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# taz.de -- Flucht nach Europa: Aziz, der Schlepper
> Er ist 21 Jahre alt, aus Syrien, an der türkischen Küste setzt er
> Flüchtlinge in Boote. Dann versucht er selbst, es übers Mittelmeer zu
> schaffen.
Bild: Aziz blickt am Hafen von Izmir auf das Meer hinaus. Auch er träumt von E…
Izmir taz | Vielleicht wollte Gott ihm eine Lektion erteilen, ihm, dessen
Job es war, Menschen gegen Geld auf diese lebensgefährliche Reise zu
schicken. Aziz*, der sagt, nichts zu fürchten außer Gott, sitzt zusammen
mit fünfzig anderen Flüchtenden in einem Schlauchboot, dessen Steuer er
umklammert. Die türkische Küste verschwindet hinter ihm im Dunkel. Der Wind
wird stärker, Wellen schlagen gegen den Gummirand. Manche auf dem Boot
schreien, andere weinen. Dann stockt der Motor. Aziz hat Angst.
Die Geschichte von Aziz, 21 Jahre alt, Schlepper, beginnt 2013 in einer
syrischen Kleinstadt am Euphrat östlich von Deir Ez-Zor. Heute ist sie eine
der letzten Enklaven, an denen der „Islamische Staat“ (IS) erbittert
festhält. Damals kontrollierte die Al-Nusra-Front die Stadt, unter
ständigen Luftangriffen der syrischen Luftwaffe. Aziz wollte raus und
machte sich an einem Morgen auf in die Türkei.
Seine Geschichte endet an jenem Abend im Februar 2018, als Aziz mit fünfzig
Flüchtlingen zwischen der Türkei und der griechischen Insel Samos in Seenot
gerät. Er ist nun nicht mehr Schlepper, sondern selbst auf der Suche nach
Zuflucht.
Dazwischen liegt eine Odyssee, kreuz und quer durch die Türkei bis nach
Izmir an der Westküste. Die Irrfahrt eines Jungen, der zu früh auf sich
alleine gestellt war. Getrieben von der Enttäuschung, dass der Krieg ihm
seine Zukunft gestohlen hatte, und in dem trotzigen Glauben, dass ihm etwas
Besseres im Leben zusteht.
Mindestens 1.360 Tote
Izmir, Januar 2018. Das Wetter ist gerade warm genug, Aziz sitzt an einem
Tisch draußen vor dem Restaurant. Er ist kaum einen Meter siebzig groß,
spärlicher Bart, runde schwarze Augen, eine rote Baseballmütze auf dem
Kopf. Er sieht aus wie ein Teenager. „Eigentlich ist es ein Job wie jeder
andere“, sagt Aziz und pult ein Stück Fleisch vom Hühnerschenkel. „Die
Leute wollen nach Europa und wir bringen sie hin.“
Hat Aziz keine Skrupel? Keine Angst, dass die Menschen ertrinken, die er
losgeschickt hat? Mindestens 1.360 Flüchtlinge starben laut UNHCR in den
vergangenen drei Jahren bei dem Versuch, von der Türkei aus nach Europa zu
gelangen. Aziz wischt sich die Strähnen aus dem Gesicht und sagt im Ton
eines Pauschalreisenverkäufers: „Wer mit uns losfährt, kommt auch an.“
Vor sechs Jahren, als die Rebellen das Regime von Bashar al-Assad aus
seiner Stadt vertrieben hatten, ging es in Aziz' Leben ums Bleiben, nicht
ums davonfahren. Damals beschloss sein Vater, ein neues Haus zu bauen. Es
hatte drei Etagen: ein kleines Café im Erdgeschoss und je ein Stockwerk für
Aziz und seinen älteren Bruder Saleh. Für später, wenn die beiden mal
heiraten würden.
Aziz stapft in Izmir eine schmalen Gasse entlang, den Hügel hinauf. Die
geduckten Häuser strahlen morbiden Charme aus und ein beißender Rauch
wabert aus den Schornsteinen. Basmane ist arm – statt mit Feuerholz heizen
die Bewohner, fast ausschließlich Kurden aus dem Südosten der Türkei und
syrische Flüchtlinge, mit Plastik.
