# taz.de -- Geschlecht und Identität: „Es ist ein Mädchen“ | |
> Die Zuschreibung des Geschlechts prägt wie kaum etwas anderes ein Leben. | |
> Für ein Mädchen, geboren 2025, schafft dies mehr Durcheinander als | |
> Ordnung. | |
Bild: „Mädchen“ ist eine Zuschreibung, die das Neugeborene in eine bereits… | |
Wenn ein Mensch zur Welt kommt, schreibt [1][Hannah Arendt], bedeutet das | |
den Eintritt von etwas ganz Neuem in ein bereits vorhandenes „Bezugsgewebe | |
der menschlichen Angelegenheiten“. Dadurch verändert sich beides: der | |
Mensch, aber auch die Welt. | |
Wie für alle Menschen seit der Entstehung unserer Spezies, so gibt es auch | |
für ein Mädchen im Jahr 2025 nur einen einzigen Weg, auf die Welt zu | |
kommen: Es muss im Leib eines anderen Menschen heranwachsen. Durch diese | |
Beziehung „ist“ es schon etwas, bevor es überhaupt existiert: Teil einer | |
Familie, Bürgerin eines Staates, reich oder arm, sehnsüchtig erwartet oder | |
ungewolltes Problem in der Lebensplanung einer anderen Person. | |
## „Mädchen“ in der symbolischen Ordnung | |
Nichts davon hat das Kind selbst gewählt; das meiste wird es jedoch später | |
beeinflussen und vielleicht auch verändern können. Aber noch nicht jetzt. | |
Noch nicht als Baby. Als Baby muss es nehmen, was es kriegt. Nicht nur die | |
Nahrung, mit der man es füttert, die Kleidung, die man ihm anzieht, das | |
Bettchen, in das es gelegt wird, sondern auch die symbolische Ordnung, mit | |
der ihm die Welt erklärt wird. Mama, Papa, Auto, Mädchen. | |
Ohne die anderen Menschen, aus deren Bezugsgewebe es hervorgegangen ist, | |
wäre das Mädchen kein Mädchen. „Mädchen“ ist eine Zuschreibung, die das | |
Neugeborene in eine bereits vorhandene symbolische Ordnung einfügt. In | |
Deutschland im Jahr 2025 ist das eine Kultur und Gesellschaft, die Menschen | |
nach Geschlechtern unterscheidet, sich aber zugleich laut und nahezu | |
unversöhnlich darüber streitet, ob und wie sie das tun soll. | |
Was ein „Mädchen“ ist, lässt sich nicht definieren, sondern nur immer | |
wieder neu mit Bedeutung füllen. Mädchensein bedeutet heute etwas anderes | |
als 1950. Dabei kann die Gleichung „Du bist ein Mädchen“ in zwei Richtungen | |
aufgelöst werden: Ein Mädchen zu sein (und/oder als solches wahrgenommen zu | |
werden) wird das Leben eines Kindes so stark prägen wie kaum etwas anderes. | |
Es filtert den Blick der anderen, verzerrt ihn oft, bringt Erwartungen und | |
Ansprüche, Diskriminierungen und Nachteile mit sich, aber auch Chancen und | |
Möglichkeiten. Einerseits. Andererseits beinhaltet der Satz „Du bist ein | |
Mädchen“ ein Versprechen: „Du“ bist ein Mädchen. Ganz egal was du tust.… | |
in deiner Einzigartigkeit kannst das Mädchensein mit Leben füllen. | |
## Kein Penis sichtbar | |
Die Zuschreibung von Weiblichkeit erfolgt nicht willkürlich, sondern anhand | |
der Genitalien. „Es ist ein Mädchen“ wird [2][über jene Babys gesagt, bei | |
denen kein Penis sichtbar ist], und zwar deshalb, weil das ein starker | |
Hinweis darauf ist, dass sie vermutlich einen Uterus haben und später | |
einmal schwanger werden können. | |
„Vermutlich“, denn die Wahrscheinlichkeit ist zwar groß, aber nicht hundert | |
Prozent. Es gibt unzählige Gründe, warum ein mit Vulva geborener Mensch | |
später doch nicht schwanger werden kann – genetische, hormonelle, | |
vielleicht hat sich auch einfach kein Uterus herausgebildet. | |
Aber so vielfältig die Varianten biologischer Geschlechtlichkeit auch sind, | |
die Trefferquote der „Augenscheinmethode“ ist trotzdem hoch: Über 98 | |
Prozent aller mit Vulva geborenen Menschen können im Alter von 20 Jahren | |
prinzipiell schwanger werden, und nahezu 100 Prozent aller mit Penis | |
geborenen Menschen können es nicht. | |
## Neue Untertanen gebären | |
Die Praxis, Menschen im Hinblick auf ihre Gebärfähigkeit zu kategorisieren, | |
ist sehr alt, gut 5.000 Jahre, wie die Patriarchatsforscherin [3][Angela | |
Saini] schätzt. Damals entstanden die ersten Reiche und damit strukturelle | |
Herrschaft in Form von Sklaverei und Patriarchat. Bei der Sklaverei ging es | |
um die Ausbeutung von Körperkraft für Arbeit und Kriege, beim Patriarchat | |
um die Kontrolle der Reproduktion. | |
Will man die einen körperlich verschleißen und die anderen dazu zwingen, | |
neue Untertanen zu gebären, ist es praktisch, Menschen entlang der | |
reproduktiven Differenz zu unterscheiden. Zum Beispiel kann man dann | |
Kleiderordnungen einführen, die auf den ersten Blick sichtbar machen, ob | |
jemand zu der Gruppe gehört, die womöglich schwanger werden kann, oder | |
nicht. | |
Das Patriarchat, also die Herrschaft über Menschen mit Uterus zur Kontrolle | |
ihrer Gebärfähigkeit, ist ein universales Phänomen. Die Art und Weise, wie | |
