# taz.de -- Weiblicher Schmerz, männliche Medizin: Aufstand der Patientinnen | |
> Eine Reihe von Büchern thematisiert Sexismus in der Medizin. Frauen | |
> verschwinden hinter der männlichen Norm, ihrem Schmerz wird selten | |
> geglaubt. | |
Bild: Weibliche Schmerzen sind unterforscht. Körperdarstellungen, Dresden ca. … | |
Eva Biringer kannte ihre Großmutter nur leidend. Auf dem Sofa lagernd, ein | |
Kirschkernkissen auf den schmerzenden Bauch gepresst, dämmerte sie vor sich | |
hin, das Haus verließ sie nur ungern. Nach Meinung der Ärzte war die Frau | |
körperlich gesund, aber nervlich labil. Am Ende ihres Lebens war sie | |
schmerzmittelabhängig, aber nicht schmerzfrei. | |
Die Enkelin schreibt in ihrem Buch „Unversehrt. Frauen und Schmerz“: „Der | |
Bauch meiner Großmutter sprach seine eigene Sprache. Warum hörte niemand | |
zu?“ Die Autorin fragt sich, inwieweit ihr der Schmerz ihrer Großmutter | |
selbst in den Knochen steckt. | |
Was sich ein wenig nach weiblicher Esoterik anhört, gibt es tatsächlich: | |
Das Phänomen der Epigenetik bezeichnet die Vererbung von Traumata – in | |
Biringers Fall die Erfahrung, chronische Schmerzen erdulden zu müssen, als | |
Bestandteil eines weiblichen Alltags, der von permanenter Erschöpfung und | |
misogynen Herabsetzungen sowie geringem Selbstwertgefühl geprägt war und | |
ist. | |
Biringer stellt den Fall ihrer Großmutter in einen politischen Kontext. Auf | |
gut 200 Seiten taucht sie ein in die Facetten weiblichen Schmerzes, von | |
seiner Negierung durch eine männlich geprägte Medizin bis zur | |
künstlerischen und erotischen Faszination an versehrten Frauenkörpern. | |
## Der gender pain gap | |
Dass ihre realen Schmerzen als „Frauenleiden“ in den psychosomatischen | |
Bereich abgeschoben und mit Tabletten ruhiggestellt wurden – diese | |
Erfahrung teilt Eva Biringers Vorfahrin mit Frauen (ob cis oder trans oder | |
nicht klar „normalmännlich“) überall auf der Welt. „Ein Mann bekommt | |
Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven“, bringt es Biringer auf den | |
Punkt und referiert damit auf den gender pain gap, also das Phänomen, dass | |
Schmerzen von Frauen und Männern unterschiedlich wahrgenommen werden. | |
Frauen wird einerseits unterstellt, schmerztoleranter zu sein als Männer, | |
da ihr Körper von Natur aus beträchtlichen Schmerzen ausgesetzt ist. | |
Andererseits wird der Schmerz von Frauen weniger ernst genommen. | |
Die Missachtung weiblichen Schmerzes scheint allgegenwärtig zu sein – | |
zumindest gibt es großen Redebedarf. Die Regalbretter in den Buchhandlungen | |
biegen sich unter Neuerscheinungen, die sich mit der Ignoranz weiblichen | |
Leidens in Arztpraxen und Krankenhäusern befassen. | |
Selbsterfahrungsberichte, essayistische Sachbücher, Ratgeber – von einem | |
regelrechten Aufstand der Patientinnen könnte man sprechen. | |
Diese Bücher sind Zeugnisse von weiblicher Wut und Ohnmacht: darüber, dass | |
im Jahr 2025 Frauen noch immer Patientinnen zweiter Klasse sind, dass sie | |
in der Forschung unterrepräsentiert sind, dass sie etwa an einem | |
Herzinfarkt häufiger sterben, weil ihre sich von Männern unterscheidenden | |
Symptome nicht rechtzeitig erkannt werden. Und darüber, dass Krankheiten, | |
