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# taz.de -- Auf der Suche nach der Wahrheit: Der Lüge auf der Spur
> Bei Vorwürfen von sexualisierter Gewalt steht vor Gericht oft Aussage
> gegen Aussage. Kann ein Lügendetektor helfen?
Bild: Elektroden sollen die Signale des Körpers messen: Ein Lügendetektor in …
Die Zeiger der Maschine zittern. Wie dünne Ärmchen in der Kälte malen sie
Wellen auf einen Bogen aus Papier. Wellen, wie man sie von einem
Wehenschreiber kennt oder von einem EKG. Von Geräten also, die medizinische
Gewissheit geben: Ein Baby kommt zur Welt oder ein Herz schlägt zu schnell.
Auch die Wellen, die diese Maschine schreibt, sollen Gewissheit geben: Hier
lügt jemand. Oder: Hier sagt jemand die Wahrheit.
Das Gerät ist ein Polygraf. „Lügendetektor“, sagt man landläufig, aber d…
stimmt nicht ganz. Denn dieses Gerät weist keine Lügen nach, es misst
körperliche Erregungen. Den Blutdruck, die Schweißbildung, den Atem, die
Blutverteilung. Ob eine Lüge die Erregung erzeugt hat, muss ein Mensch
interpretieren.
Gisela Klein sagt, dass sie das kann. Klein ist Rechtspsychologin aus Köln.
In einem Video präsentiert sie ihr Gerät mit den langen Zeigern. Sie ist
die führende Expertin für Polygrafie in Deutschland. Wenn in einem
deutschen Gericht ein solcher Test durchgeführt wird, dann meistens von
Gisela Klein.
Polygrafen oder Lügendetektoren kennt man vor allem aus Filmen. Die Polizei
in den USA setzt sie ein, und auch amerikanische Firmen bei
Bewerbungsgesprächen. Sie geben ein verlockendes Versprechen: dass man mit
ihrer Hilfe Verbrecher überführen kann, Angeklagte belasten – oder
entlasten.
Doch das höchste deutsche Gericht, der Bundesgerichtshof, hat den
Polygrafen für „völlig ungeeignet“ erklärt, weil seine Verlässlichkeit
wissenschaftlich umstritten ist. Sein Einsatz vor Gericht ist nicht
verboten, aber an Bedingungen geknüpft. Die meisten Gerichte in Deutschland
folgen diesem Urteil. Nur wenige haben den Polygrafen in den letzten Jahren
eingesetzt. Die meisten dieser Gerichte befinden sich in Sachsen, darunter
die Amtsgerichte in Dresden, Bautzen, Chemnitz. Aber auch am Amtsgericht
Schwäbisch Hall und am Oberlandesgericht Hamm wurden Polygrafentests
hinzugezogen.
Zur Anwendung kommt der Polygraf in Straf- und Zivilverfahren. Meistens
geht es um Vorwürfe, die mit sexualisierter Gewalt zu tun haben:
Vergewaltigung, Kindesmissbrauch. Verfahren, in denen es selten Beweise
gibt, wo Aussage gegen Aussage steht, oder wo Kinder als mutmaßliche Opfer
manchmal so klein sind, dass deren Aussagen schwer zu verwerten sind.
Gisela Klein sagt, es gebe kein besseres Instrument als den Polygrafen, um
Kinder zu schützen. Dirk Hertle, einer der Amtsrichter in Bautzen, sagt, er
schwöre auf den Polygrafen. Das klingt überzeugend.
Wäre da nicht die Geschichte von Sabine Teske.
Teske hat ihren jahrelangen Kampf für ihr Kind in einem farbigen
Leitz-Ordner festgehalten. Darin hat sie Hunderte Seiten Dokumente
abgeheftet: Briefe vom Gericht, Gutachten von Psycholog*innen, ärztliche
Befunde – und das Ergebnis ihrer polygrafischen Untersuchung.
Sabine Teske heißt anders. Sie lebt irgendwo in Deutschland. Sie will ihr
Kind schützen, sein und ihr Name sollen nicht öffentlich werden. Aber Teske
will ihre Geschichte erzählen, weil sie anderen Frauen Mut machen will.