„Little Syria“ in der Türkei
Allein 2015 war das Viertel Umschlagplatz für rund 850.000 Flüchtlinge, die
in jenem Jahr die griechischen Inseln erreichen wollten. „Die Kurden sagen
nichts, wenn wir die Leute mit den Autos abholen“, sagt Aziz. „Die wollen
mit der Polizei selbst nichts zu tun haben.“
Damals waren in „Little Syria“, wie das Viertel genannt wird, sämtliche
Hotels ausgebucht. Wer kein Geld für ein Zimmer hatte, schlief auf der
Straße. In den Cafés verhandelten sie mit den Schleppern über Preise.
Heute, zwei Jahre nachdem das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der
Türkei in Kraft trat, ist das Geschäft schwieriger geworden. Die Polizei
kontrolliert die Straßen zwischen Izmir und den Küstenorten Çeşme, Bodrum
und Ayvalık, wo die Boote ablegen. Auf dem Meer patrouilliert die
Küstenwache.
Doch die Schlepper sind noch da, schleichen über die belebte Hauptstraße
und verstecken sich vor der Polizei in den verwinkelten Gassen.
Ein Studium, irgendwann
[1][Von einem Flüchtlingsabkommen mit der EU] hat Aziz noch nie etwas
gehört. Er hat nur eine vage Idee davon, dass Europa die Grenzen
geschlossen hat. Und allzu sehr scheint es ihn nicht zu beschäftigen:
„Straßensperren umfahren wir. Wenn uns die Polizei dennoch erwischt,
bezahlen wir sie, damit sie uns nicht verhaften.“
Als Kind wollte Aziz Zahnarzt werden. Seine Schwester hatte einmal in einer
Abschlussprüfung das beste Ergebnis der Provinz erzielt, das erzählt Aziz
noch heute mit Stolz. Aus Angst, die Söhne könnten sich mit den falschen
Jungs im Dorf anfreunden, ließ sie der Vater nur bis Sonnenuntergang
draußen spielen.
Aziz’ Berufswunsch starb an dem Tag, als bei einem Bombenangriff seine
Schule zerstört wurde. Im Frühling 2014 übernahm der IS die Kontrolle über
seine Stadt. Von dem Haus, das Aziz’ Vater einst für die Zukunft seiner
Söhne baute, stieß der IS nun Männer in den Tod.
Aziz redet immer noch davon, irgendwann studieren zu wollen. Doch er weiß
auch, dass er als Flüchtling in der Türkei ohne Schulabschluss von keiner
Universität akzeptiert würde.
„Wenn viel los ist, nehm ich Chrystal“
„Hallo? Wie geht’s? Ja, nach Chios und Samos. Du kommst einfach nach Izmir
und dann erklär ich dir alles, Habibi. Yallah, bye.“ Bilal legt das Telefon
weg, zündet sich eine Zigarette an, er wirkt wie auf Speed, doch im Moment
kiffe er nur, sagt Bilal. „Nur im Sommer, wenn viel los ist, nehm ich
Crystal.“
Über Bilal ist Aziz ins Geschäft gerutscht. Er half Bilal, einen
konkurrierenden Schlepper krankenhausreif zu schlagen, der einigen von
Bilals Flüchtlingen die Handys klaute. Das genügte als Treueschwur.
Bilal, groß, gegelte Haare, ein bohrender Blick wie John Travolta, ist
Anführer der Gruppe von Schleppern, zu der auch Aziz gehört. Sie alle
stammen aus dem Euphrattal östlich von Deir Ez-Zor. Bilal, 25, ist einer
der Ältesten. Vor dem Krieg wollte er Medizin studieren, während des Kriegs
kämpfte er für die Al-Nusra-Front, dann setzte er sich in die Türkei ab.
Der Jüngste in der Gruppe, Ibrahim, ist gerade 18 geworden. Mit 15 hatte er
ein halbes Jahr lang mit dem IS gekämpft. Er dachte, der IS würde für den
Islam und gegen das syrische Regime kämpfen. Heute sagt er, das sei dumm
gewesen.
Die Jungs wirken wie eine Hippiekommune. Sie essen gemeinsam, schlafen im
selben Zimmer, und wenn sie nichts zu tun haben, kiffen sie mit einer
selbstgebastelten Bong. Sie seien seine Freunde, sagt Aziz, natürlich,
schließlich kämen sie alle aus derselben Ecke Syriens.
