| # taz.de -- Soziologin über Transgender: „Geschlecht ist vieldimensional“ | |
| > Über Transgeschlechtlichkeit wird stark gestritten. Das hat auch mit | |
| > einem Unbehagen über die Moderne zu tun, sagt die Soziologin Paula-Irene | |
| > Villa Braslavsky. | |
| Bild: Am 19. Juni vor dem Reichstagsgebäude in Berlin: Demonstration für das … | |
| taz: Ob der kurzzeitig abgesagte Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht über | |
| Zweigeschlechtlichkeit an der Humboldt-Universität Berlin oder die | |
| [1][Ankündigung zum neuen Selbstbestimmungsgesetz]: Ständig gibt es einen | |
| neuen Anstoß für die sogenannte Transdebatte, die in Deutschland seit | |
| Monaten vehement geführt wird. Aber worüber wird hier eigentlich | |
| debattiert, Frau Villa Braslavsky? | |
| Paula-Irene Villa Braslavsky: So eindeutig kann ich das nicht sagen, denn | |
| wie immer bei gesellschaftlichen Debatten verhandeln wir viel mehr als nur | |
| ein eingegrenztes Sachthema. Doch beim Thema Transgender scheint die | |
| Aufregung auch deswegen so bizarr, weil es eigentlich nur einige Menschen | |
| unmittelbar betrifft. Man könnte also fragen: Warum seid ihr hier emotional | |
| so krass unterwegs, wenn es euch doch gar nicht wirklich betrifft? Aber: | |
| Offenbar fühlen sich sehr viele Menschen hier betroffen. | |
| Woher kommt das Betroffenheitsgefühl? | |
| In modernen Gesellschaften gibt es das Versprechen auf Individualisierung, | |
| dass wir uns also frei und mündig selbst gestalten können. Die soziale | |
| Position und die eigene Existenz resultieren nicht aus dem Beruf oder Stand | |
| des Vaters, sondern aus dem Schulzeugnis, dem Talent oder der | |
| Lebenserfahrung. Dieses Versprechen der Moderne ist zugleich auch Zumutung. | |
| Denn es führt dazu, dass wir uns ständig neu erfinden und optimieren | |
| müssen. Und nun gibt es diesen Optimierungsdruck auch noch beim Thema | |
| Geschlecht. | |
| Die Menschen sind also von der Vorstellung, dass Geschlecht nichts | |
| Konstantes ist, überfordert? | |
| Nein, aber ich habe doch den Eindruck, dass die Selbstgestaltung des auch | |
| körperlichen Geschlechts vielen Menschen Unbehagen bereitet. Das lässt sich | |
| populistisch nutzen, als Ressentiment nämlich gegenüber dem, was als | |
| elitär, abgehoben, akademisch, also künstlich und „degeneriert“ | |
| wahrgenommen wird. Nach dem Motto: Menschen können nicht nur viele Sprachen | |
| sprechen, weit verreisen und haben gute Karrieren, nun sind sie auch noch | |
| spielerisch beim Thema Geschlecht. Dass sich cis-geschlechtliche Personen | |
| so vehement gegen Transrechte wehren müssen, verweist vielleicht doch | |
| darauf, dass ein Unbehagen der eigenen Geschlechtlichkeit gegenüber | |
| besteht. Das Infragestellen einer unverfügbaren Eigentlichkeit von | |
| Geschlecht wird offenbar von einigen als Bedrohung erlebt. | |
| Ist das alles? | |
| Der wesentlichere Teil ist, dass moderne Gesellschaften mit dem Versprechen | |
| auf Individualisierung immer ein paar Dinge ausgenommen haben. Alle sollen | |
| frei, autonom und mündig sein – außer, sie sind von Natur aus anders. Und | |
| „von Natur aus anders“ sind alle außer der hetero cis-geschlechtliche, | |
| weiße, „gesunde“, bürgerliche, europäische Mann. Alle anderen gelten | |
| historisch betrachtet als unter anderem wild, pervers, behindert, weiblich, | |
| unterentwickelt, „rassisch“ – also dubios, nicht ganz zivilisiert. Weite | |
