# taz.de -- Bundesinnenministerin Nancy Faeser: „Ich habe schon viel erreicht… | |
> Sie muss sich wegen des Schönbohm-Rauswurfs verteidigen und den Wahlkampf | |
> in Hessen wuppen. Ein Gespräch mit Nancy Faeser im Doppelrollen-Stress. | |
Bild: Auf dem Dach ihres Ministeriums: Nancy Faeser | |
wochentaz: Frau Faeser, Sie wollen in Hessen Ministerpräsidentin werden, | |
aber Ihre SPD hängt in Umfragen bei 20 Prozent fest, weit hinter der CDU. | |
Jetzt lähmt Sie auch noch die [1][Schönbohm-Debatte]. Den Wahlkampf haben | |
Sie sich anders vorgestellt, oder? | |
Nancy Faeser: Also, was stärker werden könnte, ist die Fokussierung auf | |
hessische Themen. Dass man mehr über den Stillstand in der Bildungspolitik | |
diskutiert, über den massiven Fachkräftemangel in Kitas und Schulen, den | |
dramatischen Ärztemangel. Das sind doch die Alltagsthemen, die die Menschen | |
umtreiben und die sie über eine Landtagswahl ändern können. | |
Momentan wird eher über den früheren BSI-Chef Arne Schönbohm diskutiert, | |
den Sie versetzten, [2][nachdem der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann ihm eine | |
Russlandnähe atttestierte]. Haben Sie da zu vorschnell gehandelt? | |
Hier in Hessen spricht mich keiner auf diese Frage an. Und die Entscheidung | |
fiel auch nicht vorschnell, sondern gründlich. Ich hatte das Vertrauen in | |
Herrn Schönbohm in diesem Amt verloren. Das geht nicht bei einer so | |
wichtigen Behörde, die sich um unsere Cybersicherheit kümmert und die durch | |
die veränderte Sicherheitslage aufgrund des furchtbaren Angriffskriegs | |
Putins so im Fokus steht. Da braucht es 100 Prozent Vertrauen. | |
Aber die Entscheidung fiel just nach der Böhmermann-Sendung. | |
Es gab mehrere Gründe für den Vertrauensverlust, einer davon war die breite | |
öffentliche Debatte zu schwerwiegenden Sicherheitsfragen in Zeiten des | |
russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. | |
Der Innenausschuss im Bundestag wollte Sie zwei Mal zum Fall Schönbohm | |
anhören – beide Male kamen Sie nicht. Warum haben Sie sich nicht den Fragen | |
gestellt? | |
Ich habe mich im Plenum dazu klar geäußert. Dazu war ich seit Oktober in | |
etlichen Innenausschuss-Sitzungen, in keiner hat mich jemand etwas zu der | |
Sache gefragt. Dass die Union das gerade jetzt hochzieht, zeigt, dass sie | |
den Hessenwahlkampf nach Berlin verlagern will. Aber ich werde in der | |
nächsten regulären Sitzung des Innenausschusses am kommenden Mittwoch da | |
sein und dann können alle ihre Fragen stellen. | |
Herr Schönbohm verklagt Ihr Ministerium inzwischen auf Schadenersatz wegen | |
Mobbings. Droht da das nächste Ungemach? | |
Mein Ministerium hält diese Vorwürfe für haltlos. Herr Schönbohm ist ja | |
keinesfalls entlassen worden, sondern schon seit dem Jahresbeginn Präsident | |
einer anderen Behörde. | |
Aber der Fall zeigt doch, wie angreifbar [3][Ihre Doppelrolle] gerade ist: | |
in Berlin Innenministerin, in Hessen Wahlkämpferin. Ist diese Doppelrolle | |
ein Fehler? | |
Als ich Bundesinnenministerin geworden bin, habe ich eine große | |
Verantwortung übernommen. Der werde ich gerecht. Im Übrigen: Es ist eine | |
demokratische Selbstverständlichkeit, dass man aus Ämtern heraus für Wahlen | |
kandidiert. | |
Aber lassen sich beide Aufgaben wirklich parallel stemmen? | |
Ich finde, ich habe als Ministerin schon sehr viel erreichen können. Ich | |
habe gerade erst eine große Reform beim Staatsbürgerschaftsrecht und der | |
Fachkräfteeinwanderung auf den Weg gebracht – zwei Projekte, über die | |
jahrelang diskutiert wurde. Ich war im Sommer viel als | |
Bundesinnenministerin unterwegs, um den Schutz kritischer Infrastrukturen | |
voranzubringen, den wir jetzt mit einem neuen Gesetz regeln. Dazu spreche | |
ich in dieser Zeit noch mehr mit Menschen ganz direkt über ihre Wünsche, | |
Sorgen und Nöte. Das macht einen Wahlkampf aus. Auch Frau Merkel hat als | |
