| # taz.de -- Parteitag der Grünen: Atomkraft und andere Zumutungen | |
| > Die Grünen stimmen den zwei AKWs im Süden als Einsatzreserve zu, lassen | |
| > ihrem Minister darüber hinaus aber kaum Spielraum. | |
| Bild: Im Zentrum der Atomdebatte: Wirtschaftsminister Robert Habeck am Freitag … | |
| Bonn/Berlin taz | Eigentlich hatten sich die Grünen auf eine Nachtschicht | |
| eingestellt. In ihrem Ablaufplan gingen die Verantwortlichen davon aus, am | |
| ersten Tag des Bundesparteitags bis mindestens um Mitternacht im Bonner | |
| Konferenzzentrum zu verbringen. Als die Beratungen am späten | |
| Freitagnachmittag beginnen, bittet das Tagungspräsidium noch mal explizit | |
| um die Einhaltung der Redezeitbegrenzung – „damit wir nicht bis 3 Uhr hier | |
| sitzen“. Am Ende wird es aber ganz anders kommen: Schon um 22:32 Uhr ist | |
| Schluss, die letzte Abstimmung des Tages absolviert. | |
| Wer hätte das gedacht. Debatten um unpopuläre Entscheidungen gab es in der | |
| Partei zuletzt ja wieder vermehrt. Ein Abnicker-Verein wollen die Grünen | |
| explizit weiterhin nicht sein. Kaum ein Redner, kaum eine Rednerin kommt in | |
| Bonn ohne die Beteuerung aus, wie ernsthaft man doch um die richtigen Wege | |
| in der Krise hadere, ringe, streite und diskutiere. | |
| Da ist einerseits was dran. Andererseits sind die Grünen im Jahr 2022 aber | |
| doch eine disziplinierte Partei: Bis kurz vor Beginn des Parteitags | |
| verhandelten Antragssteller*innen, Antragskommission und Bundesvorstand | |
| über Kompromisse, um offen ausgetragene Konflikte und Kampfabstimmungen zu | |
| vermeiden. In den meisten Fällen gelang das, so dass etliche Streitfragen | |
| auf der Parteitagsbühne gar nicht mehr verhandelt werden müssen. | |
| Möglich wurde das zum Teil durch Abschwächungen ursprünglicher Forderungen, | |
| zum Teil aber auch durch die Bereitschaft des Vorstands zu harten | |
| Formulierungen – nicht zuletzt bei dem Thema, dass derzeit für den | |
| [1][meisten Ärger mit dem Koalitionspartner FDP sorgt: der Atomkraft.] | |
| ## „Eine Zumutung“ | |
| Den Ton in dieser Debatte setzt Umweltministerin Steffi Lemke, die auch für | |
| nukleare Sicherheit zuständig ist. Die Vorlage des Bundesvorstands sei | |
| „eine Zumutung“, sagt sie – und dürfte damit vielen im Saal aus der Seele | |
| gesprochen haben. Lemke betont die Gefahren der Atomkraft, teilt gegen die | |
| Unionsspitze aus, die diese Gefahren verharmlose – und wirbt dann dafür, | |
| den Antrag des Bundesvorstands anzunehmen. | |
| „Jetzt stehe ich hier vor einem Grünen-Bundesparteitag und werbe um eure | |
| Zustimmung für diese Zumutung“, sagt sie. Angesichts einer möglichen Krise | |
| im Winter halte sie die Einsatzreserve aber für vertretbar. | |
| Diese „Zumutung“ hatte zuvor Parteichefin Ricarda Lang vorgestellt und | |
| dabei die Delegierten beschworen, nicht zu vergessen, warum die Grünen sich | |
| dieser Debatte nun stellen müssten. „Wir führen diese Diskussion, weil | |
| Wladimir Putin sich entscheiden hat, Energie als Waffe einzusetzen“, so | |
| Lang. In den Antrag des Bundesvorstands waren kurz vor Beginn des | |
| Parteitags noch zahlreiche Änderungen eingearbeitet worden, allein der | |
| ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin hatte acht Änderungseinträge | |
| gestellt – unter anderem für ein festes Enddatum eines möglichen | |
| Streckbetriebs. | |
| Jetzt sieht der Antrag vor, dass die beiden süddeutschen Atomkraftwerke | |
| Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April in einer Reserve gehalten und | |
| bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden. Das dritte noch | |
| verbleibende AKW Emsland soll zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet | |
| werden. Die Beschaffung neuer Brennstäbe, wie es FDP und Union fordern, | |
| schließt der Antrag aus. „Bündnis 90/Die Grünen werden im Bundestag keiner | |
| gesetzlichen Regelung zustimmen, mit der neue Brennelemente, noch dafür | |
| notwendiges neues angereichertes Uran beschafft werden sollen“, heißt es. | |
| ## Zähneknirschend zugestimmt | |
| Der Gegenentwurf, der später auch zur Abstimmung stehen wird, will am | |
| Atomausstieg zum Jahresende festhalten und spricht sich gegen Streckbetrieb | |
| und Laufzeitverlängerung aus. „Wer garantiert uns, dass wir den 15.4. nicht | |
| auch kippen?“, sagt einer der Unterstützer, der Delegierte Karl-Wilhelm | |
| Koch aus der Vulkaneifel. Es sei gefährlich, den mühsam ausgehandelten | |
| Ausstieg aus der Atomkraft aufzulösen. | |
| Doch schon während der Debatte wird klar, dass die meisten Delegierten sich | |
| – wenn auch zähneknirschend – hinter den Antrag des Bundesvorstands | |
| stellen. Was bleibt ihnen auch? Mit einer Ablehnung würden sie nicht nur | |
| ihre Bundesspitze, die gerade erst seit acht Monaten im Amt ist, massiv | |
