Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Koalition in der Krise: Welche Signale sendet die Ampel?
> Der Streit um die Atomkraft hat die Regierung in ihre erste große Krise
> gestürzt. Wie geht es weiter? Sieben Thesen zum Zustand der Koalition.
Bild: Ohne Richtlinienkompetenz ging es nicht: Olaf Scholz mit Robert Habeck un…
Olaf Scholz hat in dieser Woche ein [1][Machtwort gesprochen]. In dem
wochenlangen Hickhack zwischen Grünen und FDP, ob die drei noch laufenden
Atomkraftwerke in Deutschland bis zum Frühjahr weiter Strom liefern dürfen,
hat er entschieden: Ja – aber nur bis Mitte April. Und seine
Minister:innen in einem knappen 18-Zeiler angewiesen, das bitte so
umzusetzen, mit Verweis auf seine Richtlinienkompetenz.
Das ist eine Trumpfkarte, die dem Bundeskanzler vor allem dann Macht
verleiht, wenn er sie nicht zückt. Angela Merkel hat in 16 Jahren
Kanzlerinnenschaft nur ein Mal damit gedroht, sie aber nie ausgespielt.
Scholz hat nach nicht einmal einem Jahr und in einer ziemlich banalen
Nebensache dazu gegriffen. Denn ob die Menschen im Winter nicht frieren
müssen, ihre Arbeitsplätze behalten und der Industriestandort Deutschland
eine Zukunft hat, das hängt nicht von drei deutschen AKWs ab, deren
Brennstäbe fast verbraucht sind. Sondern davon, ob trotz des Krieges in der
Ukraine der Anstieg der Strom- und Gaspreise gebremst werden kann. Welche
Hilfen Unternehmen und Verbraucher:innen erhalten. Ob wir uns aus der
Abhängigkeit dreckiger Energien, geliefert von autoritären Staaten befreien
können. Und ob das alles in Solidarität mit den Partnerländern gelingt.
Große Aufgaben – packt die Ampel, sie zu bewältigen? Oder packt sie ein?
## 1. Der Atomstreit ist nicht vorbei
Teile der FDP wollen beim Streit um die Laufzeitverlängerung keineswegs
beidrehen. „Ich bin sicher, wir werden im Frühjahr nächsten Jahres neu
diskutieren“, sagte etwa Parteivize Wolfgang Kubicki umgehend nach dem
Machtwort des Kanzlers. „Wenn sich herausstellen sollte, dass wir die
Kernkraftwerke weiterhin brauchen, dann wird der 15. April 2023 nicht das
Enddatum der Kernkraft in Deutschland sein.“ Eine Neuauflage des Dramas
droht also, zumal die Union versuchen wird, die FDP vor sich herzutreiben.
Dagegen, dass es tatsächlich zu einer Laufzeitverlängerung kommen wird,
sprechen aber zwei Dinge. Scholz selbst hat sich nun sowohl auf das
Ausstiegsdatum festgelegt als auch darauf, dass es keine neuen Brennstäbe
geben wird. Er müsste also seine mit Richtlinienkompetenz durchgesetzte
Entscheidung zurückholen. Und: Das Datum wird im Gesetz stehen, der
Bundestag müsste dies ändern. Dass die [2][Grünen dem zustimmen], ist kaum
vorstellbar. Sie machen viel mit, aber der Kauf neuer Brennstäbe dürfte die
Grenze sein. Daran könnte die Ampel tatsächlich scheitern.
## 2. Die FDP siegt sich zu Tode
Vier Landtagswahlen, vier Niederlagen: Keiner der drei Ampelpartner sinkt
in der Wählergunst so wie die FDP. Sie ist angetreten mit dem Anspruch, das
Schlimmste von Rot-Grün zu verhindern. Dabei hat sie einiges erreicht. Die
FDP hat durchgesetzt, dass in der größten Energiekrise Deutschlands eine
einfache Maßnahme wie ein Tempolimit ausgeschlossen wird. Stattdessen hat
sie sich stark gemacht für einen Tankrabatt, der in Teilen
Mineralölkonzernen zugutekam. In der globalen Corona-Gesundheitskrise hat
sie gegen eine Maskenpflicht gewettert, als hinge die Freiheit des Planeten
davon ab. Ein bundesweites Kündigungsmoratorium in der Krise? Erfolgreich
blockiert. Nur: Kaum jemand dankt es der FDP.
## 3. Gelb-Grün sind ziemlich beste Feinde
Es fing vielversprechend mit einem Selfie an. Grüne und FDP verbünden sich
gegen die große SPD, so die Idee. Davon scheint einige Krisen später wenig
übrig geblieben. Aber so verkracht wie teils behauptet sind die beiden
Parteien nicht. Es gibt immer wieder Gemeinsamkeiten: FDP und Grüne
attackieren beide den Kanzler wegen des geplanten Einstiegs des
chinesischen Staatskonzerns [3][Cosco im Hamburger Hafen]. Mehr Härte
gegenüber China und Russland, diese Linie teilen sie. Auch in puncto
Vorratsdatenspeicherung machen sie gemeinsame Sache. Und wenn der nächste
Atomstreit droht, dann hilft bestimmt, zusammen mal eine Tüte zu rauchen.