Die taz hat mit mehreren Frauen gesprochen, die sich in einem laufenden
Sorgerechtsstreit einem Polygrafentest unterzogen haben. Die Konstellation
ist oft ähnlich: Die Eltern trennen sich, das Kind lebt abwechselnd bei der
Mutter und dem Vater. Und dann kommt bei der Mutter der Verdacht auf, der
Vater missbrauche das Kind. Der Sorgerechtsstreit landet vor Gericht, das
Gericht schlägt einen Polygrafentest vor.
Keine der Frauen will unter ihrem richtigen Namen sprechen, keine will,
dass Details ihrer Geschichten öffentlich werden – außer Sabine Teske. Die
Frauen haben Angst, sie könnten das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren,
wenn sie die Gerichte kritisieren. Eine Frau sagt: „Würde ich woanders
wohnen, in einem anderen Gerichtsbezirk, wäre mir das erspart geblieben.“
Sabine Teske sagt: „Ich würde diesen Test nicht noch einmal machen.“ Dabei
war sie froh, als vor einigen Jahren die Einladung zum Polygrafentest kam.
Seit Monaten hegte sie damals den Verdacht, ihr Ehemann, von dem sie
getrennt lebte, würde das gemeinsame Kind missbrauchen. Ihr Kind hatte
Handlungen des Vaters beschrieben, die Sabine Teske als Grenzüberschreitung
interpretierte. Ihr Kind, das zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein war, habe
nicht zum Vater gehen wollen. Es habe geschrien, sei aggressiv geworden,
wenn ein Besuch beim Vater angestanden hätte. So erinnert sich Sabine
Teske.
Teske hat Anzeige bei der Polizei erstattet. Ihr Kind wurde in der
Rechtsmedizin untersucht, nackt, auch im Genitalbereich. „Eine Tortur“, sei
das gewesen, sagt Teske – ohne Ergebnis. Spuren des Missbrauchs fanden die
Mediziner*innen nicht. Die Polizei durchsuchte außerdem das Haus des
Vaters und fand Gegenstände, die auf einen Missbrauch hindeuten könnten –
allerdings waren die DNA-Spuren nicht eindeutig. Der Vater äußerte sich
nicht zu den Vorwürfen. Die Verfahren wurden eingestellt.
Dann erhalten Teske und ihr früherer Ehemann die Einladung zum
Polygrafentest, mit Stempel vom Amtsgericht. Darin heißt es: „Zum einen
geht es um die Frage, ob der Verdacht begründet ist bzw. (soweit
unbegründet) durch die Mutter böswillig aufgebracht wurde […].“
Böswillig?, denkt Teske. Sie doch nicht. „Ich habe nichts zu verbergen“,
sagt sie noch heute. Also willigte sie ein.
Wenn Gerichte einen Polygrafentest anfordern, reist meist Gisela Klein an.
Sie ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie und Sachverständige in Straf-
und Familiensachen. In Amerika hat sie sich im Jahr 1996 für die Arbeit mit
dem Polygrafen zertifizieren lassen, sie ist Mitglied der American
Polygraph Association, dem amerikanischen Berufsverband der
Polygrafen-Gutachter*innen.
Rund 1.500 polygrafische Untersuchungen hat sie bis heute durchgeführt, mit
einer Maschine, an der die Digitalisierung völlig vorbeigegangen ist. Sie
arbeitet noch mit dem Gerät, an dem sie vor 30 Jahren gelernt hat, Modell
„The Statesman“ von der Firma Lafayette aus Indiana.
Ihr Polygraf steckt in einem Koffer. Seine Oberfläche schimmert golden,
Rädchen und Knöpfe sind an ihm befestigt. Über Kabel wird die Testperson am
Arm und am Brustkorb mit dem Gerät verbunden.
Während der Untersuchung ist Gisela Klein allein mit den Befragten. Sie
erzählt davon am Telefon: Das „A und O“ sei es, in einer störungsfreien
Situation eine ruhige und sachliche Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Nur so
ließen sich die unwillkürlichen körperlichen Reaktionen, die eine Person
auf die Testfragen zeigt und die dann vom Polygrafen aufgezeichnet werden,
eindeutig interpretieren.
Fragt man Gisela Klein, wieso ausgerechnet der Polygraf in
Sorgerechtsstreitigkeiten geeignet ist, dann argumentiert sie mit dem
Kindeswohl. „Wenn Kinder in der Rechtsmedizin gynäkologisch untersucht
werden, ist das furchtbar. Wieso verlassen wir uns nicht lieber auf eine
Methode, die die Kinder aus dem Spiel lässt?“ Schließlich wisse niemand
besser als die Beschuldigten selbst, ob ihr Verhalten sexuell motiviert war
oder nicht.