| schwächen, sondern auch Robert Habeck, ihren wohl wichtigsten Minister, auf | |
| offener Bühne demontieren. Dieser hatte die AKW-Reserve vorgeschlagen und | |
| zuletzt deutlich gemacht, dass er davon ausgeht, dass ein Weiterbetrieb | |
| nötig werden wird. | |
| Habeck greift auch selbst in die Debatte ein. Die beiden Atomkraftwerke, | |
| sagt er, könnten im kommenden Winter einen sehr begrenzten Beitrag zur | |
| Sicherung der deutschen Stromversorgung leisten. Deshalb bitte er „als | |
| Minister, der am Ende für die Versorgungssicherheit zuständig ist“, um | |
| Zustimmung. | |
| Am Ende nehmen die Delegierten mit großer Mehrheit den Antrag des | |
| Bundesvorstands an. Damit stärken sie Habeck den Rücken, lassen ihm aber | |
| auch keinen Spielraum für weitere Zugeständnisse an die FDP. Die | |
| Parteispitze hatte kurz vor dem Beginn des Parteitages betont, dass die | |
| Entscheidungen für die anstehenden Gespräche mit SPD und FDP bindend seien. | |
| „Warum sollen wir sie sonst beschließen?“, sagte Parteichef Omid Nouripour. | |
| ## Solidarität und Wut | |
| Noch mehr zu tun als zum Tagesordnungspunkt Atomkraft hatte die | |
| Antragskommission vorab mit dem Leitantrag des Vorstands zu Inflation, | |
| Wirtschaftskrise und sozialem Ausgleich. Zu ersterem waren 22 | |
| Änderungsanträge eingegangen, zu letzterem ganze 75. Bis zum Beginn des | |
| Parteitags gelang es aber in allen Fällen, einen Kompromiss auszuhandeln. | |
| Mögliche Streitpunkte sind weitestgehend abgeräumt, als die Debatte am | |
| Freitag beginnt. | |
| „Machen wir aus dem Winter der Wut einen Winter der Solidarität“, fordert | |
| Co-Parteichefin Ricarda Lang in ihrer halbstündige Rede. Standing Ovations | |
| wird sie danach erhalten, ihr Beitrag kommt gut an in der Halle. | |
| In der Rede zählt sie auf, was die Ampel bisher an Entlastungsmaßnahmen auf | |
| den Weg gebracht hat. Sie betont, dass die Grünen vieles davon | |
| vorangetrieben hätten und nicht etwa die SPD. Sie bekennt, dass das bisher | |
| beschlossene trotzdem noch nicht reiche. Und sie versucht sich an einer | |
| Erzählung, in der Verteilungsfragen zentraler Teil grüner Politik sind: Im | |
| Kern gehe es Grünen um Gerechtigkeit, das gelte beim Geld genauso wie beim | |
| Klima oder im Feminismus. | |
| Lang, seit Jahresbeginn im Amt, setzt seit langem auf ein sozialpolitisches | |
| Profil. Sie entwickelt sich zum Gesicht der Partei in einem Bereich, indem | |
| den Grünen traditionell wenig Vertrauen entgegengebracht wird, was ihr | |
| wiederum gerade jetzt in der Krise Probleme bereiten kann. Ganz zutreffend | |
| ist das Image der Grünen als Partei für Wohlhabende zwar nicht mehr, das | |
| beweisen auch viele andere Beiträge in der Debatte auf dem Parteitag. | |
| ## Unterschiedliche Akzente | |
| Andererseits gibt es aber auch Spitzengrüne, die ihre Akzente ganz anders | |
| setzen als Lang. „Ricarda hat von der sozialen Not gesprochen und so ist | |
| es“, sagt zwar Robert Habeck in seiner Rede zum Inflations-Antrag. Viele | |
| Menschen wüssten nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Dann ist | |
| das Thema bei ihm aber auch schon erledigt und er, ganz | |
| Wirtschaftsminister, geht über zu den Problemen der Wirtschaft, Noch | |
| aufmerksamer als bei Habeck muss man bei einer Videobotschaft von | |
| Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zuhören, um | |
| zumindest einen Halbsatz zur Sozialpolitik zu erhaschen. | |
| Was aber beschließt der Parteitag am Ende? In den Leitantrag übernommen | |
| wird zum Beispiel die Forderung nach einem Mietmoratorium: In Städten mit | |
| angespanntem Wohnungsmarkt sollen Mieterhöhungen in der Krise für sechs | |
| Monate verboten werden. Die Grünen wollen auch höhere Regelsätze für das | |
| neue Bürgergeld. Eine konkrete Summe wird im letztlich beschlossenen Antrag | |
| zwar nicht genannt, dafür aber eine grundlegende Neuberechnung der Sätze. | |
| Und die Grünen fordern jetzt, dass in der Krise „auch Menschen mit sehr | |
| hohen Vermögen etwas abgeben“. Auf einen [2][Änderungsantrag von | |
| Bundestagsvizepräsidenten Katrin Göring-Eckardt] geht dieser Beschluss | |
| zurück. Wegverhandelt hat der Bundesvorstand allerdings die konkrete | |
| Benennung des Instruments, das sich die Ex-Fraktionschefin gewünscht hatte: | |
| eine Vermögensabgabe. | |
| Allein schon für den Antrag war die Bild-Zeitung die Grünen angegangen. Aus | |
| der FDP kamen Warnungen vor „Arbeitsplatzvernichtung“ und „Ideologie“. … | |
| hier noch einen harten Konflikt einzugehen: Das wagen die Grünen bei aller | |
| Liebe zur Gerechtigkeit offenbar nicht. | |
| 15 Oct 2022 | |
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| Sabine am Orde | |
| Tobias Schulze | |
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