Kanzlerin Wahlkampf gemacht, Herr Rhein macht das als Ministerpräsident. | |
Das ist doch ganz normal in der Demokratie. Ich bin überrascht, dass nur | |
mir immer diese Frage gestellt wird. | |
Bisher ist keine Wechselstimmung in Hessen spürbar. Wie wollen Sie das | |
drehen? Die größte Aufmerksamkeit bekamen Sie bisher für Ihre Forderung | |
nach einem extra Feiertag für Hessen. | |
Das ist einer von 33 Punkten aus unserem Aktionsprogramm. | |
Okay. Welcher Punkt bringt die Trendwende? | |
Nach 25 Jahren CDU ist die Zeit reif für einen Wechsel. Und ich bin | |
überzeugt, dass das Thema Bildung entscheidend ist. Wir wollen die | |
Kitagebühren für alle unter Dreijährigen abschaffen. Das würde den Familien | |
jeden Monat bis zu 400 Euro einsparen. Wir wollen Erzieherinnen und | |
Erziehern eine Ausbildungsvergütung bezahlen und die Verträge von | |
Lehrerinnen und Lehrern entfristen. Wir wollen einen Transformationsfonds | |
für Unternehmen auflegen und bei öffentlichen Vergaben einen Mindestlohn | |
von 15 Euro festschreiben. All das würde Hessen nach den Jahren des | |
Stillstands unter der CDU wieder voranbringen und sozialer machen. | |
Zuletzt setzten Sie verstärkt auf Law and Order: Ausweisung von sogenannten | |
Clanmitgliedern, mehr Abschiebungen, die verschärfte europäische | |
Asylreform. Was erhoffen Sie sich davon? | |
Ich komme aus der Kommunalpolitik, da handelt man pragmatisch. Das ist das, | |
was mich immer geleitet hat. Ich habe auch im Hessischen Landtag schon für | |
die notwendigen Instrumente der Sicherheitsbehörden gekämpft. Und wir haben | |
jetzt Zeiten der Krisen und einer veränderten Sicherheitslage in Europa, | |
auf die wir reagieren müssen. Da mache ich einfach als Innenministerin | |
meinen Job. Und zur Migration: Wir haben doch ein real existierendes | |
Problem. Die Kommunen schaffen es kaum noch, die Geflüchteten | |
unterzubringen, nachdem mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine zu | |
uns geflüchtet sind und viele weitere Schutzsuchende hinzukommen. Bei der | |
Migration gibt es aber keine nationalstaatlichen Lösungen. Jahrelang wurde | |
über ein europäisches Asylsystem erbittert gestritten. Eine Einigung haben | |
wir nun geschafft, worauf ich weiter stolz bin. | |
Auf Sammellager an der EU-Außengrenze? | |
Auf eine europäische Einigung, an der viele vor mir gescheitert sind. Fakt | |
ist: Asylverfahren an den Außengrenzen wird es nur für Menschen mit einer | |
geringen Aussicht auf Schutz in der EU geben. Mir geht es um das Grundrecht | |
auf Asyl, das bewahrt werden muss, um eine verbindliche Registrierung aller | |
Einreisen in die EU und um einen solidarischen Verteilmechanismus unter den | |
EU-Staaten. Und das ist geglückt. | |
Unwillige EU-Staaten aber können sich aus einer Geflüchtetenaufnahme | |
rauskaufen und selbst Familien mit Kindern müssen in die Außenlager. | |
Wir wollten Familien mit Kindern aus der Regelung ausnehmen, dafür gab es | |
aber keine Mehrheit. Ich bin aber zuversichtlich, dass uns das noch im | |
weiteren Verfahren im Europaparlament gelingt. Wir Sozialdemokraten kämpfen | |
weiter sehr dafür. | |
Die Kommunen fordern mehr Geld für die Aufnahme von Geflüchteten. Warum | |
macht die Ampel das nicht? | |
Der Bund hat Milliardenbeträge zur Verfügung gestellt und hilft weiter. Das | |
Problem ist doch, dass einige Länder wie das schwarz-grün regierte Hessen | |
das nicht direkt an die Kommunen weiterreichen. Ich fände es klug, wenn die | |
Kommunen direkt das Geld bekommen würden. Als Ministerpräsidentin würde ich | |
das genau so tun. Und ich würde die Kommunen auch an anderer Stelle | |
entlasten: Krankenhäuser oder der öffentliche Nahverkehr werden in Hessen | |
nur zu 8 Prozent vom Land mitfinanziert. Das würde ich deutlich anheben. | |
Bei den Kitas würde ich zwei Drittel der Betriebskosten übernehmen. | |
Woher wollen Sie das Geld dafür nehmen? | |
Wir müssen neu priorisieren. Indem wir unsere Behörden modernisieren, | |
