# taz.de -- Lügendetektoren vor Gericht: Nichts als die Wahrheit | |
> Opferschutzverbände fordern ein Ende von Lügendetektor-Tests vor Gericht. | |
> Ein gesetzliches Verbot der umstrittenen Methode ist aber nicht geplant. | |
Bild: Ein Polygraph steht am 17.10.2017 vor Prozessbeginn im Amtsgericht in Bau… | |
Berlin taz | Es klingt wie in einem amerikanischen Krimi: Ein Mann wird | |
bezichtigt, seine Kinder zu missbrauchen. Weil sich der Vorwurf nicht | |
anders ausräumen lässt, lässt das Gericht einen Lügendetektor-Test | |
durchführen. Die Maschine soll klären, ob der Mann lügt. | |
Das ist tatsächlich Praxis in einigen wenigen Verhandlungen in deutschen | |
Familiengerichten. Und die ist umstritten. Die taz hatte vor knapp zwei | |
Wochen von einem [1][dramatischen Fall in Chemnitz] berichtet. Über 22 | |
Jahre hatte ein Vater mindestens zehn Kinder schwer sexuell missbraucht. Er | |
konnte das unter anderem deswegen so lange unbehelligt tun, weil ein | |
„forensisch-physiopsychologisches Gutachten“, also ein [2][Lügendetektor], | |
ihn in einem früheren Verfahren entlastet hatte. | |
Anfang dieses Jahres wurde doch der Prozess gegen den Mann eröffnet. Er | |
gestand, das Landgericht verurteilte ihn zu 10 Jahren und 6 Monaten Haft | |
mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sein Anwalt hat dagegen Revision | |
eingelegt. | |
## Opferberatungen sehen verheerende Folgen | |
[3][Franziska Drohsel] ist juristische Referentin bei der | |
Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatungen. Das ist der Dachverband | |
für Beratungsstellen, die zu sexualisierter Gewalt an Kindern und | |
Jugendlichen arbeiten. Der Fall von Chemnitz zeige, „welch verheerende | |
Folgen ein Lügendetektor in einem Gerichtsverfahren hat“, sagt Drohsel. | |
Er mache ein weiteres Mal deutlich, dass es sich bei dem Lügendetektor um | |
ein „absolut ungeeignetes Beweismittel“ handele. Drohsel fordert, dass die | |
Methode in keinem Gerichtsverfahren mehr zur Anwendung kommen sollte. | |
Ähnlich argumentiert auch Christiane Hentschker-Bringt von der | |
Landesarbeitsgemeinschaft Sexualisierte Gewalt in Sachsen. Der | |
Lügendetektor vermittle eine „trügerische Sicherheit“. „Statt technisch… | |
Scheinlösungen brauchen Familiengerichte und andere Verfahrensbeteiligte | |
fundiertes Wissen über manipulative Täterstrategien und die daraus | |
entstehenden Familiendynamiken.“ Fachberatungsstellen sollten stärker | |
einbezogen werden, so Hentschker-Bringt gegenüber der taz. | |
Der Bundesgerichtshof hatte Polygraphen, wie Lügendetektoren eigentlich | |
genannt werden, 1998 als „völlig ungeeignet“ bezeichnet. Verboten ist ihr | |
Einsatz damit nicht, aber an Bedingungen geknüpft. So muss die Teilnahme an | |
einem Polygraphentest freiwillig erfolgen, sein Einsatz darf nur eines | |
unter mehreren Beweismitteln sein. | |
## Konsequenzen aus dem Fehlurteil von Chemnitz | |
Die meisten Gerichte halten sich an die höchstrichterliche Rechtssprechung | |
und verzichten auf Polygraphen-Gutachten. Eine Handvoll Gerichte setzt sie | |
trotzdem ein. Welche Konsequenzen ziehen diese Gerichte nun aus dem | |
verheerenden Fehlurteil in Chemnitz? | |
Wer mit Familienrichter*innen in unterschiedlichen Gerichten und | |
Instanzen spricht, der stößt vor allem auf Unverständnis für die Methode. | |
Eine „absolute Katastrophe“ sei der Fall von Chemnitz. Eine Prognose, ob | |
sie polygrafische Gutachten auch in Zukunft weiter zulassen, kann | |
allerdings keines der befragten Gerichte abgeben. Es gilt die richterliche | |
Unabhängigkeit. | |
Aber es zeigt sich eine Tendenz unter den wenigen Gerichten, die in den | |
vergangenen Jahren polygrafische Gutachten herangezogen oder für | |
zuverlässig erklärt haben. Am Amtsgericht Schwäbisch-Hall hatte eine | |
Richterin zuletzt 2022 ein solches Gutachten in Auftrag gegeben. Die | |
Richterin hat das Gericht mittlerweile verlassen, seitdem sei es dort | |
„keine geübte Praxis“ mehr, das Verfahren einzusetzen, sagt der Direktor. | |
Auch am Amtsgericht Koblenz, wo zuletzt 2017 ein polygrafisches Gutachten | |
eingeholt wurde, heißt es, in den vergangenen fünf Jahren sei keines mehr | |
herangezogen worden. Am Amtsgericht Dresden liegt das letzte entsprechende | |
Verfahren fünf Jahre zurück. Am Amtsgericht Bautzen, wo es in den | |
vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder Polygraphentests gab, heißt es, | |
aktuell sei kein Fall absehbar, in dem ein solches Gutachten eingeholt | |
werde. | |
Auch in den höheren Instanzen, die sich zuletzt mit dem Einsatz von | |
Polygraphen beschäftigt hatten, scheinen die Gerichte Abstand zu nehmen. Am | |
OLG Koblenz sei in den vergangenen fünf Jahren kein Fall mehr bekannt, bei | |
dem der Polygraf eingesetzt wurde, am OLG Dresden ebenfalls nicht. | |
## Justizministerium schließt Verbot aus | |
Den Polygraphen tatsächlich zu verbieten, ist so gut wie ausgeschlossen. | |
Gesetzlich verboten sind vor allem Vernehmungsmethoden, die gegen die | |
Menschenwürde oder das Völkerrecht verstoßen, wie zum Beispiel Folter. Das | |
Bundesjustizministerium könnte theoretisch die Strafprozessordnung ändern | |
und dort den Polygraphen als unzulässiges Beweismittel verbieten. | |
Das sei aber nicht geplant, schreibt eine Sprecherin auf taz-Anfrage. Das | |
Ministerium gehe allerdings davon aus, dass durch die höchstrichterliche | |
Rechtsprechung auch ohne einen Katalog unzulässiger Beweismethoden | |
„ausreichend konkretisiert worden“ sei, „unter welchen Voraussetzungen ein | |
Beweismittel als geeignet oder ungeeignet anzusehen ist“. | |
In Chemnitz, wo ein polygrafisches Gutachten den angeklagten Vater | |
fälschlich entlastet hatte, will man den Polygraphen jedenfalls nicht mehr | |
einsetzen. | |
29 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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