Nur: Was, wenn die Beschuldigten ihr Handeln gar nicht anstößig finden?
Wenn sie kein Unrechtsbewusstsein haben? Um das zu erörtern, sagt Gisela
Klein, kläre sie im Vorgespräch mit den zu untersuchenden Personen, ob sie
es und gegebenenfalls was sie getan haben. In dem Vorgespräch erfahren die
Testpersonen auch, welche Fragen sie erwarten, wenn sie an den Polygrafen
angeschlossen sind.
Gisela Klein referiert Studien, die ihrer Methode eine hohe Verlässlichkeit
attestieren. Sie zählt auf, warum sich der Bundesgerichtshof mit seiner
Ablehnung des Polygrafen getäuscht habe. Aber bei kritischen Fragen weicht
sie aus. Welche Gerichte beauftragen sie regelmäßig? Viele, sagt sie.
Welche genau, sagt sie nicht. Wie viel kostet ein Polygrafentest bei ihr?
„Das kommt ganz darauf an“, sagt sie und bleibt unkonkret. Nach
taz-Recherchen kostet ein durchschnittlicher Test etwa 7.000 bis 8.000
Euro. In Familienrechtsverfahren zahlen das in der Regel die Eltern.
Es gibt zwei Verfahren für Polygrafentests – den Tatwissens- und den
Vergleichsfragentest. Der Tatwissenstest behandelt konkrete Fragen zu einer
Tat: War die Jacke des Opfers rot? War sie blau? Die Annahme ist, dass ein
Täter bei der korrekten Antwort körperlich stärker reagiert, während der zu
Unrecht Beschuldigte auf alle Antworten gleichbleibend reagiert. Der
Tatwissenstest eignet sich eher zur Belastung als zur Entlastung von
Verdächtigten und kommt darum für deutsche Gerichte nicht infrage.
Deutsche Gerichte und auch Gisela Klein arbeiten mit der
Vergleichsfragenmethode. Dabei wechseln sich konkrete Fragen zur Tat ab mit
solchen, die mit dem Vorwurf nichts zu tun haben, aber auf einem ähnlichen
Normengebiet liegen. So eine Vergleichsfrage könnte in etwa lauten: Haben
Sie schon einmal gelogen?
„Indem die Stärke der unwillkürlichen körperlichen Reaktionen auf die
tatbezogenen Fragen und auf die Vergleichsfragen miteinander verglichen
wird, prüfen wir, welche Art von Fragen mehrheitlich die stärkeren
Reaktionen hervorruft. Das wird gemessen und aufaddiert – so komme ich zu
einem quantifizierbaren Ergebnis,“ sagt Gisela Klein.
Sabine Teske erhält das Ergebnis ihrer polygrafischen Untersuchung in einem
30-seitigen Gutachten. Darin findet sich eine detaillierte Analyse der
Antworten, die Teske in dem mehr als dreistündigen Test gegeben hat. Es
geht um ihre Kindheit, ihre Familie, ihre Beziehungen. Teske sagt, es sei
ihr schwer gefallen, die zum Teil sehr intimen Fragen zu beantworten. Sie
sei extrem nervös gewesen. „Ich fühlte mich absolut unter Druck. Ich kam
mir vor wie eine Verbrecherin.“
Mit dem eigentlichen Missbrauchsvorwurf haben sich im Test von Sabine Teske
und ihrem Ex-Ehemann drei Fragen beschäftigt. Sie gleichen den Fragen aus
anderen Verfahren, die die taz einsehen konnte. Und auch das Ergebnis des
Tests von Sabine Teske und ihrem Ex-Mann ging so aus wie vergleichbare
Verfahren.
Teskes Ex-Mann wurde unter anderem gefragt, ob er sexuelle Handlungen an
seinem Kind durchgeführt habe. Nein, hat er geantwortet – und die
Auswertung des Polygrafentests ergab, dass das die Wahrheit war. Sabine
Teske wurde gefragt, ob sie den Missbrauchsverdacht böswillig erhoben habe.
Auch sie antwortete mit Nein, auch hier hat der Test ergeben, dass dies die
Wahrheit war.
