Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Elinor Cleghorn über Gendermedizin: „Der weibliche Körper als I…
> Die Autorin Elinor Cleghorn schreibt über die Geschichte der
> Gendermedizin. Sie zeigt, wie alte Stereotype noch heute zu Fehldiagnosen
> führen können.
Bild: „Hysterie“-Therapie für Frauen anno 1910: Samuel H. Monell's „hoch…
taz: Frau Elinor Cleghorn, Sie beginnen Ihr Buch mit einem Zitat: „Er
glaubt mir nicht, dass ich krank bin. Was soll ich tun?“ von Charlotte
Perkins Gilman. Wie würden Sie darauf reagieren?
Elinor Cleghorn: Das ist ein Zitat aus „Die gelbe Tapete“ von Gilman. Es
handelt von einer Frau, die an einer postnatalen Depression leidet. Ihr
Mann, ein Arzt, findet, dass sie nichts falsch macht, aber eine leichte
hysterische Neigung hat. Er verurteilt sie dazu, ohne Stift, Pinsel oder
Nadeln in ihrem Schlafzimmer eingesperrt zu sein, um sich auszuruhen.
Ihr Schmerz wurde heruntergespielt.
Die postnatale Depression wurde nicht als Krankheit anerkannt. Stattdessen
wurde sie als eine Art Hysterie infantilisiert. Diese Geschichte war teils
Horrorgeschichte, teils Satire auf die Medizin zur Zeit, in der es
hysterische Anschuldigungen gegen Frauen gab. Sie waren in Pflegeregimen
sehr verbreitet.
Das Erbe davon kennen wir bis heute: [1][Kranken Frauen] wird nicht
geglaubt. Was raten Sie diesen Frauen?
Was ich sagen würde: Sie sind die beste Erzählerin dessen, was passiert.
Auch wenn die Leute, die sich eigentlich um Sie kümmern sollen, [2][Ihnen
nicht glauben]. Es ist schwer, das zu verstehen. Wenn ich schon oft beim
Arzt war, weil ich chronische Schmerzen habe, und mir gesagt wurde: „Es ist
wirklich nichts falsch, Sie sind wahrscheinlich nur ängstlich.“ Doch es ist
dein Körper, dein Verstand. Nur du weißt, wie es sich wirklich anfühlt.
In Medien und Gesellschaft wird viel über Gendermedizin diskutiert – zum
Beispiel über [3][Endometriose]. Warum haben Sie sich entschieden, dieses
Buch zu schreiben, obwohl die Diskussionen schon da sind?
In der Medizin ist es oft die Einstellung gegenüber Menschen und die Art
und Weise, wie kranke Menschen gesehen werden. Ich wusste zuvor nicht, wie
viel Kontrolle die Medizin im Laufe der Geschichte über Menschen hatte.
Inwiefern?
Die Medizin betrachtete weibliche Körper nicht nur als menschliche Körper,
sondern auch als eine Art soziales Instrument.
Sie beschreiben, dass ein großer Aspekt dieser Instrumentalisierung darin
besteht, dass Frauen zu jedem Zeitpunkt der Geschichte oft geraten wird,
schwanger zu werden – unabhängig davon, welche Krankheit sie haben.
Zu Ihrem Beispiel Endometriose: Als diese Krankheit ab den späten 1920er
Jahren richtig untersucht und benannt wurde, riet man den Frauen, schwanger
zu werden. Mediziner:innen sagen oft so was wie: „Wir sind uns nicht
ganz sicher. Es muss daran liegen, dass Frauen Karrieren wählen. Es muss
daran liegen, dass Frauen in dem Moment, in dem sie 18 werden, keine Babys
bekommen. Es muss daran liegen, dass Mädchen der Mittelschicht jetzt aufs
College gehen können.“
In Ihrem Buch sagen Sie, dass trans-, inter- und nichtbinäre Menschen auch
in der patriarchalen Medizin unterdrückt werden, aber Sie konzentrieren
sich auf Frauen. Warum haben Sie sich dazu entschieden?
