# taz.de -- Choreographin Gisèle Vienne in Museen: Im Saal der Schneewittchens… | |
> Langsames Anschleichen der Beunruhigung: Die Puppen der Regisseurin | |
> Gisèle Vienne sind von der Bühne in zwei Berliner Museen gewandert. | |
Bild: Installationsansicht Gisèle Vienne „This Causes Consciousness to Fract… | |
Als Choreografin und Regisseurin konnte man Gisèlle Vienne schon | |
kennenlernen in Deutschland. Zuletzt im Mai war ihr Stück [1][„Extra Life“ | |
beim Theatertreffen] in Berlin zu sehen. Es drehte sich um die Traumata | |
eines Geschwisterpaares, die Erfahrung von Missbrauch und die | |
Unmöglichkeit, darüber zu reden. Die Bühnensprache der | |
französisch-österreichischen Künstlerin ist [2][seit gut zwei Jahrzehnten | |
von einem extremen Umgang mit der Zeit] geprägt, von Dehnung und | |
Verlangsamung, die der Rezeption immer eine große Anstrengung abverlangt. | |
Jetzt tritt Gisèle Vienne mit gleich zwei Ausstellungen in Berlin als | |
bildende Künstlerin auf, erstmals in Deutschland. Lebensgroße Puppen von | |
Jugendlichen, die schon in den Bühnenstücken eine Rolle spielten, sind nun | |
die Protagonisten stillgestellter, stummer Inszenierungen. Die Atmosphäre | |
ist beklemmend, wie in ihren Stücken. | |
Stille und Bewegungslosigkeit sorgen für ein langsames Anschleichen der | |
Beunruhigung. Verharrt ein Betrachter vor den Tableaus, fügt er sich | |
mühelos ins Bild – aber er kann gehen, die Puppen müssen bleiben. Ein | |
Doppelgänger des Menschen, unheimlich in seiner Ähnlichkeit, | |
mitleiderregend in seinem Ausgeliefertsein. | |
Einem Saal voller Schneewitchensärge gleicht Viennes große Installation | |
„Dolls in glass boxes“ (2003/2021) im Haus am Waldsee, in der die Puppen | |
nebeneinander in Vitrinen auf dem Boden aufgebahrt – wie soll man anders | |
sagen – sind. Ihre Augen sind zwar offen, sie sind nicht als Tote | |
dargestellt, und doch erinnert das Szenario an einen Unfall- oder Tatort, | |
gar ein Massaker. | |
## Jedes Kind einsam | |
Im Obergeschoss gibt es 63 Fotoporträts von Puppen zu sehen, traurige | |
Gesichter unter schwarzen oder silbergrauen Ponys, den Blick gesenkt, mit | |
Spuren von Make-up und Spuren von Schlägen: Jedes Kind einsam, ein | |
Außenseiter, möglicherweise von Gewalterfahrung und Ausgrenzung betroffen. | |
Dazwischen ragt zweimal ein kleiner verfilzter Tierpuppenkopf knapp ins | |
quadratische Format. Sie sind, das erkennt, wer Gisèle Viennes Film „Jerk“, | |
den die Sophiensale in Berlin zeigten, gesehen hat, die Darsteller der | |
Gehilfen eines Serienmörders. Ein makabres Spiel. | |
Sowohl im Haus am Waldsee als auch im Kolbe Museum verblüffen die | |
Installationen von sitzenden und stehenden Puppen, die nach Viennes | |
Konzepten von Raphaël Rubbens, Dorothéa Vienne-Pollak und Gisèle Vienne | |
gebaut wurden, mit ihrer Lebensechtheit. Im Kolbe Museum sitzt ein Mädchen | |
einsam und ein wenig krumm auf einem Stuhl in der Ecke, Müll von Junkfood | |
um sich verstreut. | |
Die T-Shirts und Hoodies der Teenies, manchmal auch eine Halloween-Maske | |
oder Klauenhände, weisen nicht wenige von ihnen aus als den Kulturen von | |
Gothic und Black Metall nahe, Fans von Horrorfilmen, die die Unsicherheit | |
und Identitätssuche in der Pubertät in Geschichten grausamer Verwandlungen | |
transformieren. | |
Aber auf eine solche Interpretation will Vienne nicht hinaus, im Gegenteil. | |
Obwohl sie dieses klassische Teenage-Horror-Klischee zu bedienen scheint, | |
geht es ihr gerade um dessen Dekonstruktion. Der Stillstand in den | |
Installationen soll für diese Wahrnehmungsänderung den Raum öffnen. Zudem | |
sind Texte als Lektüre, ein Essay von Elsa Dorlin, „Die Farben der Angst“, | |
und ein Text von Vienne selbst, Teil der Präsentationen. | |
Die strukturelle Gewalt von sozialen Normierungsprozessen, der definierende | |
Blick von außen sind die Ziele von Viennes Kritik, eine in ihren Augen | |
verdrängte Wahrheit. „Körper ertragen – natürlich sehr unterschiedlich, | |
entsprechend der Situation – die anhaltende Brutalität, durch Machtsysteme | |
definiert zu werden, doch diese kulturelle Gewalt wird oft genug als bloße | |
Folge von umher wütenden Hormonen heruntergespielt“, sagt sie im Interview | |
im Begleitheft. Geschichten von sexualisierter Gewalt sind nur ein Teil | |
davon. In diesen Texten stecken berechtigte Fragen, aber sie transportieren | |
auch viel Behauptung. Das stimmt nicht unbedingt mit dem Seherlebnis in den | |
Ausstellungen überein. | |
## Verwischen der Geschlechtergrenzen | |
Das Kolbe Museum hat die Präsentation von Vienne eingebettet in den Kontext | |
von Künstlerinnen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die mit Puppen | |
gearbeitet haben. Auch dort spielt teils das Verwischen der | |
Geschlechtergrenzen eine Rolle, doch sind die Künstlerinnen weniger | |
missionarisch unterwegs gewesen als Vienne. | |
Zu entdecken gibt es viel: zum Beispiel groteske, insektenähnliche | |
Marionetten von Käthe Rothacker, das König-Hirsch-Ensemble von Sophie | |
Taeuber-Arp oder die Puppen von Marie Vassilieff. Oft sind es gerade die | |
Fotografien, die die Künstlerinnen mit ihren Puppen zeigen, die vom | |
Möglichkeitsspielraum dieser Werke erzählen. | |
Mit den collagierten Mischwesen, die sie aus unterschiedlichsten | |
Materialien gestalteten, schlugen die Künstlerinnen einen Weg der Autonomie | |
und zu neuen Ausdrucksformen ein, nutzten dafür aber die ihnen als | |
vermeintlich weiblich zugewiesenen Bereiche angewandte Kunst und Spiel. | |
Ihre Puppen sind aufbegehrende Wesen, verschmitzt und mit Witz, | |
spielerischer als die Installationen von Gisèle Vienne. In diesem | |
Spannungsfeld aufzutreten, ist aber für beide Seiten bereichernd. | |
27 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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