| Teile der Menschheit sind historisch also vom Versprechen auf Gleichheit | |
| ausgeschlossen. Ungleichheit entlang von Rassenideologien, Sexismus, | |
| Heteronormativität oder Behindertenfeindlichkeit beruhen auf diesen | |
| Annahmen, sie sind strukturell Teil moderner Gesellschaften. Seit dem 20. | |
| Jahrhundert weisen feministische Kämpfe genau das zurück: „Biologie oder | |
| Natur ist nicht Schicksal.“ Und deswegen ist die Frage, was in den Bereich | |
| der Natur und was in den Bereich der gesellschaftlichen und gestaltbaren | |
| Formen gehört, so umkämpft. Um diese Frage kämpfen soziale Bewegungen schon | |
| immer. Und das verhandeln wir jetzt auch beim Transgenderthema. | |
| Unbehagen kann man niemandem absprechen. Aber was, wenn aus dem Unbehagen | |
| Hass, Hetze und Gewalt entstehen? | |
| Jedes Unbehagen ist erst einmal berechtigt. Sobald daraus jedoch Hass wird | |
| oder Existenzweisen infrage gestellt werden, wenn Entmenschlichung oder | |
| Kriminalisierung geschieht – dann ist das höchst problematisch. Ebenso, | |
| wenn sich das ideologisch wendet und in diskriminierende Gesetze | |
| niederschlägt, wie gerade in den USA. Dort, etwa in Texas oder Alabama, | |
| können zum Teil Eltern von trans Jugendlichen bestraft werden, wenn sie | |
| sich darum bemühen, ihnen bestmögliche medizinische Versorgung zu | |
| gewährleisten. Dadurch geraten sie nämlich in den Verdacht, | |
| Transgeschlechtlichkeit zu unterstützen, was illegal ist. Wie aber kann man | |
| als Gesellschaft auf diesen Hass reagieren? Ich glaube, es bleibt uns | |
| nichts anderes übrig, als weiter zu diskutieren. Das darf ruhig kontrovers | |
| sein, aber Existenzweisen dürfen nicht infrage gestellt werden. | |
| Wie könnte so ein Streit denn aussehen? | |
| Das Interessante ist ja, dass wir uns in der Wissenschaft eigentlich einig | |
| sind, dass Geschlechtlichkeit etwas ist, an dem sich sehr viele Disziplinen | |
| beteiligen sollten, weil es so vieldimensional ist: Biologie, Politik, | |
| Geschichte, Ökonomie, Kultur, Psychologie, Medizin und so weiter. Da | |
| könnten wir doch – Friede, Freude, Eierkuchen – in multiperspektivische | |
| Gespräche treten und sagen: Ja, wir haben alle unseren Anteil dazu | |
| beizutragen, da müssen wir gar nichts gegeneinander ausspielen. Aber es | |
| gibt dann eben [2][Positionen, wie die von Vollbrecht], die | |
| reduktionistisch autoritär auftreten, die sich als die ganze und einzige | |
| Wahrheit setzen. Auch wer mit „nur Kultur“ und „nur sozial“ argumentier… | |
| tut das autoritär. Immer wenn gesagt wird, ich habe die ganze Wahrheit und | |
| die anderen haben keine, ist das empirisch falsch und normativ autoritär. | |
| Die Diskussion wird jedoch nicht nur zwischen Biolog*innen und | |
| Soziolog*innen geführt. Es ist offenbar auch keine Frage von rechts | |
| oder links: Lässt sich denn irgendwie festhalten, wer hier eigentlich mit | |
| wem streitet? | |
| Es ist kein Alleinstellungsmerkmal, doch gerade beim Thema Geschlecht ist | |
| auffällig, dass die Debatte sich nicht durch Links-rechts-Schemata oder | |
| über Milieus abbilden lässt. Es ist eher eine Auseinandersetzung zwischen | |
| autoritärem Denken und pluralistischem, ich würde es postessenzialistischem | |
| Denken nennen. Auf der einen Seite die autoritäre Position, die sagt: Das | |
| ist so, weil es von Natur aus so ist, fertig. Und wer diese „Ist so“-Logik | |
| infrage stellt, gilt als gefährlich und irrational. Auf der anderen Seite | |