Dennoch vertraut er den anderen nicht. Die WhatsApp-Chats mit seiner Mutter
und seinen Schwestern hat er mit einem Passwort verschlüsselt, falls einer
der Jungs hinter seinem Rücken sein Telefon anschaut. Gleichzeitig macht
sich Aziz einen Spaß daraus, den anderen die Feuerzeuge zu klauen. „Ich
habe vielleicht zwanzig Feuerzeuge. Aber wenn wieder mal niemand ein
Feuerzeug hat, sage ich, ich hätte keins.“
Bilal koordiniert die Gruppe und gibt die Anweisungen seines Chefs an die
Jungs weiter, einen Syrers, den alle nur „Abu Bilal“ nennen. Abu Bilal
entscheidet, wann es eine Überfahrt gibt, kauft die Boote ein und hat ein
paar Häuser in Basmane gemietet. In dem Haus, in dem auch die Jungs
schlafen, warten aktuell zwei irakische Familien und eine alleinstehende
schwangere Frau aus Rakka mit einem einjährigen Kind auf die Überfahrt.
Von den rund 20.000 Dollar, die die Gruppe für eine Überfahrt im
Schlauchboot im Moment einnimmt, geht vielleicht ein Viertel für Spesen
drauf: Boot, Schwimmwesten, Essen. Vom Rest erhält jeder 50 bis 100 Dollar,
Bilal nimmt einen größeren Teil für sich und gibt den Rest weiter an seinen
Boss.
Die Jungs besorgen Essen und stehen auf der Straße Wache, wenn die
Flüchtlinge ins Auto einsteigen. „Wenn die Polizei in der Nähe
patrouilliert, simulieren wir eine Schlägerei, um sie abzulenken“, sagt
Aziz. Einige arbeiten als Steuermann. Ein lukrativer, aber risikoreicher
Job: Wer Flüchtlinge nach Griechenland fährt und den Kahn wieder in die
Türkei bringt, kriegt 1.500 Dollar. Das lohnt sich für die Schlepper, denn
die Holzboote kosten 10.000 Dollar und mehr. Doch wenn die Polizei den
Steuermann erwischt, drohen ihm zwischen drei und acht Jahren Haft.
Elektroschocks im Knast
Vergangenes Jahr hatte die türkische Küstenwache 123 mutmaßliche Schlepper
verhaftet und der Polizei übergeben. Darüber, wie viele davon verurteilt
wurden, gibt es keine öffentlichen Statistiken.
In vielen Fällen läuft es wahrscheinlich wie bei Ibrahim, als er vor Kurzem
als Steuermann abgefangen wurde: Die Küstenwache übergab ihn der Polizei,
die befragte ihn, versetzte ihm Elektroschocks, Ibrahim stritt ab,
Schlepper zu sein. Stattdessen beschuldigte er einen Iraner, der als
Flüchtling mit auf dem Boot war. Ibrahim kam frei. Was mit dem Iraner
geschah, weiß er nicht.
Bilal zieht sein Handy hervor. Vom Bildschirmschoner blickt ihm Saddam
Hussein mit Pilotenbrille entgegen, das Hintergrundbild zeigt den
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. „Ich liebe Erdoğan“, sagt
Bilal. „Er hat sich gut um die Syrer gekümmert.“ Dass die Flüchtlinge nic…
in der Türkei bleiben wollen, und Bilal gerade damit sein Geld verdient –
geschenkt. Bilal ist der Meinung, Erdoğan stehe hinter ihm und wolle, dass
die Flüchtlinge nach Europa gehen. Nur dürfe er das nicht offen zugeben.
Bilal öffnet seinen Browser, ruft die Wetterseite Meteocast auf.
