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# taz.de -- Der Lügendetektor vor Gericht: Lex Sachsen
> „Lügendetektor“ – klingt nach Quacksalberei? So sehen das auch die
> meisten Gerichte. Außer in Sachsen. Für Missbrauchsopfer hat das
> verheerende Folgen.
Bild: Normalerweise vor Gericht wertlos: Aufzeichnungen eines Lügendetektors i…
Ein Lügendetektor ist ein technisches Gerät. Mit diesem können
Veränderungen der Atembewegungen, des elektrischen Hautwiderstandes, des
Blutdrucks und der Durchblutung in den Fingern gemessen werden. Seit vielen
Jahren vertreten einige, dass diese Messungen Aufschluss darüber geben, ob
eine Person lügt oder die Wahrheit sagt, und meinen, ein solches Verfahren
auch in gerichtlichen Prozessen einsetzen zu können.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1981 die Verwendung von
Lügendetektoren in Strafprozessen für unzulässig erklärt. Es sah dabei
einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Außerdem führte es
aus, dass dem Ergebnis aufgrund der Treffsicherheit nur eine geringe
Aussagekraft beizumessen sei.
Der Bundesgerichtshof hat sich in mehreren Entscheidungen mit dem
Lügendetektor auseinandergesetzt. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1998
hat er sich die Einschätzung mehrerer sachverständiger Personen eingeholt
und kam zu der Überzeugung, dass der Lügendetektor ein ungeeignetes
Beweismittel im Strafverfahren ist. Es lasse sich nicht nachweisen, dass
ein Außenreiz eine bestimmte körperliche Reaktion erzeuge. Vielmehr könne
es viele und nicht eingrenzbare Ursachen für eine menschliche Reaktion
geben. Nach dem Bundesgerichtshof kommt dem Lügendetektortest noch nicht
einmal ein geringfügiger indizieller Beweiswert zu. Auch das
Bundesverwaltungsgericht sah in einem Beschluss aus dem 2014 im Falle eines
beklagten Beamten in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren den
sogenannten polygrafischen Test als ungeeignetes Beweismittel an.
Grundsätzlich orientieren sich die Amts-, Landes- und Oberlandesgerichte an
den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des
Bundesgerichtshofs. Nicht so in Sachsen.
## Der sächsische Sonderweg zur Wahrheit
Im Falle von Sexualstraftaten werden in Sachsen seit vielen Jahren sowohl
in familiengerichtlichen als auch in strafrechtlichen Verfahren die
Ergebnisse von Lügendetektoren verwendet. Zum Beispiel wurde im Jahr 2023
ein Angeklagter vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung
eines Betreuungsverhältnisses (§ 174c Strafgesetzbuch) freigesprochen unter
Bezugnahme auf ein Gutachten, das mit einem Lügendetektor erstellt wurde.
Die Staatsanwaltschaft hatte einem Ausbilder und Betreuer in einer
Behindertenwerkstatt zur Last gelegt, dass er an vier verschiedenen Tagen
eine Frau mit einer geistigen Behinderung, die ihm während ihrer Tätigkeit
in der Werkstatt anvertraut war, sexuell missbraucht hatte.
Das Gericht hatte unter anderem auch durch die Einholung eines
„forensisch-physiopsychologischen Gutachtens“ (Lügendetektor) auf Anregung
des Angeklagten Beweis erhoben. In diesem Gutachten wurde der sogenannte
Vergleichsfragentest durchgeführt. Die Gutachterin stellte dem Angeklagten
verdachtsbezogene Fragen und Vergleichsfragen und maß dabei seine
Reaktionen. Die Gutachterin kam zu der Einschätzung, dass eine „an
Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ vorliegt, dass der Angeklagte die
verdachtsbezogenen Fragen wahrheitsgemäß verneint hat, und das Gericht
hatte keine Zweifel, dass es sich die „Feststellungen der Sachverständigen
im Rahmen seiner eigenen Beweiswürdigung nicht zu eigen machen“ kann. Es
folgte ein Freispruch für den Angeklagten.
In einem anderen Fall hatte es das Amtsgericht Bautzen 2013 für zulässig
erachtet, die Ergebnisse eines Lügendetektors in einem Strafverfahren zu
verwenden. Dem ging ein Urteil in einem Scheidungs- und
Sorgerechtsverfahren voraus. In diesem Verfahren war ein polygrafisches
Gutachten in Auftrag gegeben worden. Im Strafverfahren hörte das Gericht
die Erstellerin dieses Gutachtens an und hielt ihre Aussagen für
verwertbar. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Angeklagten zur Last gelegt,
mit seiner Ehefrau den vaginalen Geschlechtsverkehr, den sie ihm zuvor
verweigert hatte, unter Androhung von Schlägen, dem Herunterdrücken ihrer
Arme und dem Legen seines Körpers auf ihren vollzogen zu haben. Der
Angeklagte wurde freigesprochen.
## Zur Wahrheitsfindung ungeeignet – vor allem bei Sexualstraftätern
Sämtliche [1][Argumente für die Nichteignung des Lügendetektors] zu nennen,
würde den hiesigen Rahmen sprengen, aber es sei auf mehrere Aspekte
hingewiesen. Es gibt – gerade im Sexualstrafbereich – Täter*innen, deren
Wahrnehmung derart verzerrt ist, dass sie ihre Handlungen nicht als
Straftat ansehen und bei verdachtsbezogenen Fragen folglich nicht
entsprechend reagieren.
Es gibt außerdem kein einheitliches körperliches Reaktionsmuster auf
[2][Lügen]. Manche reagieren mit Erregung, aber andere mit besonderer Ruhe.
Der Test kann einen physiologischen Zustand messen, aber er kann nicht
messen, ob dieser Zustand auf einen Erregungszustand zurückgeht. Im Falle,
dass eine Erregung vorliegt, kann der Test nicht die Ursache der Erregung
bestimmen. Es ist auch denkbar, dass Menschen aus Angst vor einem falschen
Testbefund oder aus Aufregung aufgrund einer Testreaktion mit Erregung
reagieren.
Auch soll es recht einfach erlernbare Strategien geben, wie auf die
nicht-verdachtsbezogenen Fragen mit stärkerer Erregung reagiert werden und
die Ergebnisse so beeinflusst werden können. Zudem sind Blutdruck oder
schnellere Atembewegungen auch durch Medikamente, Drogen und Alkohol
manipulierbar.
Die Praxis in Sachsen widerspricht höherer Rechtsprechung. Wären die
Gerichte in Sachsen von ihrer Entscheidungspraxis überzeugt, könnten sie
den Weg zu einer erneuten Entscheidung des Bundesgerichtshofs einschlagen
oder die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Beides ist bisher
nicht erfolgt. Die Folgen für [3][Betroffene sexualisierter Gewalt] sind
verheerend. Es ist unter Bezugnahme von Lügendetektoren zu Freisprüchen vor
den Strafgerichten gekommen. Der Einsatz von Lügendetektoren sollte
schnellstmöglich beendet werden.
22 Jun 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Franziska Drohsel
## TAGS
Kolumne law and order
Gericht
sexueller Missbrauch
Sachsen
Social-Auswahl
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sexueller Missbrauch
Schwerpunkt Europawahl
Lesestück Recherche und Reportage
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