| # taz.de -- Lehren aus der Coronapandemie: Wissenschaft wird durchgewirbelt | |
| > Die Pandemie deckt Fehlentwicklungen und Lücken in Forschung und | |
| > Wissenschaft auf. Der Wissenschaftsrat sieht dringenden Handlungsbedarf. | |
| Bild: Der Wissenschaftsbetrieb war auf solch eine Pandemie überhaupt nicht vor… | |
| Berlin taz | Das Coronavirus hat auch die Wissenschaft mächtig | |
| durcheinandergewirbelt. Das Hochschulsystem und viele | |
| Forschungseinrichtungen sind auf reinen Digitalbetrieb umgestellt. Was | |
| dieser Zustand für die langfristige Entwicklung des akademischen Sektors | |
| bedeutet, darüber hat sich der [1][Wissenschaftsrat] Gedanken gemacht und | |
| seine Ergebnisse in dieser Woche in einem Positionspapier vorgestellt. Vor | |
| allem in der Gesundheitsforschung – mit den neuen Impfstoffen derzeit die | |
| schärfste Waffe gegen das Virus – sieht das ranghöchste Beratungsgremium | |
| der deutschen Wissenschaftspolitik dringenden Handlungsbedarf. | |
| Die Covid-19-Krise markiere „eine historische Zäsur, deren Tiefe sich | |
| derzeit noch nicht abschätzen lässt“, sagte die Vorsitzende des | |
| Wissenschaftsrates, die Karlsruher Informatikerin Dorothea Wagner, bei der | |
| Präsentation der 70-seitigen Studie mit dem Titel [2][„Impulse aus der | |
| Covid-19-Krise für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in | |
| Deutschland“ (pdf-Datei).] Statt wie sonst in einer Pressekonferenz am | |
| Berliner Gendarmenmarkt wurden die Ergebnisse infektionsfrei in einer | |
| Videokonferenz vorgestellt – zugleich auch die neue Welt der | |
| Wissenschaftskommunikation, die in dem Papier ebenfalls behandelt wird, als | |
| eine von zehn zentralen Herausforderungen. | |
| Das brennendste Aufgabenfeld stellt sich im Bereich der | |
| Gesundheitsforschung. Der große Erfolg in der Impfstoffentwicklung dürfe | |
| nicht über „deutliche Schwächen im deutschen Wissenschaftssystem | |
| hinwegtäuschen“, mahnte Wagner. Deutschland habe beispielsweise einen | |
| „großen Nachholbedarf bei der Vernetzung und dem Management von Daten“. | |
| Dies betreffe vor allem die Forschung zum vakzinen Schutz vor Krankheiten | |
| und zu ihrer Heilung, aber nicht nur diese Bereiche. Viele dieser | |
| Herausforderungen hätten zudem eine internationale Dimension: „Mobilität, | |
| Kooperation und Datenaustausch über Grenzen hinweg sind in der Krise einem | |
| Belastungstest ausgesetzt“, heißt es in dem Papier. Die positiven und | |
| negativen Erfahrungen müssten „ausgewertet und darauf aufbauend neue | |
| strategische Prioritäten entwickelt werden“. | |
| ## Zu wenige öffentlich finanzierte Studien | |
| Konkret bemängelt der Wissenschaftsrat, dass bei klinischen Studien – wie | |
| aktuell zur Untersuchung der Wirksamkeit neuer Pharmaka – das „Potenzial | |
| für die Verbesserung der Versorgung hierzulande nicht ausgeschöpft wird“. | |
| Deutschland betreibe einerseits zu wenige klinische Studien, deren | |
| Fragestellung aus der Wissenschaft heraus formuliert würde. Andererseits | |
| würden die Möglichkeiten dieser Studien nicht ausreichend genutzt, „da | |
| diese sich vielfach auf zu kleine Kohorten beziehen und die notwendigen | |
| Strukturen für eine übergeordnete Koordination – zum Beispiel in Form von | |
| ausreichend finanzierten klinischen Studienzentren – fehlen“, moniert das | |
| Papier. | |
| Das sei auch jetzt in der Pandemie sichtbar geworden. „Insbesondere bei | |
| interventionellen Studien zu Wirkstoffen und Therapieverfahren für Covid-19 | |
| spielte die universitäre und außeruniversitäre Gesundheitsforschung in | |
| Deutschland jedenfalls zu Beginn der Pandemie keine führende Rolle“, stellt | |
| der Wissenschaftsrat fest. In anderen europäischen Staaten wie den | |
| Niederlanden oder Großbritannien liege die Anzahl öffentlich finanzierter | |
| Studien zu Covid-19 deutlich höher. Zwar gebe es inzwischen unter dem Dach | |
| des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) neue Ansätze, dennoch | |
| gelte es, „die Strukturen und Fördermöglichkeiten für | |
| wissenschaftsgetriebene klinische Studien in Deutschland weiter auszubauen, | |
| um Anzahl und Qualität der Studien deutlich zu heben“, lautet eine | |
| Forderung. | |
| Defizitär sei auch das Thema Gründungen aus der Wissenschaft, etwa von | |
| Biotechnologie-Unternehmen, wie [3][Biontech] und [4][Curevac], den | |
| Innovations-Heroen der Stunde. Dies könne aber „nicht darüber | |
| hinwegtäuschen, dass die Anzahl erfolgreicher Unternehmensgründungen aus | |
| Hochschulen im Vergleich zu Israel, den USA und Großbritannien immer noch | |
| unbefriedigend ist und es weiterer Anstrengungen bedarf“, heißt es in dem | |
| Papier. Dazu gehöre, sowohl die Bereitschaft zu Ausgründungen aus dem | |
| Wissenschaftssystem zu fördern, als auch den Zugang zu Wagniskapital, | |
