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# taz.de -- Pädophilie und Protestantismus: Diskursgemeinschaft der Täter
> Eine Studie erhellt die Verbindungen von Missbrauchstätern wie Gerold
> Becker und Helmut Kentler zum deutschen Protestantismus.
Bild: Drängende Fragen der Zeit bearbeiten: Impression vom 21. Deutschen Evang…
Sie besetzten im Nachkriegsdeutschland Schlüsselstellen in Bildung,
Wissenschaft und Kultur und führten als linksintellektuelles Establishment
maßgeblich die Bildungsreform der 1960er Jahre an: Die sogenannte
„protestantische Mafia“ bestand aus Männern wie Hellmut Becker, Ernst
Heinrich von Weizsäcker und Georg Picht. Heute kennt man eher ihre Kinder,
leibliche wie die Weizsäcker-Söhne Carl Friedrich und Richard, oder
politische Ziehkinder wie der Bildungsexperte Hartmut von Hentig und dessen
Lebensgefährten Gerold Becker. Becker (1936-2010), Leiter der
Odenwaldschule, wurde um 2010 als Missbrauchstäter entlarvt, später auch
der Hannoveraner Helmut Kentler (1928-2008), der den Missbrauch von Jungen
zum pädagogischen Prinzip erhob.
Sowohl Kentler als auch Becker waren in der Evangelischen Kirche und in der
kirchlichen Jugendarbeit aktiv. Eine neue Untersuchung beleuchtet nun die
Verantwortung des protestantischen Milieus: Uwe Kaminsky,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der
Universität Greifswald, bildet in seiner Studie das langjährige Engagement
von Becker, Hentig und Kentler im Rahmen des Deutschen Evangelischen
Kirchentags ab. Kaminsky studierte neben Akten aus dem Evangelischen
Zentralarchiv in Berlin unter anderem auch den Nachlass von [1][Gerold
Becker] und dessen kirchliche Personalakten.
Skizziert werden die Lebenswege dieser Schlüsselpersonen und ihre
Einbettung in eine protestantische „Diskursgemeinschaft“, die ab den
1960erJahren auf den von Laien getragenen Kirchentagen beträchtlichen
Einfluss genoss: Man stritt über brennende Zeitfragen wie den kirchlichen
Umgang mit Homosexuellen, die vom Tabu zunehmend zum Objekt
paternalistischer Seelsorge wurden – gegen den erbitterten Widerstand
evangelikal-konservativer Kräfte.
Interessant ist, wie Uwe Kaminsky die diskursive Doppelstrategie Gerold
Beckers herausarbeitet: Während der in Göttingen lehrende Pädagoge sich in
Vorträgen und Gremien des Kirchentags moderat gab (seine intime Beziehung
zu Hartmut von Hentig machte er nie öffentlich), offenbarte er in einem
Brief an den fortschrittlich gesinnten Sexualwissenschaftler Willhart
Schlegel seine Sichtweise auf Sexualität: Becker beklagt die
gesellschaftliche und strafrechtliche Kriminalisierung von „Sexualspielen“
zwischen Erwachsenen und Kindern, bei denen Kinder oft die „Anstifter“
seien. Juristische Straflosigkeit hält er für wünschenswert, aber
undurchsetzbar, und deutet an, dass ihm auch die damals aufkommende
„Beat-Bewegung“ in der Befreiung der Sexualität nicht weit genug geht.
Drei Jahre nach diesem Brief, den Kaminsky als „Schlüsseltext“ für Gerold
Beckers pädosexuelle Neigung ansieht, wechselte dieser als Leiter an die
hessische Odenwaldschule. Er hatte, überlegt der Autor, möglicherweise auch
als Missbrauchstäter ein künftiges Betätigungsfeld vor Augen. Erst in den
1990ern engagierte Becker sich wieder stärker beim Kirchentag und wurde
sogar Präsidiumsmitglied, ebenso wie Hartmut von Hentig. Die von beiden in
diversen Kirchentagsforen propagierten Erziehungsideale mit dem zentralen
Verhältnis zwischen Meister und Schüler muten vor den später bekannt
gewordenen Taten Beckers wie ein Menetekel an. Auch das ständig bemühte
Argument der Überwindung von repressiver „schwarzer“ Pädagogik
„relativierte nicht selten eigene Grenzüberschreitungen“, wie Kaminsky
feststellt.
Den Umgang des Kirchentags mit den Vorwürfen gegen Becker ab 1990
kennzeichnet Kaminsky knapp mit mangelnder Wahrnehmung, wenn nicht gar
Ignoranz. Bis zu Beckers Tod 2010 distanzierte sich bis auf einen
Gesamtschulleiter aus dem Ruhrgebiet niemand aus den Gremien und dem Umfeld
des Kirchentags deutlich von dem Missbrauchstäter, der in der kirchlichen
„Bündischen Akademie“ weiter Vorträge hielt.
Ein Bekannter vom Kirchentag bot dem unter Druck geratenen Gerold Becker
seine Hilfe als Gerichtsgutachter an: [2][Helmut Kentler], der erstmals
1979 als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft „Homosexuelle und Kirche (HuK)“
auf den Kirchentag in Nürnberg eingeladen wurde – wogegen Vertreter aus
Bayern wegen seiner „perversen Thesen zur Sexualaufklärung“ scharf
protestierten. Die Konservativen hatten, bei aller Undifferenziertheit
ihrer Kritik, durchaus einen Punkt, meint Kaminsky. So fragte Gerhard
Naujokat, Generalsekretär des Berliner „Weißen Kreuzes“: „Wann wird Ken…
(….) Sexualität von Kindern und mit Kindern für harmlos und gleichwertig
erklären (…)?“
## Das „Kentler-Experiment“ war bekannt
Das hatte Kentler da allerdings bereits: In einem Interview für
„Psychologie heute“ 1979, nachgedruckt im „HuK-Info“, leugnete der
Sexualpädagoge, dass sexueller Missbrauch im Kindesalter Spätfolgen habe
und verwies auf eigene Erfahrungen mit der Unterbringung von
„hospitalismuskranken Jungen“ bei pädosexuellen Pflegevätern – damit ist
der heute unter dem Begriff „Kentler-Experiment“ bekannte
Pflegekinderskandal aus Westberlin gemeint. Dass Kentler vorsichtig genug
war, pädophiliefreundliche Positionen nicht offensiv auf dem Kirchentag zu
vertreten, dürfte ihm seine Mitwirkung als Vortragender bis mindestens 1993
gesichert haben.
Auch wenn der Evangelische Kirchentag bis heute nicht thematisiert hat,
dass in seinem Präsidium Missbrauchstäter waren: Kaminsky sieht in ihm nur
einen „Ermöglichungskontext“, aber kein aktives Vertuschungsnetzwerk. Und
auch keine Beweise für ein Täternetzwerk quer durch die Republik, wie es
Hildesheimer Forscher:innen in einem [3][Bericht über Helmut Kentler]
skizzierten. Kaminsky stellt bilanzierend „Interesselosigkeit an einer
Aufklärung“ fest, was angesichts der 2024 erschienenen
EKD-Missbrauchsstudie ein Armutszeugnis ist für die sich gern dialogfähig
gebenden prostestantischen Kreise.
1 Feb 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Nina Apin
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