# taz.de -- Grünen-Parteitag: Abgebaggerte Ideale | |
> Der Kohleabbau unter Lützerath wird heftiger debattiert als jedes andere | |
> Thema. Aktivistin Luisa Neubauer liest der Parteiführung die Leviten. | |
Bild: Obwohl Saudi-Arabien Krieg im Jemen führt, haben die Grünen in der Regi… | |
BONN/BERLIN taz | Auch am dritten Tag des grünen Parteitags wird vor dem | |
World Conference Center in Bonn demonstriert. | |
Fridays-for-Future-Aktivist*innen haben sich vor den Türen aufgebaut, | |
„[1][Lützi bleibt]“ und „Wo Grün draufsteht, sollte auch Grün drin sei… | |
steht auf ihren Plakaten. | |
„Du stimmst heute [2][für Lützerath], oder?“ Einer der Demonstranten | |
spricht die eintreffenden Delegierten direkt an. „Klar“, sagt die junge | |
Frau und lacht. Bleibt sie dabei, wird sie sich gegen den Vorschlag des | |
Bundesvorstands der Partei stellen – und die grünen | |
Wirtschaftsminister*innen im Bund und NRW, Robert Habeck und Mona | |
Neubaur, mindestens vor das Schienbein treten. | |
Letztere hatten mit dem Energiekonzern RWE vereinbart, den Kohleausstieg im | |
Rheinischen Revier um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen. Zugleich sollen | |
angesichts der aktuellen Energiekrise zwei Braunkohlekraftwerke länger als | |
geplant laufen. Die Siedlung Lützerath soll abgerissen werden, um Kohle zu | |
fördern. Ein Antrag der Grünen Jugend will das verhindern. Der | |
Grünen-Nachwuchs fordert ein Räumungsmoratorium für Lützerath und neue | |
Gespräche mit RWE. | |
Drinnen liest [3][Kimaaktivistin und Grünen-Mitglied Luisa Neubauer] den | |
Grünen die Leviten. „Ihr regiert unter den härtesten nur vorstellbaren | |
Bedingungen“, gestand sie zu, kritisierte dann aber einen „ökologischen | |
Hyperrealismus“. Da werde erklärt, „dass man sich nicht im Kleinen | |
verkämpfen soll, da sättigt man die Demokratie lieber noch mit einer Runde | |
Öl von Verbrechern, damit die Gesellschaft nicht die Laune verliert für den | |
Klimaschutz.“ | |
## Lützerath ist mehr als ein Symbol | |
Neubauer fährt fort: „Da werden klimafeindliche Entscheidungen so plausibel | |
verteidigt – wenn man still ist, hört man irgendwo ein Ökosystem weinen.“ | |
In Lützerath manifestiere sich das große Ganze. Das Dorf sitze auf | |
Millionen Tonnen CO2, es sei eine reale Festung für den Bruch mit dem | |
Pariser Abkommen. Die Delegierten klatschen begeistert. | |
Dann tritt Landwirtschaftsminster Cem Özdemir ans Mikrofon. Im Gegensatz zu | |
Neubauer lobt er den „Riesenerfolg“ in NRW. Der vorgezogene Kohleausstieg | |
bedeute auch, dass Bauern ertragreiche Flächen weiter bewirtschaften | |
können. Man habe nicht 50 Prozent, ruft Özdemir in den Saal, sondern sei in | |
der Minderheit. „Aber aus der Minderheit heraus verändern wir Dinge.“ Da | |
donnert der Applaus durch die Halle, noch lauter als bei Neubauer. Da zeigt | |
sich, wie hin- und hergerissen manche Delegierte sind. | |
Lützerath sei mehr als ein Symbol, sagt der Vorsitzende der Grünen Jugend, | |
Timon Dzienus, als er den Antrag konkret begründet. Er sorge sich, dass die | |
Grünen die Klimaziele aus den Augen verlieren und den Schulterschluss mit | |
der Klimabewegung. Die Gegenrede kommt von Oliver Krischer. „Wenn wir | |
Moratorium sagen, dann gibt es keinen Kohleausstieg 2030“, so der | |
