# taz.de -- Gesundheit von Frauen: „Die Brust ist extrem sexualisiert“ | |
> Frauen bekommen keinen Herzinfarkt? Von wegen! Die Expertin für | |
> Gendermedizin Gertraud Stadler erklärt, wie Patientenstereotype wirken. | |
Bild: Auch die Medizin ist nicht frei von Vorurteilen. Frauen wie Männer sind … | |
taz am wochenende: Frau Stadler, in der Medizin ist der Mann immer noch der | |
Maßstab. Warum brauchen wir eine geschlechtersensible Medizin? | |
Gertraud Stadler: Weil sich die Geschlechterunterschiede durch die gesamte | |
Medizin ziehen. Sie betreffen die Diagnose, die Behandlung, die Nachsorge | |
und natürlich auch die Prävention von Krankheiten. | |
Können Sie mir ein einfaches Beispiel nennen? | |
Der Herzinfarkt ist ein Klassiker. Hier ist das Patientenstereotyp der | |
ältere Mann. Frauen haben deshalb nicht das Bewusstsein, dass sie einen | |
Herzinfarkt haben könnten. Dabei hat es mit dem Geschlecht zu tun, wie | |
Symptome wahrgenommen werden. | |
Wie empfinden Frauen einen Herzinfarkt? | |
Frauen haben bei einem Herzinfarkt seltener als Männer den plötzlich | |
auftretenden starken Brustschmerz, der links ausstrahlt. Sie haben öfter | |
Symptome wie Atemnot, Herzrasen, Übelkeit, Bauchschmerzen oder | |
Abgeschlagenheit, die weniger klar einem Herzinfarkt zugeordnet werden. | |
Zusätzlich erleiden Frauen etwa fünf Jahre später als Männer einen | |
Herzinfarkt. Ältere Frauen sind oft alleinstehend und dadurch ein bisschen | |
unsichtbar. Ihr Tod gilt als weniger spektakulär, als wenn ein Mann | |
mittleren Alters aus dem Leben gerissen wird. Und zwar, weil die ältere | |
Frau als Patientenstereotyp nicht präsent ist. Bei den Behandelnden ändert | |
sich die Wahrnehmung aber gerade sehr stark. Wir sehen einfach, dass Männer | |
und Frauen gleichermaßen von Herzinfarkten betroffen sind. | |
Einige Wissenschaftler:innen in der Gendermedizin gehen davon aus, | |
dass neben Geschlechtsorganen auch andere Organe ein Geschlecht haben. | |
Das geht mir zu weit. Zellen haben aber auf jeden Fall ein Geschlecht. | |
Deswegen ist es in der Forschung enorm wichtig zu wissen, ob eine Zelle von | |
einer Frau oder einem Mann kommt – was oft noch nicht Standard ist. Was wir | |
außerdem haben, ist eine gegenderte Sichtweise auf Organe. Die weibliche | |
Brust zum Beispiel ist extrem sexualisiert. Bei Wiederbelebungen kann das | |
zum Problem werden. Es gibt große Hemmungen, bei einer Frau richtig | |
zuzudrücken, weil die Brüste im Weg sind. Die Wiederbelebung einer Frau | |
kann auch nicht richtig geübt werden, weil die Übungspuppen alle männlich | |
sind. | |
Erinnern Sie sich an einen Moment, in dem Sie selbst von dieser männlichen | |
Voreingenommenheit in der Medizin betroffen waren? | |
Ich bin gerade in der Perimenopause, der Übergangsphase zwischen | |
Menstruation [1][und Menopause]. Meine Frauenärztin hat mir das nicht | |
geglaubt. Ich musste mich dann selbst schlaumachen, was es mit meinen | |
Hitzewallungen auf sich hat. Es gibt kaum Forschung zur Perimenopause und | |
deshalb nicht das Wissen, welche Symptome normal sind – auch weil kaum | |
jemand darüber spricht. | |
Nicht alle Frauen haben wie Sie die Fähigkeit, sich so detailliert über | |
ihre Gesundheit zu informieren. Können diese Wissenslücken auch eine Gefahr | |
für die Gesundheit von Frauen darstellen? | |
Ja, zum Beispiel [2][bei der Aufmerksamkeitsstörung ADHS] sehe ich ein | |
echtes Problem. Frauen werden oft erst im jungen Erwachsenenalter mit ADHS | |
diagnostiziert. | |
Ich stelle mir bei ADHS auch eher einen kleinen hibbeligen Jungen vor, der | |
Ritalin verschrieben bekommt. | |
Das zeigt, wie wirkmächtig Patientenstereotype sind. Auch Eltern denken bei | |
Mädchen nicht an ADHS. Jungen werden eher diagnostiziert, weil sich ihre | |
Symptome nach außen richten. Durch die späte Diagnose gibt es bei Frauen | |
mit ADHS eine höhere Unfall- und Todesrate. | |
Was für Unfälle sind das? | |
Bei ADHS kann Autofahren langweilig werden und es ist schwierig, die | |
Konzentration aufrechtzuerhalten, dann passiert eher ein Unfall. Das ist | |
ein Erklärungsansatz für die erhöhten Unfallraten bei Frauen mit ADHS. | |
Während der Pandemie wurde der Unterschied zwischen Männern und Frauen | |
häufig thematisiert. Dass Männer durchschnittlich schwerere | |
Covid-19-Verläufe haben, ist bekannt. Wissen wir von diesem | |