Am Ende der polygrafischen Untersuchung von Sabine Teske und ihrem Ex-Mann
lautet also das Ergebnis: Beide sagen die Wahrheit. Der Vater habe sein
Kind nicht missbraucht, die Mutter habe ihn nicht aus Boshaftigkeit
beschuldigt. Es ist ein Befund, der die nächsten Jahre Teskes und ihres
Kinds prägen wird.
Nach dem Polygrafentest entscheidet das Gericht: Der Vater darf sein Kind
weiterhin sehen.
Wenn Eltern sich scheiden lassen und über gemeinsame Kinder entscheiden
müssen, kann es schnell hässlich werden. Rund 137.000 Ehen wurden im Jahr
2022 geschieden, in etwa der Hälfte dieser Ehen lebten Kinder. Während die
Zahl der Scheidungen abnimmt, nimmt die der Sorgerechtsstreitigkeiten zu.
Expert*innen schätzen, dass rund 5 bis 10 Prozent dieser Fälle so sehr
eskalieren, dass sie zu „hochkonflikthaften Trennungen“ führen. Nicht immer
geht es dabei um Missbrauchsvorwürfe, aber häufig schwingen sie mit.
Familienrecht funktioniert anders als Strafrecht. Es gilt nicht „Im Zweifel
für den Angeklagten“, das Kindeswohl steht im Vordergrund. Das zu wahren,
ist die oberste Aufgabe der Gerichte. Aber solange ein Sorgerechtsstreit
ohne klare Hinweise auf ein Verbrechen bleibt, hat der Familienrichter
keine Polizei, keine Staatsanwaltschaft, die etwa einem Missbrauchsvorwurf
nachgeht.
Kindeswohl bedeutet, dass die Interessen des Kindes über denen der anderen
Beteiligten stehen. Aber eine Definition, was das konkret bedeutet, kennt
das deutsche Recht nicht. Es hat Prinzipien aufgestellt – etwa, dass Kinder
ein Recht haben auf körperliche und seelische Unversehrtheit und auf
stabile Beziehungen. Sie sollen zu selbstständigen Personen heranwachsen
können. Und sie haben [1][ein Recht darauf, dass ihr Wille zählt]. Ein
Richter muss in jedem Fall selbst bewerten, was dem Kindeswohl dient.
Für Familienrechtler*innen sind Missbrauchs- und Gewaltvorwürfe
immer verheerend. Weil sie oft schwer zu beweisen sind. Und weil es
Vorwürfe sind, mit denen man dem Partner am meisten schadet.
Andre Maier ist Familienrichter am Amtsgericht Bautzen. Er war nach eigenen
Angaben der erste Richter, der einen Polygrafen in einem sächsischen
Gericht einsetzte. Im Jahr 2011 war das. Zwei Eltern stritten um das
Sorgerecht für ihre Einjährige, die Mutter verdächtigte den Vater, die
Tochter zu missbrauchen. „Wenn so ein Vorwurf im Raum steht, ist die
Beziehung meistens total kaputt“, sagt er. Die Eltern könnten dann nicht
mehr miteinander sprechen, schnell komme es zu gegenseitigem Misstrauen.
In der Regel befriede der Polygrafentest das Verhältnis zwischen den
Eltern: „Wenn Vater und Mutter schwarz auf weiß haben, dass der andere
nicht lügt, hilft das beiden Seiten.“
Ein Familienrichter hat verschiedene Möglichkeiten, einem
Missbrauchsvorwurf nachzugehen. Er hört die Eltern an, und das Kind, wenn
es alt genug ist. Er kann medizinische oder psychologische Gutachten
beauftragen. Und er kann die Glaubwürdigkeit der Aussagen von einem
Sachverständigen begutachten lassen. All diese Verfahren sind gängig im
Familiengericht. Fehlerfrei sind sie nicht.
Maier stört es, dass viele seiner Richterkolleg*innen den
aussagepsychologischen Gutachten so viel Bedeutung zumessen. Darin bewertet
ein Gutachter, ob die Aussage, die beispielsweise ein Kind bei der Polizei
gemacht hat, glaubhaft ist. „Der Erfolg dieser Methode hängt stark vom
Ausgangsmaterial ab“, sagt Maier. „Wenn eine Polizistin nicht darin
geschult ist, ein Kind so zu vernehmen, dass es ohne Druck erzählt, dann
können sie mit dieser Aussage kaum arbeiten.“
Maier hält daher den Polygrafen für mindestens so aussagekräftig wie die
Glaubwürdigkeitsgutachten. „Am Ende muss ich als Richter sagen können: Ich
habe nach bestem Wissen und Gewissen alles getan, um eine Situation sicher
einschätzen zu können.“ Diese Gewissheit, sagt Maier, gebe ihm der
Polygraf.
