngeld-ist-kein-staatl… | |
| [3] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article162921626/Duerfen-Eltern-Urla… | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
| ## TAGS | |
| Neid | |
| Familie | |
| Urlaub | |
| Erziehung | |
| Elterngeld | |
| Nach Geburt | |
| Eltern | |
| Familie | |
| Frauen in Führungspositionen | |
| Vater-Sohn-Beziehung | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Regretting Motherhood | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Nach Geburt: Wenn Mann zuviel verdient | |
| Nun ist eine noch bessere Erklärung dafür aufgetaucht, warum Väter seltener | |
| Elterngeld und Elternzeit in Anspruch nehmen. | |
| Kolumne „Heult doch!“: Spießig sind die anderen | |
| Als der große Sohn unserer Autorin schulpflichtig wurde, ist sie umgezogen, | |
| vom Wedding nach Pankow – mitten rein in den Polyesterpullover-Sperrbezirk. | |
| Väterbeteiligung beim Elterngeld: Komm zu Papa | |
| Immer mehr Väter gehen inzwischen in Elternzeit. Die Unterschiede zwischen | |
| den Bundesländern sind allerdings groß – mit einem überraschenden | |
| Spitzenreiter. | |
| Debatte Zehn Jahre Elterngeld: Gerecht wird's erst mit Männern | |
| Wickelvolontariat wurde es anfangs geschimpft. Dabei ist das Elterngeld | |
| gut, obwohl es Frauen benachteiligt. Ja, es hilft sogar gegen Populisten. | |
| Rollenverteilung in der Elternzeit: Jenas besondere Väter | |
| Was ist los in der zweitgrößten Stadt Thüringens? Sind die Männer in Jena | |
| besonders fair, familienorientiert, flexibel? Und wenn ja: warum? | |
| Debatte Frauen und Karriere: Ausgeknockt vom Schuldgefühl | |
| Mutter, Journalistin, Führungskraft: Berufliche und familiäre Verantwortung | |
| auszubalancieren ist nach wie vor kompliziert. | |
| Soziologin über Regretting Motherhood: „Es geht immer nur um die Kinder“ | |
| Die Soziologin Orna Donath forscht zu Frauen, die es bereuen, Mutter | |
| geworden zu sein. Ein Gespräch über gesellschaftliche Ächtung und Rebellion | |
| gegen Tabus. |