könnten wir einiges einsparen. Und: Das Nichtstun käme uns deutlich teurer. | |
Mit der von Ihnen im Bund erleichterten Fachkräfteeinwanderung werben Sie | |
auch in Hessen, wo zuletzt 82.000 Fachkräfte fehlten. Hilft die Neuregelung | |
da schon? | |
Das Thema Fachkräftemangel begegnet mir überall. Dass Unternehmen jetzt | |
auch kluge Köpfe aus dem Ausland herholen dürfen, die ihren Abschluss | |
hierzulande machen, ist ein Gamechanger. Dafür bekomme ich viel Dank aus | |
der Wirtschaft. Das zeigt: Anders als die CDU packe ich die Dinge an, auch | |
wenn sie nicht leicht sind. | |
Sie haben auch die Bekämpfung des Rechtsextremismus zum Schwerpunkt | |
erkoren. Gleichzeitig aber klettert die AfD in Umfragen immer höher. Warum | |
wirkt der Kampf nicht? | |
Diese Entwicklung macht mir große Sorgen, weil ich sehe, dass die | |
Demokratie sehr viel aktiver verteidigt werden muss. Es schockiert mich, | |
dass das gerade in Hessen – wo der NSU-Mord in Kassel an Halit Yozgat | |
stattfand, der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der | |
rassistische Anschlag in Hanau – nicht stärker aufrüttelt. Und wie | |
staatszersetzend Rechtsextremisten agieren, zeigte sich zuletzt auch an den | |
Reichsbürgern und ihren Umsturzplänen, gegen die unsere Sicherheitsbehörden | |
hart vorgegangen sind. Es besorgt mich, dass nicht gesehen wird, dass auch | |
die AfD für diesen Rechtsextremismus steht und in Parlamenten den Boden | |
dafür bereitet. | |
Und in Thüringen setzte gerade die CDU gemeinsam mit der AfD einen Antrag | |
zu einer Steuersenkung gegen die rot-rot-grüne Landesregierung durch. | |
Das ist ein gefährlicher Beitrag zur Normalisierung von Rechtsextremen. Die | |
CDU reißt die Brandmauer nach rechts außen immer weiter ein. Und es stellt | |
infrage, ob man sich in diesem für die Demokratie so wichtigen Punkt noch | |
auf die CDU und ihren Vorsitzenden Friedrich Merz verlassen kann. | |
Wie lässt sich der AfD-Aufstieg stoppen? | |
Mit guter, sozialer Politik. Und das kann nur die SPD. Ich bin sicher, wenn | |
die Energie- und Lebensmittelpreise wieder runtergehen, wenn | |
Lohnsteigerungen ankommen und nicht von der Inflation aufgefressen werden, | |
wenn die Leute sehen, dass wir uns um ihren Alltag kümmern, dann werden wir | |
viel Vertrauen zurückgewinnen. Und wir müssen ganz bewusst die Mitte | |
unserer Gesellschaft stärken, die Engagierten, die Ehrenamtlichen. Gerade | |
in meinem Amt sehe ich ja, wie viele Leute sich für andere einsetzen: bei | |
der Feuerwehr, in Sportvereinen, bei der Hilfe für Geflüchtete. Da passiert | |
sehr viel Positives, was viel zu selten gesehen und erwähnt wird. | |
Sie wollen in Hessen eine Ampel schmieden. Im Bund prägt die bisher Streit. | |
Warum soll es in Hessen besser laufen? | |
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Ampel im Bund bewiesen haben, | |
dass wir große Krisen bewältigen und zugleich unser Land moderner und | |
gerechter machen. Unsere Halbzeitbilanz zeigt, dass wir schon 65 Prozent | |
der vereinbarten Dinge umgesetzt haben. Die Ampel ist viel besser als ihr | |
Ruf. Das haben die großen Herausforderungen, aber auch der Streit leider | |
manchmal verdeckt. Ich glaube, eine Koalition braucht das Verständnis, dass | |
alle Projekte am Ende auch bei allen einzahlen. | |
Die FDP und Grünen in Hessen verbindet aber reichlich Abneigung. | |
Früher hätte man auch nicht gedacht, dass die Grünen mit der Union | |
koalieren. | |
Haben Sie nicht Sorge, dass mit einem schlechten Wahlergebnis auch Ihr | |
Ministerinnenamt in Berlin nicht mehr haltbar ist? | |
Ich will Verantwortung tragen und meinen Beitrag leisten, unser Land | |
sicherer, gerechter und moderner zu machen. Dafür habe ich die volle | |
Unterstützung des Bundeskanzlers, jetzt im Wahlkampf genauso wie bei meiner | |
Arbeit im Kabinett. | |
15 Sep 2023 | |
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