Die Frage, ob Polygrafen vor deutschen Gerichten zulässig sind, ist durch
alle Instanzen gegangen. Im Jahr 1998 hat sich der Bundesgerichtshof sehr
gründlich damit beschäftigt. Vier Experten wurden angehört, Gegner wie
Befürworter, darunter auch der Mentor von Gisela Klein, der
Polygrafenverfechter Professor Udo Undeutsch.
Der BGH kam schließlich zu seinem klaren Ergebnis: „völlig ungeeignet“. D…
Gericht begründete das vor allem mit medizinischen und psychologischen
Forschungsergebnissen. Es sei demnach nicht möglich, eindeutige
Zusammenhänge zwischen emotionalen Zuständen eines Menschen und
spezifischen Reaktionsmustern im Nervensystem zu erkennen.
Kurz gesagt: Wer lügt, bekommt nicht unbedingt einen höheren Blutdruck. Und
wer einen hohen Blutdruck bekommt, muss nicht zwangsläufig lügen. Man kann
auch Angst haben, nervös sein, wütend oder schockiert. „Die verbreitete
Bezeichnung des Polygrafen als ‚Lügendetektor‘ entbehrt daher jeder
Grundlage“, schrieben die Richter des Bundesgerichtshofs 1998.
Das Urteil ist 26 Jahre alt und auch heute noch hält Max Steller an seiner
Einschätzung von damals fest. Steller ist Aussagepsychologe und war bis zu
seiner Emeritierung im Jahr 2009 Professor für Forensische Psychologie an
der FU Berlin. Er ist einer der Experten, die für den Bundesgerichtshof die
Verlässlichkeit von Polygrafen begutachtet haben. Steller kritisiert vor
allem den Vergleichsfragenansatz: Solche Glaubwürdigkeitsgutachten glichen
dem „Kaffeesatzlesen“, schreibt er auf taz-Anfrage.
Steller hat deutsche Gerichtsurteile nach Polygrafentests ausgewertet und
kam zu dem Schluss, dass die Vergleichsfragen in einigen Fällen zu stark,
in anderen dagegen zu schwach gewesen seien. Beides führe für ihn dazu,
dass die gemessene körperliche Erregung nicht zuverlässig eingeschätzt
werden könne. Methodisch und ethisch sei diese Art der
Glaubwürdigkeitsprüfung nicht zu verantworten, schreibt Steller der taz.
Der BGH hat sein Urteil von 1998 in den folgenden Jahren immer wieder
bestätigt, das Bundesverwaltungsgericht hat es auch für
Disziplinarverfahren bekräftigt.
Eine Hintertür hat der BGH dennoch offengelassen: Nimmt ein Angeklagter
freiwillig und zu seiner Entlastung an einer polygrafischen Untersuchung
teil, dann ist sie zulässig. Der Test ist also vor deutschen Gerichten
nicht verboten, er darf aber nicht als einziges Indiz zur Urteilsfindung
verwertet werden.
Als der BGH entschied, den Polygrafen als Beweismittel abzulehnen, lagen
ihm zwei Fälle zugrunde. In beiden ging es um Kindesmissbrauch, beide waren
Strafverfahren. Die Frage, ob Polygrafen in Familienrechtsverfahren
zulässig sind, haben Oberlandesgerichte unterschiedlich bewertet: Das
Berliner Kammergericht lehnte Polygrafen im Jahr 2010 auch für
Familienrechtsstreitigkeiten ab. Das Oberlandesgericht Dresden ließ sie
2013 ausdrücklich zu.
Wie oft der Polygraf von deutschen Gerichten eingesetzt wird, lässt sich
schwer sagen. Am Oberlandesgericht Hamm war es ein Fall, am Amtsgericht
Schwäbisch Hall waren es zwei Fälle. An sächsischen Gerichten waren es mehr
als 40 Verfahren, viele davon in Bautzen. An seinem Familiengericht seien
es rund zwei bis drei Fälle pro Jahr, schätzt der Richter Andre Maier.