| insbesondere für die Wachstumsphasen, zu verbessern. | |
| Als weitere Schwachstelle wird die Datenvernetzung und das Datenmanagement | |
| im Gesundheitsbereich angeschnitten, wo es „zahlreiche Mängel“ gebe. „So | |
| fehlt ein standortübergreifender Zugang zu standardisierten Daten aus | |
| medizinischer Forschung und Versorgung, der auch die Effizienz von | |
| Translationsprozessen grundsätzlich verbessern würde“, wird konkret | |
| angeführt. Oder die Daten aus der „forschungskompatiblen elektronischen | |
| Patientenakte“, deren Nutzung jetzt datenschutzrechtlich gesichert sei. | |
| „Nun kommt es darauf an, dies auch umzusetzen und die Möglichkeiten rasch | |
| zu nutzen“, fordert der Wissenschaftsrat. Derzeit ist das erst ab 2023 | |
| möglich. | |
| Insgesamt bedürfe es in der Gesundheitsforschung „dringend einer | |
| informationstechnischen Vernetzung an der Schnittstelle von Wissenschafts- | |
| und Gesundheitssystem“. Dies betreffe auch die „Entwicklung von Standards | |
| und Regeln für Austausch und Nutzung von Daten aus Forschung und | |
| Versorgung“. | |
| Darüber hinaus seien Anstrengungen erforderlich, um die „Vernetzung in der | |
| Gesundheitsforschung selbst sowie über fachliche und institutionelle | |
| Grenzen hinweg zu intensivieren“. Nicht zuletzt müsse die Zusammenarbeit | |
| mit Partnern aus der Versorgung und der Industrie gestärkt werden. Um | |
| „Vernetzung und Translation effektiv voranzutreiben“, bedürfe es | |
| „veränderter Förderformate“ – ein Fingerzeig in Richtung Forschungspoli… | |
| Die weiteren Vorschläge des Positionspapers behandeln die Themenbereiche | |
| Politikberatung, Wissenschaftskommunikation, Prozesse der | |
| Qualitätssicherung und des Wissenschaftsmanagements, die „neue Balance von | |
| physischer und virtueller Interaktion“, IT-Sicherheit sowie die Vernetzung | |
| im Europäischen Wissenschaftsraum. Sie sind allerdings wesentlich | |
| unkonkreter als die Einlassungen zur Gesundheitsforschung. | |
| ## Ein „Brandbrief“ | |
| Die Reaktionen auf die Vorstellungen und Empfehlungen des | |
| Wissenschaftsrates sind in dieser Woche bisher gering. Die erste und | |
| zugleich emphatischste Äußerung wurde aus den Reihen der | |
| Bundestagsopposition laut. „Es ist ein echter Brandbrief, den der | |
| Wissenschaftsrat heute an [5][Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU)] | |
| geschickt hat: im Ton gewohnt diplomatisch, bei der Benennung der Defizite | |
| aber unmissverständlich deutlich“, kommentierte der forschungspolitische | |
| Sprecher der Grünen, Kai Gehring. | |
| Die Konsequenz für Bundesforschungsministerin Anja Karliczek müsse sein, | |
| „nicht länger Forschungslücken zu verwalten, sondern die | |
| Forschungsförderung gegen Corona systematisch und weitsichtig zu | |
| gestalten“. Gehring weiter: „Ganz besonders hapert es beim Transfer von | |
| Forschungsergebnissen in die Praxis, was akut die Medikamentenforschung | |
| zeigt, die wir seit Monaten anmahnen“. Erst vor wenigen Tagen habe das | |
| Bundesforschungsministerium ein eigenständiges Programm zur Entwicklung | |
| lebenswichtiger Covid-19-Medikamente aufgelegt – ein Jahr nach Beginn der | |
| Pandemie. | |
| Gleichzeitig klagten immer mehr Forscherinnen und Forscher, dass ihnen die | |
| nötigen Mittel für Medikamentenstudien fehlen. „Auch der eilige Einkauf von | |
| Antikörper-Medikamenten kann diesen Fehler in der | |
| Pandemiebekämpfungspolitik nicht wettmachen“, kritisiert der | |
| Grünen-Politiker. Sein Zuruf ans BMBF: „Wissenschaftspolitischer Weitblick | |
| und beherzte Vorsorge gehen anders, Frau Karliczek.“ | |
| In der wissenschaftlichen Politikberatung sieht sich Gehring durch den | |
| Wissenschaftsrat bei der Grünen-Forderung nach einem „Pandemierat“ | |
| unterstützt. „Es ist überfällig, die fatalen Forschungslücken – unter | |
| anderem zu Übertragungswegen im ÖPNV, Mutationen oder Langzeitfolgen von | |
| Erkrankungen – zu schließen“, verlangt Gehring. Die Eindämmungsmaßnahmen | |
| gegen das Virus benötigten ein „kontinuierliches Monitoring“ und müssten | |
| wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Schon jetzt sei klar, dass | |
| das gerade erst zwei Jahre alte Rahmenprogramm Gesundheitsforschung des | |
| Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), so Gehring, „dringend | |
| überarbeitet werden“ müsse. | |
| 31 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gesellschaftliche-Verantwortung/!5663657 | |
| [2] https://www.wissenschaftsrat.de/download/2021/8834-21.pdf?__blob=publicatio… | |
| [3] /Portraet-ueber-die-Biontech-Chefs/!5723970 | |
| [4] /Neue-deutsch-deutsche-Impfallianz/!5738349 | |
| [5] /Kampf-gegen-das-Coronavirus/!5709777 | |
| ## AUTOREN | |
| Manfred Ronzheimer | |
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