Die Medizin war schon immer eines der Machtsysteme, das auf der Binarität
von sex und gender bestand. Und die Vorstellungen der Medizin über die
Gesundheit und den Körper von Frauen sind heute untrennbar mit diesen sehr
geschlechtsspezifischen Varianten verbunden.
Glauben Sie, dass Messungen wie der Gender Health Gap helfen können, um auf
das Problem aufmerksam zu machen?
Wenn es nur diesen Unterschied der Geschlechterbinarität verstärkt, dann
ist es nicht unbedingt nützlich.
Ein Beispiel, das Sie auch in Ihrem Buch ansprechen, ist die Diskussion um
die Menstruationsblutung von Frauen nach der Covid-19-Impfung.
Frauen berichteten von Menstruationsstörungen nach der Impfung. Es gab eine
Zurückhaltung, das anzuerkennen, weil angenommen wurde, dass Frauen sich
nicht impfen lassen würden. Wir sehen immer wieder, dass Frauen
Informationen über ihren Körper verweigert werden. Als seien sie nicht in
der Lage, diese Informationen zu haben und für sich selbst gute
Entscheidungen zu treffen. Das ist im Laufe der Geschichte immer wieder
passiert. Niemand sollte nichts über seinen Körper wissen. Die Mehrheit der
Frauen hätten diese Impfprobleme auch mit dem Wissen um die
Menstruationsstörungen gehabt, aber es wäre gut gewesen, wenn es anerkannt
worden wäre.
Ein anderes Beispiel aus Ihrem Buch: Der Arzt Jordan beschloss im 17.
Jahrhundert, eine Frau namens Gloves nicht zur Hexe zu erklären, weil er
glaubte, sie leide an …
… erstickender Gebärmutter.
Das ist so erstaunlich, weil es ein Irrglaube ist, der den anderen ersetzt.
Ja. (lacht)
Glauben Sie, man kann dieses Ersetzen von Fehlinformation bis heute
zurückverfolgen?
Neues Faktenwissen basiert oft auf altem Wissen. Aber es ersetzt es nicht
unbedingt. Hysterie entpuppte sich als eine Art plausible Erklärung für
irgendeine Form von Hexerei, die auf so vielen Ebenen merkwürdig und auch
ziemlich lustig ist. Weil wir wissen, dass es so etwas wie einen Kult nicht
gibt. Diese Frauen haben keine Affären mit dem Teufel. Sie haben keinen Sex
mit dem Teufel. Das kann nicht möglich sein. Aber offensichtlich passiert
etwas mit ihnen.
Also gibt es heute nichts Vergleichbares mehr?
Es werden immer noch oft Fehlinformationen ersetzt. Ich denke, das wird so
lange passieren, bis wir geschlechtsspezifische Vorurteile und stereotype
Vorstellungen über den Körper von Frauen aus dem Verständnis von
Krankheiten und Leiden herauslösen.
Haben Sie Ideen, was helfen könnte?
Letztes Jahr, als das Buch herauskam, war ein Arzt bei einem Plenum, er
hatte diese brillante und radikale Idee, dass der Lehrplan unter Mitwirkung
aller, die von der Medizin am meisten vernachlässigt wurden, neu
geschrieben werden sollte. Sie schreiben ihn also mit Frauen, mit trans und
nichtbinären Menschen, mit Menschen, die von der Medizin rassifiziert
wurden. Sie bauen eine Medizin auf, die von den Menschen ausgeht. Eine
Medizin, die sich zuerst um die Menschen selbst kümmert.
Sie sagen, es ist radikal – sollte es nicht grundlegend sein, sich auf die
Menschen zu konzentrieren, auf die man sich nicht konzentriert hat?
Ja, es sollte nicht radikal sein, aber in Bezug zur bisherigen Norm ist es
radikal. Kürzlich wurde bekannt, dass es in Großbritannien für
Medizinstudenten obligatorisch wird, ein Modul zur Gesundheit von Frauen zu
belegen. Wir alle haben gesagt: Was, es war vorher nicht obligatorisch? Das
war optional?