Dazu kommen vier Strafprozesse, in denen Maiers Kollege Dirk Hertle den
Polygrafen eingesetzt hat. In seinen Strafrechtsurteilen bezieht sich
Hertle seitenlang auf den Test. Dennoch sagen er und sein Kollege Maier,
sie bauten ihre Urteile nicht ausschließlich auf den Polygrafen auf,
sondern nutzten ihn als ein Indiz unter vielen. Den beiden ist außerdem
wichtig zu betonen, dass sie den Polygrafen nur mit dem Einverständnis der
Betroffenen einsetzten, um denen die Möglichkeit zu geben, sich zu
entlasten.
Andre Maier ist seit 25 Jahren Familienrichter. Er hat Fortbildungen zur
Entwicklungspsychologie von Kindern besucht, hat an der Universität Ulm
einen Onlinekurs zum Thema absolviert. Er kann aus dem Stand
Missbrauchsprozesse von anderen deutschen Gerichten nennen, bei denen
Angeklagte zu Unrecht verurteilt wurden.
Maier ärgert es, dass die Mehrzahl der deutschen Richter*innen eher dem
BGH-Urteil folgt, als sich mit der Rechtspraxis zum Beispiel in Israel oder
den USA zu beschäftigen, wo Polygrafen teilweise zugelassen sind.
Allerdings ist deren Einsatz auch in diesen Ländern umstritten. Der
Berufsverband der Psycholog*innen in den USA, die American
Psychological Association, hält Polygrafen für unzulässig: Laborstudien,
die den Erfolg von Polygrafen nachweisen sollen, könnten nicht in die
Wirklichkeit im Gerichtssaal übertragen werden. Dem hält die American
Polygraph Association, der Berufsverband der Polygrafengutachter, dem auch
die Kölner Psychologin Gisela Klein angehört, entgegen, dass ihre
Mitglieder in 90 Prozent der Fälle Lügen zuverlässig entdecken.
In den USA ist mehr zum Polygrafen geforscht worden als in Deutschland. Der
nationale Forschungsrat, das National Research Council, wertete 2003 Labor-
und Feldstudien aus und kam zu dem Ergebnis, dass Lügen durch
Kontrollfragentests mit einer „überzufälligen“ Trefferquote durchaus
entdeckt werden können. Andere Studien fanden Trefferquoten von 71 und 80
Prozent.
Der deutsche Jurist Johannes Makepeace hat im vergangenen Jahr die
Studienlage zum Polygrafen ausgewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass die
Ergebnisse vieler Studien trotz methodischer Unterschiede weitgehend
übereinstimmen: Schuldige ließen sich mit neunzigprozentiger
Wahrscheinlichkeit entlarven, allerdings gebe es eine Neigung, Aussagen
Unschuldiger schneller als wahrheitswidrig zu deklarieren.
Da der Polygraf nur zur Entlastung, nicht zur Belastung Verdächtiger
eingesetzt wird, sieht Makepeace darin aber kein größeres Problem. Der
Anwalt kann deswegen „keine 'völlige Ungeeignetheit’“ im Polygrafen
erkennen. Es komme auf das richtige Formulieren der Vergleichsfragen an.
Auch wenn es in US-amerikanischen Filmen manchmal anders aussieht, spielen
Polygrafen in Gerichtsverfahren in den USA nur selten eine Rolle. Das
oberste US-Gericht, der Supreme Court, hat Zweifel daran geäußert, dass
Polygrafen verlässliche Ergebnisse ausspucken. Es ist den Bundesstaaten
überlassen, ob sie Polygrafen einsetzen oder nicht. Und nicht einmal die
Hälfte lässt sie in Gerichtsverfahren zu.
Sabine Teske kommt nach dem Ergebnis ihres Polygrafentests nicht zur Ruhe.
Weil der Test ergeben hat, dass der Vater das Kind nicht missbraucht habe,
ordnet das Gericht an, dass das Kind weiter den Vater besuchen soll. Doch
nach den Besuchen beim Vater habe das Kind verstört gewirkt, erzählt Teske.
Sie beschließt, sich Hilfe von Therapeutinnen, Ärzten, Beratungsstellen zu
holen. Was die feststellen, lässt sich in dem Ordner von Sabine Teske
nachlesen.