Wellenhöhe: ein halber Meter. „Das ist zu hoch, heute gibt es also keine
Überfahrt.“
Bilal behauptet, so etwas wie ein Star unter den Schleppern zu sein. „Die
Leute haben gehört, dass ich gut bin. Ich nutze sie nicht aus, sie können
bei mir schlafen und ich bringe ihnen Essen. Wer zu wenig Geld hat, muss
nicht den vollen Preis bezahlen. Ich mache diese Arbeit nicht wegen des
Geldes. Ich will den Leuten helfen, ihr Ziel zu erreichen.“
„Ihr Leben liegt in den Händen Allahs“
Aziz wird später über seinen Freund sagen: Bilal lässt die Leute zwar bei
sich wohnen. Aber wenn sie in Griechenland sind, und Bilal ihnen die Pässe
nachschicken soll, die sie aus Angst vor der Polizei bei ihm gelassen
haben, verlangt er dafür ein paar Hundert Dollar. Alleinstehende Frauen
lässt er, wenn sie kein Geld haben, [2][mit Sex bezahlen.]
Als Aziz im Jahr 2013 in der Türkei angekommen war, fing er in Adana an,
auf den Orangen- und Granatapfelplantagen zu arbeiten. Er stand um drei Uhr
morgens auf, fuhr zwei Stunden aus der Stadt heraus, um bei Sonnenaufgang
anzufangen, schleppte Körbe voller Orangen, bis die Sonne unterging. An
manchen Abenden hatte er nicht einmal mehr die Kraft, um duschen zu gehen.
Sein Lohn: 40 türkische Lira pro Tag, umgerechnet etwa 10 Euro.
Nach zwei Jahren zog er weiter nach Şanlıurfa. Dort arbeitete er als
Bademeister in einem Schwimmbad, zwei Schichten jeden Tag, von acht Uhr
morgens bis Mitternacht. Einmal habe er einen Jungen gerettet, der ins
Becken gefallen war. Über die Flüchtlinge, die er heute über das Meer
schickt, sagt er: „Ihr Leben liegt in den Händen Allahs.“
Vergangenen August starb sein Vater in Syrien. Aziz wollte es erst nicht
glauben, als sein Bruder zu ihm sagte: „Irgendwann kommt der Tag, an dem
auch du stirbst und ich sterbe. Irgendwann gehen wir alle.“ Als er die
Beileidsbekundungen von Freunden auf seinem Handy sah, schleuderte er das
Telefon an die Wand und fing an, seine Sachen zu packen. Er wollte zurück
nach Syrien. Seine Cousins hielten ihn ab. Stattdessen ging er ein paar
Wochen später nach Izmir.
Pragmatismus siegt über Moral
Als Bilal sagte, Aziz solle mit ihm arbeiten, habe er lange überlegt,
erzählt Aziz. Was sein Vater wohl dazu gesagt hätte, dass er jetzt als
Schlepper arbeitet? Die Antwort kennt er. „Mein Vater hätte es mir
verboten. Er hätte mir eher Geld geschickt, damit ich zu Hause sitze.“
Aber sein Vater ist tot. Und in Aziz’ Kopf siegte der Pragmatismus über die
Moral. „Ich hatte einfach genug davon, mich von einem Türken anschreien und
rumkommandieren zu lassen.“
Am Abend soll es eine Überfahrt geben, Aziz telefoniert mit den anderen, um
den Transport ans Meer zu organisieren. „Holt die Leute oben an der Ecke
ab, nicht direkt vor dem Haus“, sagt er ins Telefon, legt auf. Kurz darauf
klingelt es wieder. „Was sagst du? Die Polizei?“ Die Straße ist verlassen,
Aziz geht schneller, läuft auf eine schwarze Tür zu und verschwindet in der
Wohnung. Wenig später kommt er wieder raus. Die Flüchtlinge sind nicht da.
Die Polizei hat sie vor der Tür abgefangen und mitgenommen. Einer der Jungs
hatte offenbar den Fehler gemacht, sie alle auf einmal rauszubringen.
Später sitzt Aziz im oberen Stock eines Restaurants, außer ihm ist hier
kein Gast, seine Knie zittern. Das Handy vibriert, „Was ist passiert?“,
leuchtet eine Nachricht auf. Die anderen Schlepper haben ihre Telefone
ausgeschaltet, jetzt melden sich die Verwandten der Verhafteten bei ihm.