Sie fordern eine antirassistische Medizin – schreiben davon, dass Schwarzen
Frauen nochmal weniger geglaubt wird als weißen Frauen. Trotzdem widmen Sie
ein ganzes Kapitel den Suffragetten, die sehr rassistisch waren. Wie passt
das zusammen?
Weil wir sehen, wie die Medizin in das Leben der Frauen eindringt, den
Fortschritt der Frauen. Ich sah mir Zeitungen an und die Wörter
„Suffragetten“ und „Hysterie“ wurden oft zusammengefügt. Es war mir wi…
zu zeigen, dass wir uns den Fortschritt und die Debatten der Suffragetten
ansehen können. Gleichzeitig können wir sie kritisieren.
Inwiefern?
Diese Arbeit wurde buchstäblich zum Wohle weißer Frauen geleistet. Das ist
ähnlich wie bei der „Birth Control Bewegung“. Einige Akteurinnen, Marie
Stopes in Großbritannien und Margaret Sanger in den USA, sind ähnlich
problematisch, wenn es um Überzeugungen und Theorien zu race geht. Das
bedeutet nicht, dass wir keine Verhütungsmittel verwenden sollten, aber es
bedeutet, dass wir uns diese Geschichte ansehen müssen.
Gendermedizin kann ein deprimierendes Thema sein. Gibt es etwas, das Ihnen
Hoffnung in Ihrer Forschung gibt?
Die Medizin als eine Wissenschaft, die sich vorwärts bewegt, versäumt es
oft, ihre Geschichte als Teil ihrer Gegenwart zu betrachten. Alles, was
ich tun wollte, war zu zeigen, dass wir uns jetzt mit diesem Erbe
auseinandersetzen. Dass wir als Menschen versuchen, unsere gesundheitlichen
Bedürfnisse für die Behandlung angemessen zu berücksichtigen. Wir können
langfristig denken, weil wir die Ressourcen haben. Unsere Geschichte ist
uns nicht fremd.
26 Oct 2022
## LINKS
[1] /Gesundheit-von-Frauen/!5844362
[2] /Frauen-und-Krankheiten/!5844464
[3] /Unterleibskrankheit-bei-Frauen/!5833768
## AUTOREN
Nicole Opitz
## TAGS
Frauenkörper
Diagnose
IG
Feminismus
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
GNS
Medizin
Das Leben einer Frau
Weiblichkeit
wochentaz
Gesundheitspolitik
Geschlechter
Selbstbestimmung
IG
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch „Unser Körper, unser Leben“: Die Lücke im Regal
Die Schönheit der Klitoris, Zigaretten als Waffe und
Menstruationsschwämmchen: Das feministische Handbuch „Unser Körper, unser
Leben“ ist das Beste.
Weiblicher Schmerz, männliche Medizin: Aufstand der Patientinnen
Eine Reihe von Büchern thematisiert Sexismus in der Medizin. Frauen
verschwinden hinter der männlichen Norm, ihrem Schmerz wird selten
geglaubt.
Studie zu Fröschen: Selbstbestimmter Sex im See
Menschliche Genderklischees reichen bis ins Tierreich. Zwei Biolog*innen
räumen nun beim Grasfroschweibchen damit auf.
Gender-Bias beim Arzt: Eine einfache Methode für 800 Euro
Was hat die Unterleibs-Erkrankung Endometriose mit Antifeminismus zu tun?
Leider immer noch eine ganze Menge.
Gesundheit von Frauen: „Die Brust ist extrem sexualisiert“
Frauen bekommen keinen Herzinfarkt? Von wegen! Die Expertin für
Gendermedizin Gertraud Stadler erklärt, wie Patientenstereotype wirken.
Soziologin über Transgender: „Geschlecht ist vieldimensional“
Über Transgeschlechtlichkeit wird stark gestritten. Das hat auch mit einem
Unbehagen über die Moderne zu tun, sagt die Soziologin Paula-Irene Villa
Braslavsky.
Unterleibskrankheit bei Frauen: Endlich Endometriose ernst nehmen
Die Ampel will zwar Gendermedizin stärken, gegen eine der häufigsten
Frauenkrankheiten tat sich bisher jedoch nichts. Eine Petition macht nun
Druck.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.