die mehrheitlich Frauen betreffen, von der Forschung als „Weiberkram“ | |
ignoriert werden. | |
## Der Arzt weist sie an, still zu sein | |
„Der Club der hysterischen Frauen“ heißt bezeichnenderweise die | |
schwarzhumorige (leider schlecht übersetzte) Leidensgeschichte der | |
Amerikanerin Sarah Ramey, die, aufgewachsen in den 1980ern als Tochter | |
eines Ärztepaars, an einer mysteriösen Krankheit im Urogenitalbereich | |
erkrankt. Ihre Symptome (Reizdarm, Gelenkschmerzen, Ausschlag, schmerzhafte | |
Schwellungen) stellen Fachärzt*innen vor ein Rätsel, hinter | |
vorgehaltener Hand nennt man sie hypochondrisch. Ein Arzt entnimmt ihr ohne | |
adäquate Betäubung Gewebe aus der Vagina. Als sie vor Schmerzen schreit, | |
weist er sie an, still zu sein, und weigert sich, ihr Schmerzmittel zu | |
geben. | |
Notgedrungen wird sie zur medizinischen Rechercheurin, befasst sich mit | |
Autoimmunerkrankungen, die zu vier Fünfteln weibliche Patientinnen | |
betreffen – und kaum erforscht sind. Ebenso wie andere typisch weibliche | |
chronische Erkrankungen wie Migräne, Endometriose oder das Schmerzsyndrom | |
Fibromyalgie, für die im Verhältnis zur Anzahl von Betroffenen | |
vergleichsweise wenig Forschungsgelder bereitgestellt werden – von | |
fachlicher Fortbildung für Mediziner*innen ganz zu schweigen. | |
Dass Frauen von medizinischen Studien ausgeschlossen sind (da Probandinnen | |
schwanger werden könnten) und in medizinischen Lehrbüchern kaum | |
berücksichtigt würden, kritisierte schon die Frauengesundheitsbewegung der | |
1970erJahre. Viel ist seither nicht passiert, schaut man sich gängige | |
Biologiebücher für den Schulunterricht an. Der menschliche Körper | |
schlechthin ist stets ein Mann, weibliche Körper werden nur dargestellt, wo | |
es um Zyklus, Schwangerschaft und Geburt geht: die Frau als menschlicher | |
Sonderfall. | |
## Rassismus und Gesundheit | |
Ramey kommt als Kind der dritten Feminismuswelle zu dem Schluss, dass das | |
Gleichheitsversprechen des Feminismus, mit dem sie aufgewachsen ist, diesem | |
Blick auf Frauen als „etwas kleinere Männer“ Vorschub leistet, indem er | |
Frauen selbst dazu bringen kann, die spezifisch weiblichen Eigenheiten und | |
Bedürfnisse ihrer Körper und Seelen zu verleugnen, zugunsten einer positiv | |
konnotierten toughness – die das Aufschließen zur männlichen Norm meint. | |
Das aber verlange, sich möglichst von als „weiblich“ angesehenen Gefühlen | |
und Verhaltensweisen abzuwenden. | |
Den Fehler sieht Ramey, deren Großmutter schon als Endokrinologin den | |
Beweis führte, dass weder ihre Physiognomie noch ihre Hormone Frauen in | |
irgendeiner Form schwach oder minderwertig machten, freilich nicht im | |
Gleichheitsideal des Feminismus selbst oder in der Gendertheorie, die | |
Geschlecht als etwas sozial Konstruiertes und Fluides betrachtet. Sondern | |
in der Tatsache, dass „weiblich“ gelesene Prinzipien wie Intuition, | |
zyklisches und ganzheitliches Denken, Verletzlichkeit oder | |
(Selbst-)Fürsorge gesellschaftlich als minderwertig gelten – auch unter | |
Feministinnen. | |
Die Folge seien ein Lebensstil und eine Medizin, die hochtechnisiert, | |
effizienz- und erfolgsorientiert ist. Was besonders Frauen in einem | |