## 4. Die Grünen müssen härter werden
Die Grünen sind in der Koalition zu nett, sie streiten zu wenig für ihre
Sache. Die FDP will mit dem Kopf durch die Wand und immer weiter – und die
Grünen lassen sie machen, auch wenn es um ihre Kernthemen geht. Ob E-Fuels,
AKW-Streckbetrieb oder Totalblockade beim Tempolimit, auch wenn die Grünen
die besseren Argumente und die Bürger:innen hinter sich haben, geben sie
nach. Sie sind auf Kooperation und nicht auf Konfrontation eingestellt. Das
ist durchaus sympathisch, aber in der jetzigen Lage nicht die richtige
Aufstellung.
Ein weiteres Problem: Die Grünen haben sich akribisch auf ihre
Regierungsbeteiligung vorbereitet. Wäre Robert Habeck mit seinem jetzigen
Team 2017 ins Bundeswirtschaftsministerium eingezogen, hätte die
Energiekrise eine viel geringere Wucht, weil die Energiewende schon viel
weiter wäre. Doch jetzt müssen die Top-Expert:innen für die Energiewende
die Folgen der Energiekrise dämpfen – für sie ein unsicheres Terrain. Das
Fiasko um die Gasumlage hat gezeigt, wozu das führen kann. An dem
entsprechenden Gesetz haben die Energiekonzerne mitgeschrieben. Es
funktioniert nicht, sich die vermeintlich fehlende Expertise von außen zu
holen und jene die Regeln aufstellen zu lassen, die etwas ganz anderes
wollen.
## 5. Geld spielt keine Rolle
Deutschland ist ein reiches Land. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von fast
3,6 Billionen Euro im Jahr 2021 ist es die viertgrößte Volkswirtschaft der
Welt, die größte in der EU. Auch die staatliche Verschuldung hält sich in
Grenzen, beträgt im Verhältnis zum BIP 70 Prozent, das ist deutlich unter
dem EU-Durchschnitt. Geld ist also da, das weiß auch Christian Lindner.
Deshalb hält er zwar das Stoppschild der Schuldenbremse hoch, will also
kaum noch neue Schulden machen. Gleichzeitig genehmigt er reihenweise
Umwege, die eben doch Kredite ermöglichen: Hier 100 Milliarden zusätzlich
für die Bundeswehr, da 200 Milliarden, um die Gaspreise abzupuffern. Die
SPD wollte eine Diskussion, ob die Schuldenbremse im kommenden Jahr noch
mal außer Kraft gesetzt wird, eigentlich vermeiden. Der Gedanke: Soll der
Christian doch mit seinem Stoppschild wedeln, Hauptsache, er blockiert die
Umwege nicht. Olaf Scholz ist offenbar weniger ängstlich als seine Partei:
Er bringt nun doch eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse ins Spiel,
wie die Welt berichtet.
Eine andere Frage ist, ob es neben Schulden nicht auch darum gehen muss,
neue Einnahmequellen zu erschließen, etwa über eine Vermögensabgabe. SPD
und Grüne wollen sie, die FDP nicht. In der SPD-Linken will man die
Diskussion darüber weiter am Köcheln halten. Aber dass sie tatsächlich
Dampf machen, ist unwahrscheinlich.
## 6. Olaf Scholz ist ein Scheinriese
Scholz hat die Trumpfkarte „Richtlinienkompetenz“ einmal ausgespielt,
häufig kann er das nicht tun. Wer immer herumschreit, büßt schnell an
Autorität ein. In dem fragilen Dreierbündnis aus SPD, Grünen und FDP ist
Olaf Scholz weniger als Macher denn als Mediator gefragt. Er muss
politische Erfolge für die FDP mitdenken – Stichwort gönnen können – und
gleichzeitig die Grünen besänftigen, die finden, er gönne den Liberalen zu
viel.
Scholz hat vor einem Jahr zu Beginn der Koalitionsverhandlungen dem Spiegel
gesagt, man müsse als Koalition mit dem Anspruch antreten, bei den nächsten
Wahlen wiedergewählt zu werden. Am Ende kann die Ampel also nur als Team
gewinnen. Zudem muss Olaf Scholz die internationale Ebene immer im Blick
haben. Bestes Beispiel: Kaum hat er den 200-Milliarden-Doppelwumms
verkündet, beschweren sich die EU-Nachbarn, dass Deutschland sich Vorteile
erkaufe. Die müssen jetzt besänftigt werden. Innen- und Außenpolitik sind
eben miteinander verwoben, das hat der Überfall Russlands auf die Ukraine
schmerzhaft deutlich gemacht.