NRW-Umweltminister. Die Debatte wogt hin und her, so engagiert wie an | |
keinem Programmpunkt zuvor an diesen drei Tagen, selbst bei der AKW-Debatte | |
am Freitagabend nicht. | |
Am Ende ist es knapp. So knapp, dass die Abstimmung schriftlich wiederholt | |
werden muss. Um 15.17 Uhr ist klar: Der Antrag der Grünen Jugend ist | |
abgelehnt: 294 zu 315 Stimmen. | |
## AKWs in Einsatzreserve: Eine „Zumutung“ | |
Mit breiter Zustimmung dagegen hatte der Parteitag am Freitagabend einen | |
Antrag des [4][Bundesvorstands zur AKW-Einsatzreserve] zugestimmt. So | |
sollen die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim II bis zum 15. April in | |
einer Reserve gehalten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt | |
werden. Das dritte verbleibende AKW Emsland soll zum 1. Januar 2023 | |
endgültig abgeschaltet werden. Klar sprachen sich Grünen gegen die | |
Beschaffung neuer Brennstäbe aus. | |
Von einer „Zumutung“ für die Grünen und sie persönlich hatte | |
Umweltministerin Steffi Lemke, die auch für nukleare Sicherheit zuständig | |
ist, während der Debatte gesprochen – und dann aus Verantwortung für | |
Zustimmung geworben. Habeck bat auch „als Minister, der am Ende für die | |
Versorgungssicherheit zuständig ist“, um Zustimmung. | |
Ohnehin war an diesem Wochenende bei den Grünen viel von Verantwortung die | |
Rede. „Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen | |
diese Demokratie“, hatte Parteichef Nouripour zu Beginn gerufen. Immer | |
wieder zelebrierten sich die Grünen geradezu als Regierungspartei. | |
„Wer garantiert uns, dass wir den 15. 4. nicht auch kippen?“, fragte | |
dagegen einer der Kritiker des AKW-Beschlusses, der Delegierte Karl-Wilhelm | |
Koch. Es sei gefährlich, den mühsam ausgehandelten Ausstieg aus der | |
Atomkraft aufzulösen. | |
## Waffenexporte nach Saudi-Arabien | |
Eine erste Bewährungsprobe musste der Beschluss noch vor Ende des | |
Parteitags bestehen. Am Sonntagmittag gab es im Kanzleramt in Berlin ein | |
Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), FDP-Chef Christian | |
Lindner und Habeck, um den [5][Streit um Atomkraft beizulegen]. Die FDP | |
fordert den Kauf neuer Brennstäbe. Ein Ergebnis gab es bis | |
Redaktionsschluss bei dem Krisentreffen im Kanzleramt nicht. | |
Auf dem Parteitag in Bonn war neben Kohle und Atom auch die Außenpolitik | |
Thema. Wenig Dissens gab es in Sachen Ukrainekrieg: Stimmen von der Basis, | |
die ein Ende der Waffenlieferungen oder Verhandlungen mit Russland | |
forderten, waren klar in der Minderheit. In einem Beschluss forderten die | |
Delegierten sogar, Waffenlieferungen auszuweiten. | |
Strittiger sind Waffenexporte an Saudi-Arabien. Kurz vor dem Parteitag | |
hatte die Bundesregierung kommerzielle Lieferungen von Kampfjet-Zubehör und | |
Munition genehmigt – trotz des von Saudi-Arabien geführten blutigen | |
Jemenkriegs. Außenministerin Annalena Baerbock erklärte die Entscheidung in | |
Bonn mit realpolitischen Zwängen. Eine Abstimmung zum Thema gab es nicht. | |
Kritische Anträge aus der Partei hatte der Vorstand in einem Kompromiss in | |
veränderter Formulierung übernommen. „Wir lehnen jegliche Rüstungsexporte | |
an Saudi-Arabien ab“, heißt es darin. | |
16 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Tobias Schulze | |
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