# taz.de -- Pop und Transzendentalismus: Musik aus dem Unterholz | |
> Deradoorian, White Poppy und DJ Richard: drei neue Popalben von jungen | |
> nordamerikanischen Künstlern und ihre Hinwendung zur Natur. | |
Bild: Kontemplativ: DJ Richard an der Küste von Rhode Island | |
Was für ein Schauspiel, wenn die glutrote Sonne vor der Küste von Rhode | |
Island am Horizont wie ein Mühlstein in die Fluten des Atlantiks sinkt. | |
„Grind“ nennt der von der US-Ostküste stammende und in Berlin ansässige | |
Produzent DJ Richard diesen für ihn prägenden Vorgang und hat sein | |
Debütalbum danach benannt. | |
„Grind“ ist Untergang und Aufbruch zugleich, düster, aber auch strahlend | |
wirkt DJ Richards Musik. In den neun Tracks ertönen wuchtige Keyboardriffs. | |
Diese langsam anschwellenden Hooklines sind mit metallisch anmutenden | |
Hallfahnen überzogen, aber der Groove als dominierende Soundsignatur | |
taumelt selbstversunken vor sich hin, so, als würde er sich ins Molekulare | |
auflösen. Eine Frischzellenkur für die erschöpfenden Parameter von | |
elektronischer Tanzmusik. | |
„Stoner House“ hat jemand den in sich gekehrten Sound von „Grind“ genan… | |
Richard teilt mit, er habe beim Komponieren an den Ozean gedacht, an das | |
Salz des Meerwassers, das auch die Luft erfüllt, für Reizklima sorgt, an | |
Ambivalenzen, die sich in „wildromantischer“ Natur und relativer | |
Abgeschiedenheit ergeben. „I-MIR“ heißt der spektakulärste Track, nach der | |
Grünfärbung des Lichts, Sekunden, bevor die Sonne untergeht. | |
Auf dem Cover von „Grind“ ist das Foto einer Ziehbrücke abgebildet, sie | |
verbindet eine Insel mit dem Festland von Rhode Island. Einst führte auf | |
ihr ein Weg zu einer Waffenfabrik, jetzt ist die Gegend ein Vogelreservat, | |
ein Freiraum der Natur. DJ Richards Musik hat sich für sein | |
Naturfreunde-House im Unterholz eingerichtet. Jedenfalls für den Moment. | |
## Aus der Vogelperspektive | |
Es ist die kreishafte Beziehung zwischen den Elementen der Natur und dem | |
Streben von Menschen, sich diese untertan zu machen, das Wechselspiel aus | |
einer mächtigen Naturerfahrung und der rücksichtslosen Besiedelung, was | |
auch die Musik auf „The Expanding Flower Planet“, dem neuen, zwischen | |
affirmativen Popsongs und mantraartigen Folkelementen, kühlen Hooklines und | |
spirituellen Botschaften changierenden Werk von Angel Deradoorian, | |
strukturiert. „Die landschaftliche Schönheit Kaliforniens ist | |
überwältigend, aber mit der Lebensart habe ich mich nicht arrangiert“, sagt | |
die aus New York stammende Popkünstlerin zum Spannungsfeld ihrer Existenz. | |
Anders als DJ Richard bezieht sich die 29-Jährige auf ihrem großartigen | |
Soloalbum nicht auf die Mikroebene der Natur, sondern beobachtet die sie | |
umgebende Welt aus der Vogelperspektive. So entstehen Klanglandschaften mit | |
räumlicher Ausdehnung, Musik, wie sie in dieser Saison noch niemand mit | |
solchem Willen zum Experiment kreiert hat. „Mein Album entspricht | |
eigentlich einem einzigen Song, einem kosmischen Weltbild und seiner | |
Ausdehnung in die Psyche.“ | |
Die Songs auf „The Expanding Flower Planet“ werden von Deradoorians ruhiger | |
Croon-Stimme gelenkt. Mit ihrer Gefasstheit scheint sie über den Dingen zu | |
stehen: Den ausufernden Songarrangements, wie man sie von ihrer früheren | |
Band Dirty Projectors kennt, und Texten, die mehr einer Fantasywelt | |
entsprungen sind als der Gegenwart. Deradoorians Paralleluniversum aus | |
Klang steht auf dem Kopf, und aus dieser ungewöhnlichen Perspektive bezieht | |
sie ihre Schaffenskraft. | |