Gesundheitssystem untergehen lässt, dessen Maßstab nach wie vor der | |
männliche Patient ist. Der weiße männliche Patient, genauer gesagt. | |
Die britische Schwarze Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool lenkt in | |
„Racism Kills“ den Augenmerk auf den allgegenwärtigen Rassismus im | |
Gesundheitssystem. So bewertete noch bis 2021 ein Algorithmus in | |
US-Kliniken die Sicherheit einer vaginalen Geburt nach Kaiserschnitt für | |
Schwarze und hispanische Gebärende anders als für weiße, rassistische | |
Annahmen über eine Andersartigkeit Schwarzer und indigener Becken lagen dem | |
zugrunde. | |
Liverpool zitiert Studien, wonach Schwarze Frauen seltener Schmerzmittel | |
verschrieben bekämen, da man ihnen, in Kontinuität kolonialer Rassismen, | |
unterstelle, „dickere“, schmerzunempfindlichere Haut zu haben – oder | |
tablettenababhängig zu sein und mit Rezepten zu handeln. Die speziell | |
rassistische Variante der Misogynie gegenüber Schwarzen Frauen führe dazu, | |
dass Schwarze Frauen in Großbritannien fünfmal häufiger an Komplikationen | |
bei Schwangerschaft und Geburt stürben als weiße. In den USA liegt die | |
Mütter- und Säuglingssterblichkeit in der Schwarzen Bevölkerung höher als | |
in sämtlichen anderen Industrieländern der Welt. | |
## Der verzerrte Blick | |
Die amerikanische Kulturhistorikerin [1][Elinor Cleghorn] spricht in ihrem | |
auf Deutsch bereits 2022 erschienenen Buch „Die kranke Frau“ von einer | |
perfiden Verschränkung von strukturellem Rassismus und genderspezifischen | |
Vorurteilen. Die Diskriminierung kranker Frauen insgesamt, schreibt sie, | |
sei „einem Schatten geschuldet, der seit Jahrhunderten über der Medizin | |
liegt […] und den Blick auf die Frauen sowie die Beurteilung ihrer | |
Krankheiten stark verzerrt“. | |
In ihrem historisch grundierten Buch zeigt Cleghorn auf, wie tief misogyne | |
Vorurteile und Mythen über den weiblichen Körper in der modernen Medizin | |
verwurzelt sind. Dabei entsteht ein Bild, das alle Annahmen über eine | |
vermeintlich humanistische Objektivität der Medizin hinwegfegt: Das | |
Anastäthetikum Chloroform mache Frauen sexuell „rasend“, das Spekulum | |
fördere die Onanie bei jungen Mädchen … Dem offensichtlich patriarchalen | |
Unsinn von gestern stellt Cleghorn heutige Mythen entgegen, etwa die von | |
allzu achtsam in sich hineinhorchenden jungen Frauen, die sich im Internet | |
[2][Diagnosen] wie ME/CFS (chronisches Erschöpfungssyndrom) selbst | |
zusammenrecherchierten – obwohl die Ärzte „nichts gefunden“ hätten. | |
Man könnte es nach Lektüre einiger kritischer Bücher zum Thema auch so | |
sehen: Dem Schmerz von Frauen wird noch immer nicht geglaubt, daher gehen | |
sie selbst auf Ursachensuche. Wie die „hysterische Patientin“ Sarah Ramey, | |
die nach 16 Jahren körperlich unerträglicher Leiden zur Expertin ihrer | |
eigenen Symptome wurde. Auf die nicht eine, sondern mehrere einzelne | |
Diagnosen zutrafen, die, als sie auf ihr Drängen integriert behandelt | |
wurden, zur ersehnten Besserung führten. | |
Cleghorn, die selbst eine „unpässliche“ Patientin war, bis die | |
Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes bei ihr diagnostiziert wurde, | |
