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# taz.de -- Kritik am Selbstbestimmungsgesetz: Angebliche Sorgen
> Seit Monaten machen Konservative Stimmung gegen das
> Selbstbestimmungsgesetz. Zeit, dass die Mehrheitsgesellschaft dem etwas
> entgegensetzt.
Bild: Die Gesellschaft ist oft weiter als die Bürokratie: bunter Protest im Ma…
Da institutionalisierter Fortschritt in der Regel quälend langsam
vonstatten geht, ist die Gesellschaft in vielen Fragen weiter als die
Justiz. So befürwortete die Mehrheit der Deutschen schon lange vor der
Einführung der „Ehe für alle“ im Jahr 2017 gleichgeschlechtlich Ehen. Und
auch bei aktuell diskutierten Fragen, wie beispielsweise der
Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, hinkt die Gesetzgebung
gesellschaftlichen Vorstellungen hinterher. Nur wenn es um die Rechte von
trans Menschen geht, scheint es ausnahmsweise einmal andersherum zu sein.
Vergangenen Donnerstag haben Justizminister Marco Buschmann und
Familienministerin Lisa Paus [1][die Eckpunkte für das
Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt.] Dieses soll das Transsexuellengesetz,
das teilweise verfassungswidrig, aber vor allem menschenverachtend ist,
ersetzen. Künftig sollen trans, inter und nicht-binäre Menschen durch eine
Erklärung beim Standesamt ihren Namen und Geschlechtseintrag im
Personenstandregister ändern lassen können – und zwar ohne demütigende und
zeitaufwendige Gutachten. Statt auf Begutachtung durch andere wird jetzt
auf Selbstauskunft gesetzt. Paus sagte dazu: „Heute ist daher ein guter Tag
für die Freiheit und für die Vielfalt in unserem Land.“
Mit ihrer Freude war sie an diesem Tag nicht alleine, schließlich hatten
Aktivist*innen und Politiker*innen jahrelang für das Gesetz
gekämpft. Vor dem Bundestag und auf Twitter wurde gefeiert und auch Medien
stimmten mit ein. „Ein längst überfälliger Schritt“ kommentierte die
Tagesschau, „Endlich das Recht auf den richtigen Namen“ der Spiegel.
## Perfide und laut
Das Gesetz ist ein Meilenstein für die Rechte von trans Menschen und so
sollte es gefeiert werden. Doch die Freude wurde vielerorts übertönt. Seit
Monaten schon haben Konservative es sich zum Ziel erklärt, Stimmung dagegen
zu machen. Nach Vorstellung der Eckpunkte erreichte dieser Unmut am
Wochenende seinen vorläufigen Höhepunkt. Ob sie mit ihrer abwertenden
Haltung in der Mehrheit sind, ist schwer nachvollziehbar, klar ist jedoch,
dass die Gegner*innen laut sind und in der Debatte großen Raum
einnehmen. Unterstützt werden sie dabei von Politiker*innen,
Aktivist*innen und Journalist*innen, die regelmäßig mahnen, man müsse
diese Sorgen ernst nehmen.
Das klingt natürlich erst einmal sehr nachsichtig. Doch wer sich mit den
Sorgen auseinandersetzt, entdeckt die ewig gleichen Mythen,
Desinformationen und Lügen. Doch damit das Selbstbestimmungsgesetz für
trans Menschen auch in der Realität ein Fortschritt sein kann und nicht in
noch mehr Diskriminierung mündet, muss die Mehrheitsgesellschaft die Mythen
und angeblichen Sorgen entlarven. Immer und immer wieder.
Besonders perfide ist, dass Kritiker*innen ihre transfeindliche Agenda,
die sie meist natürlich abstreiten, mit dem Schutz von cis Frauen
begründen. Vieles, was in den vergangenen Tagen verbreitet wurde, lässt
sich als Desinformation widerlegen: Dass das Geschlecht „Frau“ abgeschafft
werden soll, ist beispielsweise einfach nur Blödsinn. Ebenso dass durch das
Selbstbestimmungsgesetz nun zahlreiche Teenager chirurgische Eingriffe und
medizinische Maßnahmen durchführen lassen würden – damit hat das es nämli…
überhaupt nichts zu tun, es regelt lediglich die Änderungsmöglichkeit des
Geschlechtseintrags und der Vornamen im Personenstandsregister.
## Gruselmythos Umkleide
Der häufigste Mythos der in den vergangenen Tagen verbreitet wurde, handelt
von Umkleidekabinen. „Wird es in Damenumkleiden künftig von lüsternen
Bärtigen wimmeln, die sich per Ausweis als Frau legitimieren?“, fragte
beispielsweise die Augsburger Allgemeine in einem Kommentar. Alternativ
kann man die Umkleidekabine auch durch Toilette ersetzen. Die Bild hatte
schon im vergangenen Dezember davor gewarnt, dass kriminelle Männer sich
[2][mit Hilfe des Gesetzes Zugang zu Frauentoiletten erschleichen würden,
um dort Gewalt gegen Frauen auszuüben].
Dieses Narrativ verschleiert in erster Linie den Zustand, dass Männer
andauernd Gewalt gegen Frauen ausüben. Am häufigsten im eigenen Zuhause,
aber auch im öffentlichen Raum, wie im Club, im Fitnessstudio oder in der
Fußgängerzone. Der Umkleide-Mythos will von diesem Zustand ablenken.
Außerdem ist – entgegen vieler Berichte – das Geschlecht überhaupt nicht …
Personalausweis vermerkt.
Zweitens kontrolliert niemand am Eingang einer Toilette oder einer
Umkleidekabine den Geschlechtseintrag. Wieso sollte ein Mann, der eine Frau
in einer Umkleidekabine belästigen will, also dafür den enormen
bürokratischen Aufwand des Selbstbestimmungsgesetzes auf sich nehmen? Zum
Standesamt gehen, um seinen Namen und sein Geschlecht zu ändern. Um
daraufhin seine Daten bei der Bank, dem Arbeitgeber, der
Krankenversicherung, seine Pässe, Führerscheine und alle weiteren Orte, an
denen der Name hinterlegt ist, anpassen zu müssen? Dass ein Mann all diese
Schritte geht, um sich Zugang zu einer Umkleidekabine zu verschaffen, die
einem nicht durch einen Pass gewährt wird, ist kein realistisches Szenario.
Eine andere Sorge, die ständig wiederholt wird, ist, dass Männer nun ihren
Geschlechtseintrag ändern lassen, um daraus berufliche Vorteile zu ziehen.
Was dabei wohl in erster Linie übersehen wird: Trotz Quoten werden Frauen
auf dem Arbeitsmarkt noch immer benachteiligt und ein Coming-out als trans
führt am Arbeitsplatz eher zu mehr Benachteiligung. Wenn Männer ihren
beruflichen Erfolg auf dem Rücken von Frauen ausüben wollen, brauchen sie
dazu kein Selbstbestimmungsgesetz. Sie finden seit Jahrzehnten zahllose
einfachere Wege.
Abstruser ist einzig der Gedanke, Menschen würden ihren Geschlechtseintrag
und Namen anpassen, um nach einer Straftat nicht aufzufliegen. Na klar,
denn wohin sonst sollte der erste Gang auf der Flucht vor der Staatsgewalt
führen als aufs Amt?
4 Jul 2022
## LINKS
[1] /Selbstbestimmungsgesetz-der-Ampel/!5861267
[2] /Hetze-gegen-Selbstbestimmungsgesetz/!5818120
## AUTOREN
Carolina Schwarz
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