## Wander-Shoegazing | |
Wenn die Klimaanlage flattert und der Kühlschrank brummt, sagt Crystal | |
Dorval, dann weiß sie, dass sie nicht allein auf der Welt lebt. Die in | |
Vancouver aufgewachsene junge Frau bewohnt als Einsiedlerin eine Farm auf | |
einer Halbinsel vor der Pazifikküste im Nordwesten Kanadas und züchtet | |
Bienen. Dies helfe ihr als Künstlerin. Die Erlebnisse am Rande der | |
Zivilisation sind titelgebend für ihr neues Album „Natural Phenomena“. | |
Unter dem Namen White Poppy komponiert Dorval wundervollen Dreampop, ein | |
Wander-Shoegazing mit euphorischem Sound, der jede Form von irdischem Dreck | |
in luftige Loops und Sphärenklänge auflöst. Das geht ans Herz. Für den | |
Videoclip von „Confusion“, dem Auftaktsong, posiert Crystal Dorval allein | |
mit ihrer Flying-V-Gitarre, umgeben von Nadelbäumen und Bergketten. Die | |
Klangschichten von White Poppy führen die Ernsthaftigkeit von Krautrock ad | |
absurdum. Naturwüchsig klingt an White Poppy nichts, doch ist alles weit | |
draußen. | |
Dass sich gleich drei der musikalisch aufregendsten Popalben dieser Saison | |
aus Nordamerika mit Landschaften, Einsiedlertum und den Ressourcen der | |
Natur befassen, kann kein Zufall sein. Obwohl fast drei viertel der | |
Bevölkerungen von USA und Kanada in städtischen Ballungsräumen leben –, | |
wirken auf dem ganzen Kontinent starke gesellschaftliche | |
Bewusstseinselemente, die an ländliche Traditionen und Utopien anknüpfen. | |
Je weiter entfremdet der Natur, desto stärker fasziniert sie. | |
Durchdekliniert haben das nicht erst die Hippies. Going Native war ein | |
Gründungsmoment in der Kolonisierung Nordamerikas. | |
## Von der Last der Welt befreien | |
Es war der US-Sozialkritiker Henry David Thoreau (1817–1862), der in einem | |
innigen Verhältnis zur Natur dem Banalen des Alltagslebens entkommen | |
wollte. In der Abgeschiedenheit, dachte Thoreau, könne er sich besser von | |
Ego und Last der Welt befreien. Sein Radikal-Individualismus wurde durch | |
die Vormacht der Städte befeuert, deren Einfluss ihm wie ein Korsett | |
vorkam, von dem er sich autonom machen wollte. | |
Es war Thoreaus engster Freund, der Philosoph Ralph Waldo Emerson | |
(1803–1882), der mit dem von Kant abgeleiteten Transzendentalismus die | |
Intuition seiner Mitmenschen im Umgang mit der Natur bestärken wollte. Da | |
Mensch, Moral und Natur nach Ansicht von Emerson im Banne der sogenannten | |
„Oversoul“ stünden, einer Art universellem Geist, könne man durch | |
metaphysische Erfahrungen mit der Natur sich leichter selbst verwirklichen. | |
Dieser den Naturgewalten abgetrotzte Optimismus trägt politische und | |
soziale Züge insofern, als Menschen, gestärkt von der Oversoul, Religion, | |
autoritäre Gesellschaftseinflüsse und übermächtige staatliche Institutionen | |
in Frage stellen. | |
Aber was geschieht mit dieser radikal-individualistischen künstlerischen | |
Hinwendung zur Natur eigentlich im Zeitalter ihrer technischen | |
Reproduzierbarkeit? Was passiert mit Thoreaus Autonomiebestrebungen in | |
Zeiten der totalen Transparenz, die auch die Unterschiede zwischen Stadt | |
und Land verwischt? Zurück zur Natur kann keine befriedigende Antwort sein, | |
aber die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit oder die Projektion von Natur und | |
Distanz, und sei es durch je unterschiedliche famose klangliche | |
Ausgestaltungen bei DJ Richard, Angel Deradoorian und White Poppy, | |
erschaffen wenigstens temporäre autonome Zonen. | |
15 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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