Geschlechterunterschied, weil er Männer betrifft und damit das dominierende | |
Geschlecht, an dem sich auch die Medizin orientiert? | |
Ob das wirklich mit einem verankerten Sexismus zu tun hat, weiß ich nicht. | |
Für die Leute, die sich mit Frauengesundheit beschäftigen, waren die | |
Unterschiede nicht überraschend. Wir wissen schon seit Langem, dass Frauen | |
ein stärkeres Immunsystem haben. Insgesamt war es aber sehr hilfreich, dass | |
die Unterschiede zwischen Männern und Frauen so anschaulich waren. Die | |
Coronapandemie kann der Medizin enorme Impulse geben. Es muss Standard | |
werden, die Daten nach Geschlecht aufzusplitten. Das erfolgt in Deutschland | |
bislang nicht routinemäßig. | |
Können Sie aus den nach Geschlechtern getrennten Coronadaten noch mehr | |
ablesen? | |
Gerade zeichnet sich ab, dass Frauen [3][eher von Long Covid betroffen | |
sind] und die psychosozialen Folgen viel stärker abgefangen haben. Sie | |
mussten stärker im Job zurückstecken und haben [4][viel mehr Sorgearbeit | |
geleistet]. Die Sorgearbeit wird zwar als sinnstiftend empfunden, aber der | |
Tag hat nur 24 Stunden. Deshalb warne ich vor der Selbstverständlichkeit, | |
mit der Frauen Sorgearbeit annehmen und mit der sie ihnen zugewiesen wird. | |
Das stellt eine enorme Belastung dar. | |
Trotz dieser Doppelbelastung aus Lohn- und Sorgearbeit werden Frauen immer | |
noch häufig als das schwächere Geschlecht bezeichnet und nicht ernst | |
genommen. | |
Dazu fällt mir auch das Stereotyp der hysterischen Frau ein, mit dem wir in | |
der Medizin sehr zu kämpfen haben. Ein sehr unschönes Beispiel hierfür ist | |
der Umgang mit Frauen, die über Schmerzen berichten, nachdem ihnen Netze | |
gegen eine Gebärmutterabsenkung eingesetzt wurden. Sie wurden als | |
hysterische Frauen mit postmenopausalen Beschwerden abgetan. Eigentlich war | |
das Netz aber zerfasert und ist in das umliegende Gewebe eingewachsen. Ein | |
inoperabler Schaden, durch den viele Frauen mit lebenslangen Schmerzen zu | |
kämpfen haben. Und das nur, weil ihre Schmerzen nicht ernst genommen | |
wurden. So was darf uns nie wieder passieren. | |
Gibt es auch Bereiche, in denen Frauen gesundheitlich besser dastehen als | |
Männer? | |
Bei der Vorsorge haben Frauen die Nase vorn. Der Gang zur Gynäkologin ist | |
für uns Frauen selbstverständlich. Für Männer gibt es kein vergleichbares | |
Angebot. Früher gab es noch die Musterung bei der Bundeswehr, bei der Dinge | |
früh entdeckt werden konnten. | |
Also brauchen wir die Musterung zurück? | |
Ob das wirklich so ein Verlust ist, darüber lässt sich streiten. Aber die | |
fehlende Vorsorge wirkt sich oft auf Paare mit Kinderwunsch aus. Bei allem, | |
was sich um Schwangerschaft und Geburt dreht, liegt der Fokus so stark auf | |
der Frau, dass die Männer komplett außen vor gelassen werden und ein | |
Forschungsdefizit besteht. Es vergehen oft Jahre, bis Paare feststellen, | |
dass der Mann unfruchtbar ist und nicht die Frau. | |
Wir haben jetzt viel von Männern und Frauen gesprochen. Spielen non-binäre | |
Menschen in der gendersensiblen Medizin auch eine Rolle? | |
Bei trans und inter Personen haben wir das Problem einer geringen | |
Stichprobengröße. Wenn überhaupt, wird Geschlecht meistens binär erhoben. | |
Aber wir werben dafür, dass diese Daten auch routinemäßig in Studien | |
abgefragt werden, um die Datenlücke zu schließen. Wir stecken hier aber | |
noch in den Kinderschuhen. An der Berliner Charité haben wir jetzt eine | |
Beauftragte für geschlechtliche Vielfalt. | |
Wo sehen Sie noch Potenzial für eine gendersensiblere Medizin? | |
Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir noch eine ziemliche | |
Gender-Voreingenommenheit beim medizinischen Personal. Mittlerweile sind | |
zwar 64 Prozent der Medizin studierenden Frauen, aber bei den Habilitanden | |
sieht es schon ganz anders aus. Von den Professuren werden nur etwa 25 | |
Prozent von Frauen besetzt. Praktisch sind Frauen im Gesundheitssystem also | |
noch stark unterrepräsentiert, vor allem in den Entscheidungsrollen wie der | |
Klinik- oder Forschungsleitung. Dabei würde sich mehr Diversität in der | |
Medizin auf alle Geschlechter positiv auswirken. | |
2 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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