Die Therapeutin des Kindes hält auf einem Video fest, wie das Kind
sexualisierte Szenen mit Puppen nachspielt. Wie es erzählt, der Vater habe
es im Genitalbereich angefasst. Die Therapeutin stellt eine
Sprachverzögerung, Schlaf- und Bindungsstörungen bei dem Kind fest und
schreibt, das deute auf mehrfache Traumata hin. Auch die Logopädin
schreibt, das Kind spiele sexuelle Handlungen an Puppen nach und spreche
über seinen Vater.
Der Kinderarzt findet zweimal hintereinander Keime in den Genitalien des
Kindes. Er meldet das ans Jugendamt: Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung.
Mitarbeiter einer Kinderhilfeeinrichtung schildern, das Kind wirke
aggressiv und aufgewühlt, wenn es von Begegnungen mit dem Vater
zurückkomme. Sie schreiben, dem Kind und der Mutter solle „uneingeschränkte
Glaubwürdigkeit“ geschenkt werden.
In keinem dieser Dokumente steht: Dieses Kind ist missbraucht worden. Aber
stets schwingt der Verdacht mit. Es sind Dutzende Seiten, die Zweifel
aufkommen lassen, ob das, was der Polygraf gemessen hat, wirklich stimmt.
Und daran, ob das Testergebnis das Einzige sein sollte, was in diesem Fall
für das Kindeswohl zählt.
Ein Jahr nach dem Polygrafentest fällt die Entscheidung: Der Vater darf das
Kind vorerst nun doch nicht mehr sehen.
An den meisten Sorgerechtsstreitigkeiten sind nicht nur Gerichte, sondern
auch Jugendämter beteiligt. Viele von ihnen sind überlastet: Fachkräfte
fehlen, Mitarbeiter*innen haben kaum Zeit, ihre Fälle zu betreuen. In
Bautzen, wo das Amtsgericht regelmäßig den Polygrafen einsetzt, geschieht
das auch mit dem Wissen des Jugendamtes. Ein persönliches Gespräch mit der
taz lehnt die Sprecherin ab, unsere Fragen werden nur schriftlich
beantwortet. Dies sei dem „aktuellen Arbeitsaufkommen im Bereich der
Trennungs- und Scheidungsberatung“ geschuldet.
Eine Empfehlung zum Polygrafentest würden die Mitarbeiter dort nicht geben,
schreibt die Sprecherin. Das Jugendamt beobachte, dass die Beschuldigten
dem Testverfahren in der Regel zustimmen. Klagen gegen Entscheidungen, die
auf einem Polygrafentest beruhen, seien dem Amt nicht bekannt. Auch habe es
bisher keinen Fall gegeben, der sich gegen das Wohl des Kindes gerichtet
hätte.
Anders sehen das Opferhilfeeinrichtungen. Sie stehen dem Einsatz des
Polygrafen sehr kritisch gegenüber. Wenn eine Frau zu ihr komme und von der
Einladung zum Test erzähle, dann wisse sie nicht, was sie ihr raten solle,
sagt im vergangenen Herbst eine Person, die in einer Beratungsstelle einer
sächsischen Stadt arbeitet. Ihren Namen möchte sie nicht veröffentlicht
sehen, sie fürchtet den Gegenwind.
An der Wand hängen Infoplakate für Missbrauchsopfer. Sie richten sich an
Frauen, Kinder und an Männer, die zu Hause Gewalt erfahren. „Wir erleben
hier immer wieder, was der Polygrafentest mit den Müttern macht: Sie sind
hochverunsichert, weil das Verfahren so umstritten ist“, erzählt die
Person. „Ich kann nicht verstehen, wieso man bei einem so sensiblen Vorwurf
wie sexualisierter Missbrauch ein so umstrittenes Verfahren einsetzt.“
Auch wenn der Test freiwillig sei, fühlten sich die Frauen nicht wirklich
frei in ihrer Entscheidung für oder gegen den Test: Würden sie den Test
ablehnen, müssten sie fürchten, dass ihnen das zum Nachteil gereichen
werde. „Die Frauen befinden sich in einem Dilemma.“
Die Berater*innen stellen den Einsatz des Polygrafen aus fachlicher
Sicht infrage. Im Jahr 2017 verfassten sechs sächsische Organisationen eine
Stellungnahme. Es gebe massive Bedenken aus der Fachwelt. „Betrachtet man
wissenschaftliche Grundlagen der Traumaforschung, so schließt sich der
Einsatz eines Polygrafen beim Thema Vergewaltigung und sexueller Missbrauch
aus“, heißt es darin. Die Sozialarbeiter*innen forderten die
Gerichte auf, das Verfahren dringend zu überprüfen.
