# taz.de -- Debatte um Seenotrettung: Leben oder sterben lassen? | |
> In der „Zeit“ wird diskutiert, ob Schiffsbrüchige gerettet werden dürfen | |
> – mit halben Wahrheiten und kruden Vergleichen. Ein Faktencheck. | |
Bild: Die Stimmen, die das Retten falsch finden, kommen nun auch aus der Mitte | |
Im letzten Jahr, da waren diese Stimmen wie ein Wetterleuchten, weit | |
draußen über den Rändern der politischen Landschaft. Sie blitzen hervor, | |
von da, wo über den „NGO-Wahnsinn“ geredet wurde. Bei der FPÖ zum Beispiel | |
oder bei der AfD. In der Mitte waren sie noch kaum zu erkennen. Sie wurden | |
überlagert von einer Übereinkunft: Dass nicht falsch sein kann, was | |
Menschen vor dem Tod bewahrt. | |
Jetzt ist es anders. Die Stimmen, die das Retten falsch finden, sind an | |
anderen Orten zu hören. In der neuen Zeit hieß es am Donnerstag: „Oder soll | |
man es lassen?“. Der Titel des „Pro und Contra“ über die Legitimität des | |
Tuns privater Retter war über ein Bild gedruckt, das eine Gruppe | |
Schiffbrüchiger im Meer zeigt, denen ein junger Man Rettungswesten zuwirft. | |
Später änderte die Redaktion in der digitalen Version die Überschrift in | |
„Gut? Oder nur gut gemeint?“. | |
Zu denen, die findet, man sollte es lassen, gehört die Zeit-Redakteurin | |
Mariam Lau. Vor einem Jahr fuhr die als Reporterin auf dem Schiff Sea Eye | |
mit. Es gehe ja nicht darum sterben zu lassen, breitete Lau am Donnerstag | |
ihre Überlegungen aus. Nur sollen eben nicht die privaten Helfer retten, | |
sondern die EU-Grenzschutzagentur Frontex. | |
Ihr wird nicht entgangen sein, dass Frontex genau das nicht getan hat. Zu | |
dem Zeitpunkt, 2015, als die privaten Seenotretter auf den Plan traten, | |
waren bereits über 20.000 Menschen gestorben. Sie sind nicht deswegen | |
ertrunken, weil es so schwierig gewesen wäre, sie zu finden. Oder weil es | |
nicht genug Rettungsschiffe gegeben hätte. Sie sind heute tot, weil die | |
unzureichende Hilfeleistung politisch gewollt war. Sie war Teil eines | |
Abschreckungskalküls. | |
## Frontex hat Gehör gefunden | |
Frontex hat für diese Erwägungen – weniger retten, nur weiter weg von der | |
libyschen Küste damit weniger kommen – aktiv bei [1][europäischen | |
Politikern geworben]. Und Gehör [2][gefunden]. Das liegt vor allem daran, | |
dass Frontex dafür da ist, dass die, die nicht kommen sollen, auch wirklich | |
nicht kommen. | |
Lau ist der Meinung, dass die AktivistInnen zur Lösung des | |
Flüchtlingsproblems „null und nichts beizutragen“ haben. Dabei sind sie es, | |
die die Folgen des Abschreckungskalküls überhaupt erst sichtbar gemacht | |
haben. Den Zahlen Gesichter gaben, ihre Geschichten erzählbar werden | |
ließen. Zum Beispiel, in dem sie Reporterinnen wie Lau auf ihren Schiffen | |
mitfahren ließen. | |
Als die Initiativen, die nun so unter Druck geraten sind, anfingen, wollten | |
sie zunächst gar nicht retten. Sie wollten den staatlichen Rettern auf die | |
Finger schauen, weil diese ihre Aufgabe eben nicht erfüllt haben. Gruppen | |
wie Boats4People oder WatchtheMed verstanden sich wie eine Art „Bürger | |
beobachten ihre Polizei“, nur eben auf dem Meer. Dass sie selbst retten, | |
das kam erst später. Weil die, die es tun sollten, es nicht taten. | |
## Wem wird Gewalt angetan? | |
Lau vergleicht die Retter mit Bürgerwehren gegen Wohnungseinbrüche. Sie | |
führt den Punkt nicht weiter aus. Vermutlich meint sie: Recht, das in die | |
eigene Hand genommen wird, ist keines mehr. Das beweisen etwa die | |
Bürgerwehren aus den USA, die, wie man ja weiß, gern mal Leute abknallen. | |
Lau führt den Vergleich wohl deshalb nicht aus, weil er so unsäglich schief | |
ist: Das Problem an den Bürgerwehren ist, dass sie sich das Gewaltmonopol | |
des Staates anmaßen, ohne dafür legitimiert zu sein und man sie nur schwer | |
zur Rechenschaft ziehen kann. Wo soll die Parallele zu den Seenotrettern | |
sein? Wem wird Gewalt angetan? Wessen Recht wird verletzt? | |
Vermutlich will Lau andeuten, dass das Recht der Staaten, zu kontrollieren, | |
wer einreist, hier verletzt wird. Doch das verkennt, dass es eben sehr wohl | |
ein Recht zur Einreise nach Europa gibt, wenn man Schutz suchen will. Die | |
Menschen aus Somalia, Eritrea, dem Sudan, die auf Boote steigen, sind | |
Flüchtlinge. Und als solche dürfen sie kommen. | |
Die Retter seien „längst Teil des Geschäftsmodells der Schlepper“, schrei… | |
Lau weiter. Das legt nahe, dass die Schlepper die Menschen anlocken, weil | |
die NGOs ihnen ihr Geschäft so leicht machen. Doch als es noch keine | |
Rettungs-NGOs gab – also vor 2015 – gab es auch Schlepper, es gab Tote und | |
es gab Menschen, die nach Italien und Griechenland kamen, obwohl sie nicht | |
durften. Und zwar viele. Der einzige Unterschied war, dass die Schlepper | |
die Menschen in Boote setzten, die es theoretisch bis nach Lampedusa | |
schaffen konnten, statt, wie jetzt, nur auf aufgeblasene Gummikörper. | |
## Sündenbock NGO | |
Die NGOs begründeten ihr Handeln damit, „dass jeder Mensch das Recht habe | |
zu fliehen, wohin er will“, schreibt Lau. So ein Recht gebe es aber nicht. | |
Es gibt aber ein Recht, und das weiß auch Lau, dahin zu fliehen, wo man | |
nicht versklavt und nicht interniert wird, nicht in Geiselhaft landet – wie | |
etwa in Libyen. An einen sicheren Ort. Und das ist eben Europa, auch wenn | |
ihr das nicht gefällt, und zwar so lange, wie es hier ein Asylrecht gibt. | |
Als sie zwei Wochen lang auf der Sea Eye mitfuhr, habe keiner der Helfer | |
„auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie die sozialdemokratische | |
Regierung von Matteo Renzi ihren Bürgern erklären soll, dass sie Tausende | |
von Menschen einkleiden, beherbergen und ernähren sollen“. | |
Dabei haben die NGOs auf genau dieses Dilemma Italiens immer und immer | |
wieder hingewiesen. Sie wussten genau, dass die Regierung dies kaum | |
erklären kann und dass es deswegen eine europäische Lösung geben musste. | |
Die gab es aber nicht. Das einzige, worauf die EU sich heute noch einigen | |
kann, sind Lager und Abweisung. Die Schuld der NGOs ist das am | |
allerwenigsten. | |
12 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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