das geschieht, jedoch nicht. Die Vielfalt möglicher Geschlechterordnungen | |
ist so unendlich wie der menschliche Erfindungsgeist. Viele Kulturen kennen | |
mehr als zwei Geschlechtsidentitäten. Andere setzen die Kategorisierung | |
nicht bei der Geburt an, sondern erst bei der Menarche, also der ersten | |
Menstruation, oder sogar erst bei der Heirat, also [4][beim ersten | |
heterosexuellen Geschlechtsverkehr]. | |
Doch egal wie sie konkret aussehen: Geschlechterkonzepte sind niemals | |
„natürlich“. Sie sind immer Ausdruck einer kulturell erzeugten symbolischen | |
Ordnung und müssen durch Religionen, traditionelle Praktiken und Narrative | |
eingeübt und stabilisiert werden. | |
## Universale Wahrheit? | |
Die Kultur der europäischen Moderne geht von genau zwei Geschlechtern aus, | |
männlich und weiblich, die komplementär aufeinander bezogen sind und das | |
Wesen eines Menschen von der Geburt bis zum Tod prägen. Die Idee speist | |
sich aus drei Traditionen: der griechisch-römischen Philosophie (vor allem | |
Aristoteles), der jüdisch-christlich-muslimischen Religion und dem | |
naturwissenschaftlichen Säkularismus. | |
Alle drei Weltanschauungen verstehen die binäre Geschlechterordnung nicht | |
als kulturelle Praxis, sondern als universale Wahrheit, die von einer | |
höheren Instanz vorgegeben ist und nicht hinterfragt werden darf – der | |
Ordnung der Natur, dem Willen Gottes, der Erkenntnis der Wissenschaft. | |
Doch es regt sich Widerstand, inzwischen schon seit Jahrzehnten. Er ist | |
maßgeblich getragen von Menschen, die unter dieser Geschlechterordnung | |
leiden: Frauen, denen Möglichkeiten vorenthalten werden, Menschen mit | |
Uterus, denen die reproduktive Selbstbestimmung verweigert wird, [5][trans | |
und intersexuellen Menschen], die gegen ihren Willen in | |
Geschlechterkategorien gepresst werden, in die sie nicht passen. | |
## Reale Frauen, queere Identitäten | |
Doch auch objektive Entwicklungen stellen den Sinn der binären | |
Geschlechterordnung infrage: Warum soll man Menschen nach Geschlecht | |
kategorisieren, wenn man sie dann doch gleich behandeln will? Welchen Sinn | |
hat der Fokus auf die Gebärfähigkeit angesichts verlängerter | |
Lebenserwartung und gesunkener Geburtenraten? Warum die Beschränkung auf | |
zwei Geschlechter, wenn Reproduktionstechnologien vielfältige Formen von | |
Elternschaft möglich machen? Das sind nur einige Fragen, die sich heute | |
stellen. | |
Die Frauenbewegung hat vorgelebt, dass „Weiblichkeit“ keineswegs ein | |
komplementärer Gegenpart von „Männlichkeit“ sein muss, sondern von realen | |
Frauen ihren eigenen Wünschen entsprechend gefüllt werden kann. Die Queer | |
Theory hat neue Möglichkeiten ins Spiel gebracht, Geschlecht zu denken, als | |
Spektrum, als persönliche Identität, vor allem aber ohne automatischen | |
Zusammenhang zum Körper, also der Gebärfähigkeit. | |
Beide Bewegungen haben beachtliche politische Erfolge errungen, zuletzt mit | |
der Verabschiedung eines [6][Selbstbestimmungsgesetzes, das in Deutschland | |
seit dem 1. November 2024 Gesetzeslage ist.] Gleichzeitig haben aber | |
rechtsextreme und religiös-fundamentalistische Akteur*innen das Thema | |
„Gender“ als Instrument populistischer Hetze und Propaganda entdeckt und | |
machen sich derzeit daran, die freiheitlichen Ansätze der vergangenen | |
Jahrzehnte wieder zurückzudrehen. | |
## Komplexes Durcheinander | |
Das „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“, in das ein Kind 2025 | |
in Deutschland hineingeboren wird, ist in puncto Geschlechterordnung also | |
maximal komplex. Zwar werden die meisten Babys immer noch entsprechend | |
ihrer Genitalien kategorisiert, aber es gibt auch immer mehr Eltern, die | |
bewusst keine geschlechtliche Einordnung vornehmen, weil sie der | |
Selbstidentifikation ihres Kindes nicht vorgreifen wollen. | |
Aber auch wenn [7][ein Neugeborenes] als „Mädchen“ kategorisiert wird, ist | |
unklar, was das bedeutet. Vielleicht wird es auf traditionelle | |
Weiblichkeitsrollen hin erzogen, oder es wird ihm ein gleichberechtigtes | |
Modell von Frausein vorgelebt, und manche Mädchen haben sogar feministische | |
Mütter, die ihnen von klein auf beibringen, wie man das Patriarchat | |
bekämpft. | |
Das Einzige, was sicher scheint, ist, dass Geschlechterkonzepte heutzutage | |
weniger Ordnung schaffen als vielmehr Durcheinander. Den Mädchen, die 2025 | |
in Deutschland geboren werden, ist zu wünschen, dass sie sich davon nicht | |
beirren lassen, sondern den Weg gehen, der für sie richtig ist. | |
7 Mar 2025 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Antje Schrupp | |
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