Gisela Klein tourt mit ihrem Polygrafen nicht nur durch Gerichte, sie hält
auch Vorträge über seine Wirksamkeit. Sie hat vor sächsischen Anwält*innen,
Richter*innen und Mitarbeiter*innen des Jugendamts referiert.
Seitdem wird der Polygraf an sächsischen Gerichten eingesetzt.
Und Klein referiert für Lobbygruppen. Im Jahr 2016 trat sie auf einer
Tagung von False Memory Deutschland auf. Der Verein will darüber aufklären,
dass vermeintliche Missbrauchsopfer nicht immer wirkliche Missbrauchsopfer
sind. Dass Erinnerungen an einen Missbrauch auch eingebildet oder
eingeredet worden sein können. Im Jahr 2022 sprach Gisela Klein auf der
Jahrestagung des Väteraufbruchs. Der Väteraufbruch ist ein Selbsthilfe- und
Politverein für Väter, die um ihre Kinder kämpfen.
Er steht immer wieder in der Kritik, weil Mitglieder
[2][rechtskonservative, frauenfeindliche Positionen vertreten]. Väter sind
aus der Sicht einiger Väteraufbruch-Aktivisten Opfer von Lügen und
Diskriminierung; Mütter manipulierten ihre Kinder, um sie den Vätern
vorzuenthalten. Wichtige Vertreter der Väterrechtsbewegung feiern den
Polygrafen als Heilsversprechen. Einer schreibt bei Facebook, Mütter
sollten von den Gerichten zu einem Test mit dem Lügendetektor gezwungen
werden. Ein anderer empfiehlt einen Polygrafentest als letztes Mittel, um
„Haltung zu zeigen“ gegenüber den Müttern.
Wie passt es zusammen, dass Gisela Klein einerseits für diese Lobbyverbände
auftritt, andererseits als Gutachterin den Auftrag hat, den
Missbrauchsvorwürfen einer Mutter unvoreingenommen zu begegnen? Klein sagt,
sie lasse sich von niemandem instrumentalisieren. „Mir geht es darum,
darüber aufzuklären, dass es eine Methode gibt, die bei fachgerechter
Anwendung sehr gut geeignet ist, auf zuverlässige Art und Weise einen
Verdacht abzuklären.“
Viele Monate nachdem entschieden wurde, dass der Ex-Mann von Sabine Teske
sein Kind vorerst nicht mehr sehen soll, will das Gericht einen neuen
Versuch wagen. Es bestellt eine Psychologin, die mit den Eltern und dem
Kind sprechen soll. Sie soll versuchen, eine Annäherung zwischen Kind und
Vater zu ermöglichen. Bei einem Treffen bricht das Kind zusammen, als es
den Vater sieht. Die Psychologin schreibt danach einen Bericht: Eine
derartige Reaktion eines Kindes habe sie in ihrem ganzen Berufsleben noch
nie gesehen.
Nach diesem Befund entzieht das Gericht dem Vater das Umgangsrecht. Er darf
sein Kind nun nicht mehr sehen, nicht persönlich Kontakt zu ihm aufnehmen.
Ist das Ergebnis des Polygrafen damit widerlegt? Nicht unbedingt. Ob das
Kind von Teske tatsächlich sexuell missbraucht wurde, wird sich wohl nie
zweifelsfrei klären lassen. Zu einer „Beruhigung“ oder Klärung der
Situation zwischen den Eltern hat der Test jedenfalls nicht beigetragen.
Sabine Teske und ihr Kind haben seit dem Beschluss des Gerichts keinen
Kontakt mehr zu dem Vater. Ihrem Kind, sagt Teske, gehe es gut seitdem. Es
habe sich stabilisiert, komme im Alltag gut zurecht. Teske will nun nach
vorne schauen. Ihr Kind ist mittlerweile alt genug, um für sich selbst zu
sprechen. Den Kontakt zum Vater lehne es weiterhin vehement ab.
9 Mar 2024
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Anne Fromm
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