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# taz.de -- Im Namen progressiver Pädagogik: Pädophiler Netzwerker
> Ein Ring um den Sexualpädagogen Helmut Kentler missbrauchte jahrelang
> Kinder und Jugendliche. Weit über Berlin hinaus, wie ein neuer Bericht
> zeigt.
Bild: Ein neuer Bericht über das Netzwerk um den Sexualpädagogen Helmut Kentl…
Der Jugendliche, der oft die Schule schwänzt, wächst seiner
alleinerziehenden Mutter über den Kopf. Das Berliner Bezirksamt, das die
Familie betreut, schickt den Jungen nach Lüneburg, zu einem Pflegevater.
Doch der erweist sich als pädagogisch uninteressiert, dafür wird er schnell
übergriffig: Erzwungene gemeinsame Saunabesuche, Küsse auf den Mund,
„Gegrabsche“ – der Jugendliche fühlt sich zunehmend unwohl.
Von seinem Pflegebruder, auch er ein „Jugendamtskind“ aus Westberlin,
erfährt er, dass dieser sexuelle Übergriffe erlitten hat. Als er in einer
Schublade kinderpornografisches Material entdeckt, organisiert der
Jugendliche seine Flucht. Er erpresst den Pflegevater mit den Bildern – und
erreicht, dass er mit 16 Jahren allein auf eine westdeutsche Insel ziehen
darf. Das Jugendamt nickt alles ab, so wie es dem Pflegevater alles zu
glauben scheint – auch, dass es pädagogisch wichtig sei, seine Pflegekinder
vom Kontakt mit ihren Herkunftsfamilien abzuschirmen.
Die Geschichte des Jugendlichen ist Anfang der 1980er Jahre passiert. Ein
Interview mit dem Betroffenen als Erwachsener ist Teil eines Berichts,
[1][der Ende Februar in Berlin präsentiert wurde]. Forscher:innen der
Universität Hildesheim haben darin das Wirken des Sexualpädagogen Helmut
Kentler in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe untersucht. Wobei „Wirken“
eine freundliche Umschreibung ist für Kentlers Unterwanderung
wissenschaftlicher Institutionen, Gremien und Behörden – mit dem Ziel,
Pädosexualität gesellschaftsfähig zu machen.
Helmut Kentler (1928-2008), Leiter des Pädagogischen Zentrums in Berlin und
später Professor an der Universität Hannover, war zu Lebzeiten ein Star der
Pädagogikszene. Erst später erfuhr eine breitere Öffentlichkeit von seinem
„pädagogischen Experiment“: in den frühen 1970ern hatte er Jugendliche aus
der Stricherszene am Bahnhof Zoo bei mindestens drei (einschlägig
vorbestraften) pädosexuellen Pflegevätern untergebracht. Einer davon, das
weiß man heute, war Fritz H.
Kentlers Grundthese dabei: Da sie Interesse an einer sexuellen Beziehung
mit den Jungen hätten, würden sich die Pädosexuellen besonders viel Mühe
mit ihnen geben. Die Pflegestellen wurden unter der Zuständigkeit und,
davon muss man ausgehen, mit dem Wissen zumindest einiger Verantwortlicher
des zuständigen Jugendamtes eingerichtet.
## Unkonventionelle Ansätze waren in Mode
In den folgenden Jahrzehnten verstand es Kentler, solche sexuellen
Ausbeutungsverhältnisse als progressive Pädagogik zu verkaufen.
Unkonventionelle Ansätze in der Jugendhilfe waren in Mode und Kentler besaß
Renommee, unter anderem durch sein Engagement in der evangelischen
Jugendarbeit.
2013 wandten sich zwei ehemalige Pflegekinder, die von 1989 bis 2003 in der
Pflegestelle von Fritz H. aufwuchsen, an die Öffentlichkeit ([2][die taz
berichtete] als erste Zeitung über den Fall). Sie forderten Entschädigung
vom Land Berlin. Ihre Berichte über sexuelle, körperliche und seelische
Misshandlung durch Fritz H. schockierten.
Kentler, der mit Fritz H. persönlich befreundet war, hatte die Fachaufsicht
über dessen Pflegestelle und verhinderte nachgewiesenermaßen, dass die
misshandelten Zöglinge Hilfe bekamen. Fragen nach Schuld und Verantwortung
kamen auf. Die Amtsnachfolger*innen der damaligen Westberliner
SPD-Senatsverwaltung für Jugend beauftragten ein Forscher*innenteam aus
Göttingen mit der Aufarbeitung.
Bereits [3][der erste Bericht] von 2016 deutete darauf hin, dass Kentlers
pädosexuelle „Experimente“ intensiver und langlebiger waren als gedacht:
Die Pflegestelle von Fritz H. etwa bestand bis 2003. Und es gab weitere
Verbindungen über Westberlin hinaus.