## 7. Die Ampel muss mehr liefern
Die Ampel hat in einer zentralen Frage monatelang versagt. Anstatt zügig
einen sozial zielgenauen Gaspreisdeckel zu installieren, hat das Trio
Habeck, Lindner und Scholz auf eine handwerklich unbrauchbare Gasumlage
gesetzt. In Krisen, für die es keine Blaupause gibt, passieren Fehler. Aber
so lange stur zu übersehen, dass es keine gute Idee ist, auf explodierende
Preise mit noch mehr Kosten für ohnehin Überforderte zu reagieren, war ein
erstaunliches Versagen.
Die Krisenbekämpfung der Ampel wirkt insgesamt kopflos. Die
Entlastungspakete bewegen faszinierend große Summen. Aber sie lösen nicht
ein, was die Ampel sich selbst auf die Fahnen geschrieben hat – sozialen
Ausgleich und Klimaschutz. „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen,
hat für uns oberste Priorität“, steht vollmundig in der Präambel des
Koalitionsvertrags. Aber wo ist die Beschleunigung bei den Erneuerbaren? Im
ersten Halbjahr 2022 wurden in Deutschland 311 neue Windkraftanlagen
genehmigt. 2015 waren es drei Mal so viele. Dafür lässt die Ampel in
Höchstgeschwindigkeit LNG-Terminals bauen. Das ist nötig – aber zu wenig.
Die Ampel setzt rund 360 Milliarden Euro zur Krisendämpfung ein – aber die
ökologische Steuerungswirkung ist null. Sogar Kleinigkeiten wie reduzierte
Mehrwertsteuer auf pflanzliche Lebensmittel fehlen. Diese Krisenpolitik
folgt nur der Doktrin des Machbaren. Anstatt gezielt Ärmere und kleine
Unternehmen in Existenznot zu entlasten und effektiven Klimaschutz
voranzutreiben, wird mit der Gießkanne gearbeitet. Gutes Regieren setzt
Pragmatismus voraus. Aber Pragmatismus reicht nicht für gutes Regieren.
22 Oct 2022
## LINKS
[1] /Nach-Streit-um-AKW-Laufzeitverlaengerung/!5889493
[2] /Parteitag-der-Gruenen/!5888259
[3] /Umstrittene-Planung-fuer-Hamburger-Hafen/!5886028
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
Sabine am Orde
Anna Lehmann
Stefan Reinecke
Anja Krüger
## TAGS
Ampel-Koalition
Olaf Scholz
Bundesregierung
Energiekrise
AKWs
Emsland
GNS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Klimawandel
Infrastruktur
Vermögenssteuer
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
China
Schwerpunkt Atomkraft
Ampel-Koalition
FDP
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ein Jahr Ampelregierung: Wirklich mehr Fortschritt wagen
Der Koalitionsvertrag der Ampel ist ein Jahr alt, doch die Welt hat sich
verändert. Die Parlamentsredaktion schlägt ein paar Updates vor.
Nicht genügend CO2-Minderung bis 2030: Regierung lässt Verkehr-Klimalücke
Eckpunkte für ein Klima-Sofortprogramm der Bundesregierung zeigen: Bei der
Mobilität reichen die Pläne der Ampel-Koalition nicht annähernd.
Coscos Anteile am Duisburger Hafen: Chinas leiser Abschied aus dem Pott
Seit Juni investiert der chinesische Staatskonzern Cosco, der sich gerade
in Hamburg beteiligt, nicht mehr in Europas größten Binnenhafen. Warum?
Vorstoß zu Vermögenssteuer: Esken macht Scholz Stress
Die SPD-Linke trommelt für eine Vermögensabgabe, die auch den Wiederaufbau
der Ukraine finanzieren soll. Der Kanzler dürfte wenig begeistert sein.
Reservisten der Bundeswehr: Mehr Kriegsdienstverweigerer
Fast 200 Reservisten haben dieses Jahr Antrag auf Kriegsdienstverweigerung
gestellt, 2021 waren es nur zehn. Hintergrund ist wohl der Krieg in der
Ukraine.
Einstieg von China beim Hamburger Hafen: Kompromiss in Sicht
Der chinesische Staatskonzern Cosco soll beim Hamburger Hafenterminal
einsteigen dürfen. Allerdings zu einem geringeren Anteil als bisher
geplant.
Ortsbesuch in der AKW-Stadt Lingen: Es ist schön hier
Der Betrieb des Atomkraftwerks Emsland in Lingen wird bis Mitte April 2023
verlängert. Wie kommt das vor Ort an? Ein Stimmungstest.
AKW-Entscheidung des Kanzlers: Kernspaltung der Ampel verhindert
Kanzler Scholz hat mit einem Machtwort den wochenlangen Streit in der
Koalition beendet. Doch die Atomdebatte könnte wieder losegehen.
Scholz' AKW-Entscheidung: Basta war gestern
Der Kompromiss im Streit zwischen Grünen und FDP über die drei AKWs war
nötig. Es ist kein Machtwort von Scholz, sondern eher ein Griff zur
Notbremse.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.