streift die eigene Leidensgeschichte nur am Rande. Sie geht zurück an die | |
misogynen Wurzeln, in die griechische und römische Antike. Mediziner wie | |
Hippokrates betrachteten den weiblichen Körper als von den Launen der | |
Gebärmutter (auf Altgriechisch: Hystera) beherrscht – ein für die Männer | |
rätselhaftes Organ, dem sie „die Ursache von 1.000 Übeln“ (Demokrit) und | |
viel Wundersames nachsagten. | |
Etwa, dass es bei zu wenig „Auslastung“ auf Wanderschaft durch den Körper | |
ginge, was durch Geschlechtsverkehr und möglichst viele Schwangerschaften | |
zu beheben sei. Im Mittelalter wurden Schmerzen bei der Geburt als Strafe | |
für die Erbsünde betrachtet. Cleghorn zitiert aus Werken wie „Secreta | |
Mulierum“, in denen es hieß, die Menstruation mache die Frau schwach und | |
heimtückisch. | |
Der berühmte „Hexenhammer“ als Rechtfertigung grausamer Verfolgung traf | |
auch heilkundige Hebammen und Pionierinnen der Frauenheilkunde wie die | |
Pariser Ärztin Felice de Almania. Systematisch arbeitet Cleghorn auf, wie | |
ein patriarchales System, das auf der Unterwerfung des weiblichen Körpers | |
aufbaut, mithilfe der krudesten Theorien und Vorurteile den weiblichen | |
Körper dominiert und gleichzeitig seine ernsthafte Erforschung verhindert – | |
bis heute. 2020 enthüllte eine Whistleblowerin, dass in einem Gefängnis in | |
Georgia ungerechtfertigte und häufig nicht einvernehmliche | |
Massenhysterektomien an gefangenen Frauen vorgenommen wurden. Und erst 2005 | |
wurde entdeckt, dass die Klitoris ungefähr fünfmal größer ist als bisher | |
bekannt. Es bedurfte der Forschung der ersten Urologieprofessorin | |
Australiens, die Klitorisschenkel zu entdecken und ihre wichtige Funktion | |
für die Frauengesundheit. | |
## Weibliche Sicht | |
Was, wenn es sich nicht um einen Club von hysterischen Frauen, sondern von | |
unsichtbaren Patientinnen handelt? Auch die Berliner Gynäkologin und | |
Chefärztin [3][Mandy Mangler] (eine von drei weiblichen Chefinnen der | |
Hauptstadt mit 21 Kliniken) findet deutliche Worte: „Von einer sinnvollen | |
Repräsentanz von Frauen sind wir weit entfernt“, befindet sie. Und | |
berichtet von einem deutschen OP-Aufklärungsbogen, auf dem bis 2023 die | |
Klitoris fehlte, das Organ der weiblichen Lust, über die männliche Kollegen | |
nach wie vor erschreckend wenig wüssten. | |
„Offensichtlich ist es für uns Frauen […] überlebenswichtig, medizinisch | |
mitgedacht zu werden und in der Forschung vertreten zu sein“, schreibt | |
Mangler im Vorwort zu ihrem frauenärztlichen Kompendium „Das große | |
Gyn-Buch“, das sich dem weiblichen Körper aus weiblicher Sicht nähert. | |
Mangler setzt sich für eine geschlechtersensible Medizin ein. Erforscht | |
wird dieser Ansatz deutschlandweit bislang nur an einem Institut an der | |
Berliner Charité. Eine Stärkung der geschlechtersensiblen Medizin ist vor | |
dem Hintergrund wirtschaftlicher Sparmaßnahmen und eines gesellschaftlichen | |
Schwenks hin zu „maskulinen Werten“ nicht zu erwarten. | |
Die von vielen Autorinnen zusammengetragenen Erkenntnisse über den Sexismus | |
in der Medizin aber bleiben sichtbar, wenigstens im Buchregal. | |
6 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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