Vom Berliner Jugendamt betreute Kinder wurden regelmäßig an die hessische
Odenwaldschule geschickt, in die Familie des pädosexuellen Schulleiters
Gerold Becker. Dieser hatte mit Kentler am Pädagogischen Zentrum in
Göttingen studiert, man war befreundet. Mit zum Freundeskreis gehörte auch
Martin Bonhoeffer, im Landesjugendamt Berlin bis 1976 zuständig für das
Heimkinderwesen.
## Ein ganzes Netzwerk des Missbrauchs
Ein [4][zweites wissenschaftliches Gutachten], diesmal aus Hildesheim,
deckte [5][noch mehr Querverbindungen nach Westdeutschland auf]. Etwa nach
Lüneburg, wo beim Pädagogikprofessor Herbert E. Colla-Müller eine
„Sonderpflegestelle“ unter Fachaufsicht des Bezirksamts Berlin-Kreuzberg
eingerichtet wurde – der Betroffene, der sich bei den Forscher*innen
meldete, ist der eingangs erwähnte Jugendliche, der auf die Insel floh.
Betroffenen wie ihm und dem Fleiß der Forscher*innen, die sich tief in
Fallakten und Institutsarchive gegraben haben, ist zu verdanken, dass der
neue, dritte Bericht aus Hildesheim Teile eines ganzen Netzwerks sichtbar
macht, in das viele, [6][seinerzeit als besonders fortschrittlich geltende
pädagogische Einrichtungen der alten Bundesrepublik] verstrickt sind.
Vom Hauptkinderheim Westberlin und dem Haus Tegeler See, laut den
Forscher*innen Anbahnungspunkte für Pädosexuelle, [7][über das
Hannoveraner Stephansstift] und das Haus auf der Hufe in Göttingen bis zur
Odenwaldschule und den Therapeutischen Wohngruppen in Tübingen oder einer,
leider nicht näher benannten evangelischen Kirchengemeinde in
Westdeutschland.
Überall lehrte, beriet, leitete dieselbe Handvoll Vertrauter Helmut
Kentlers: Martin Bonhoeffer (Berliner Senatsverwaltung, Haus auf der Hufe),
Peter Widemann (er folgte Bonhoeffer als enger Mitarbeiter von Berlin nach
Tübingen), Herbert E. Colla-Müller (Göttingen/Lüneburg) oder Hartmut von
Hentig (Göttingen, er war Gerold Beckers Lebensgefährte).
## Sexualisierte Gewalt in Kauf genommen
Sie alle verband nicht nur die Begeisterung für pädagogische Reformen,
sondern ein gemeinsames Ziel: „Die Akteure vereinnahmten die Bewegung der
Heimreform für eigene Zwecke, die fachliche Komponente der Heimerziehung
war dabei nachrangig. Sexualisierte Gewalt wurde dabei in Kauf genommen
sowie gerechtfertigt und junge Menschen als Objekte der Heimerziehung
instrumentalisiert“, schreiben die Wissenschaftler*innen.
Der Ball liegt jetzt bei den Bundesländern Niedersachsen, Baden-Württemberg
und Hessen. Sie müssen nun ihren Teil der wissenschaftlichen Aufarbeitung
leisten. Berlins Senatorin für Jugend will im Mai auf der Familienkonferenz
der Länder in Bremen dafür eintreten.
Denn spätestens jetzt ist klar: [8][Die Causa „Kentler-Experiment“ ist
nicht vorbei] – es dürfte noch viel mehr Betroffene geben. Mehr noch: Die
[9][in progressiven Kreisen gern verklärten westdeutschen
(Heim-)Erziehungsreformen] müssen allesamt auf den Prüfstand – sofern die
betroffenen wissenschaftlichen Institutionen bereit sind, ihre Beteiligung
an dem „Pädo-Pädagogennetzwerk“ zu untersuchen – und Verantwortung für…
zu übernehmen, was die Forscher*innen aus Hildesheim treffend
„Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung“ nennen.
19 Mar 2024
## LINKS
[1] /Ergebnisbericht-zum-Fall-Kentler/!5994181
[2] /Modellversuch-im-alten-Westberlin/!5059153
[3] /Neues-im-Fall-Kentler/!5638757
[4] /Abschlussbericht-zum-Fall-Kentler/!5691740
[5] /Pflegekinder-an-Paedophile-vermittelt/!5692887
[6] /Essay-Schwulenbewegung-und-Paedosexualitaet/!5127501
[7] /Skandal-um-paedophilen-Sozialpaedagogen/!5615528
[8] /Ermittlungen-im-Kentler-Fall/!5621447
[9] /Paedo-Aktivisten-im-linken-Mileu/!5143954
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
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