| steht die Position: Unsere Gesellschaft ist aufgeklärt, tolerant, | |
| pluralistisch und wir haben die Möglichkeit sowie ethische Verpflichtung, | |
| uns selbst zu gestalten. Und diese Position gibt es bei Konservativen und | |
| Linken, bei Bildungsbürgerlichen, bei Arbeiter*innen, in der Stadt und auf | |
| dem Land. Viele Menschen gehen total undramatisch mit „Gender Trouble“ um. | |
| Die haben kein Problem, dass der Sohn Glitzer-Fingernägel trägt oder die | |
| Tochter der Nachbarin trans ist. | |
| Auch in feministischen Debatten findet man transfeindliche Argumente. | |
| Häufig wird der Schutz von cis Frauen gegen die Rechte von trans Frauen | |
| ausgespielt. Also beispielsweise die Angst vor einem Menschen mit Penis in | |
| der Umkleidekabine. Empirisch belegen lässt sich diese „Sorge“ nicht. Wie | |
| konnte sich das Narrativ dann trotzdem so gut verbreiten? | |
| Ihnen ist es gelungen, die Angst vor Penisträgern in Röcken so sehr zu | |
| pushen, dass es so scheint, als sei das das Hauptthema. Dabei wissen wir | |
| auch aus empirischen Studien, dass mit Abstand die größte Gefahr für Frauen | |
| aus dem Nahraum kommt. Täter sind also in der Regel (Ex-)Partner oder | |
| andere Verwandte, Bekannte. Durch die ständig formulierte Sorge vor dem | |
| „unbekannten Mann“ – früher im Gebüsch, heute in der Umkleide – wird … | |
| Gefahr jedoch verschleiert. Immer wieder wird auch das Angstbild | |
| hervorgeholt, dass eine trans Frau mit Penis im Frauengefängnis Gewalt | |
| ausübt. Aber niemand redet darüber, wie viele Männer sexualisierte Gewalt | |
| von Männern in Gefängnissen erleben. All das ist heute schwer | |
| thematisierbar, weil es diese Schreckfigur beziehungsweise dieses | |
| Skandalisierungspotenzial gibt. Das heißt nicht, dass man Sorgen von cis | |
| Frauen vor sexualisierter Gewalt ignorieren sollte, im Gegenteil – aber sie | |
| gehen in diesen Fällen total an der empirischen Wirklichkeit vorbei. | |
| In etablierten Medien nimmt sie trotz allem großen Raum ein. Wie nehmen Sie | |
| die Debatte überhaupt dort wahr? | |
| Sehr einseitig und wenig nuanciert, leider. In linken Medien, wie dem | |
| Freitag, der Jungle World oder der taz bis hin zu konservativen Medien wie | |
| der FAZ und allen voran der Welt dominiert die Aussage: Anisogamie ist die | |
| Eigentlichkeit von Geschlecht, und wer das nicht anerkennt, ist ein Spinner | |
| und genauso bescheuert wie religiöse Fanatiker. Ich vermisse eine fundierte | |
| Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen, breiten, teilweise auch | |
| widersprüchlichen und vielfältigen Bild von Geschlecht, als biosoziale | |
| Komplexität. Auch die Gender Studies erkennen an, dass es Natur, | |
| Materialität und Biologie gibt. Aber weder determiniert das allein | |
| Geschlecht, noch liegt die Natur außerhalb unserer selbst als totale | |
| Unverfügbarkeit. | |
| Können Sie das erklären? | |
| Es gibt Natur als Teil unserer selbst und wir gestalten sie mit. Hormone | |
| sind dafür ein Beispiel: Je nach Alter, Ernährung, Schlafrhythmus, | |
| Sportaktivität, Körpergewicht und so weiter verändert sich unser | |
| Hormonhaushalt. Biosozialität ist unsere Natur. All das kommt kaum in den | |
| Medien vor. Zwischen Sozial- und Naturfundamentalismus findet kaum etwas | |
| statt. Das wird uns nicht gerecht. | |
| 18 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carolina Schwarz | |
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