„Einer der Flüchtlinge hat meine Nummer. Was, wenn er sie der Polizei gibt
und sagt, dass das der Schlepper ist?“ Aziz vergräbt sein Gesicht in den
Händen. Als er seinen Kopf hebt, sind seine Wangen nass vor Tränen. „Schau
mich an“, sagt er. „Wäre der Krieg nicht gewesen, wäre ich jetzt nicht
voller Angst vor der Polizei. Ich würde zu Hause mit meinen Eltern und
meinen Geschwistern vor dem Fernseher sitzen.“
Nur noch weg
Er zündet sich eine Zigarette an. „Ich weiß, dass diese Arbeit schlecht
ist. Wir setzen das Leben von Menschen aufs Spiel, alleinstehende Frauen
werden missbraucht, Bilal lügt die Leute an. Ich will das alles nicht
machen.“ Dann sagt er unvermittelt: „Ich gehe nach Europa. Ich will raus
aus diesem Land, das uns Syrer ausbeutet wie Tiere. Ich will eine
Ausbildung machen und wieder wie ein Mensch behandelt werden. Das ist doch
nicht zu viel verlangt.“
Da sitzt er, der Schlepper, der mit dem Wunsch der anderen nach Sicherheit
und einem besseren Leben sein Geld verdient. Und wünscht sich selbst nichts
anderes.
An dem Tag, als Aziz nach Europa aufbricht, zeigt Bilals Wetterkarte einen
Meter Wellenhöhe bei Samos an. Warum sein Vorgesetzter dennoch beschloss
rauszufahren, ist nicht klar. Bilal wird später sagen, dass das Boot nicht
nach Samos, sondern zu der kleinen Insel Agathonisi habe fahren sollen.
Doch dafür lag der Ablegepunkt zu weit nördlich. Aziz ist das Wetter
ohnehin egal. Er will nur noch weg. Nach Mitternacht fahren sie ans Meer.
Er habe eigentlich nicht Steuermann sein wollen, sagt Aziz. Er weiß, wenn
die Küstenwache sie erwischt, werden sie ihn verhaften. Doch einer der
Schlepper, ein Türke, habe gesagt, er solle fahren. Und Aziz traut sich
nicht, sich zu widersetzen. Denn spätestens hier am Wasser, mitten in der
Nacht, lassen die Schleuser die freundliche Fassade der
Pauschalreisenverkäufer fallen. Wer ihren Anweisungen nicht folgt, den
zwingen sie mit gezückten Waffen.
Zurück in Izmir
Die Gruppe besteigt das Boot. Der Türke fährt los, weg von der Küste.
„Jetzt fährst du“, sagt er nach einigen Metern zu Aziz, springt ins Wasser
und schwimmt zurück ans Ufer. Aziz umklammert das Steuer, fährt ins Dunkel,
dorthin, wo die Wellen höher schlagen und über den Bug hineinbrechen. Wo
soll er sonst auch hin? Das Boot läuft mit Wasser voll, der Motor
verstummt, ein Kurzschluss vermutlich. Zurück bleibt das Schreien und
Weinen der Passagiere.
Als die türkische Küstenwache das Boot am Morgen aufgreift und die Gruppe
auf den Polizeiposten bringt, verdächtigen sie Aziz, Schlepper zu sein. Sie
wollen wissen, mit wem er zusammenarbeitet. Er streitet alles ab, selbst
als sie ihn schlagen. Am nächsten Tag lässt ihn die Polizei gehen.
Aziz will nicht mehr nach Europa. Er ist zurück in Izmir, schläft in Bilals
Wohnung, hat aber aufgehört, mit ihm zu arbeiten. Er spielt mit dem
Gedanken, nach Syrien zurückzugehen. [3][Der IS ist mittlerweile fast
gänzlich vertrieben], seine Stadt ist einer der letzten Orte, die er noch
kontrolliert. Die Kurden sind kurz vor dem Einmarsch und vom
gegenüberliegenden Flussufer beschießt das Regime die Stadt. Vielleicht
haben sie das Haus, das Aziz’ Vater für die Zukunft seiner Söhne gebaut
hat, bereits getroffen.
Zwei Wochen später, in einer Nacht auf einen Samstag, sterben 16 Menschen
bei dem Versuch, die griechische Insel Agathonisi zu erreichen. Drei
Flüchtlinge überleben. Die Jungs sagen, sie hätten damit nichts zu tun.
*Alle Namen geändert
2 Aug 2018
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## AUTOREN
Meret Michel
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