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# taz.de -- 25 Jahre im Bundestag: Die Klasse von 1998
> Vor 25 Jahren wurde Rot-Grün gewählt. Drei Männer sitzen seitdem für die
> SPD im Bundestag. Ihr Weg zeigt, wie sich die Sozialdemokratie verändert
> hat.
Eine Straße inmitten von Feldern, postfossile Idylle mit Strommasten,
Windrädern und stillgelegtem Kohlekraftwerk. Die schwarze Limousine taucht
aus dem Nirgendwo auf, hält. „Tja, in Niedersachsen kann man sich leicht
verlaufen“, sagt [1][Hubertus Heil, 50], zu der verirrten Reporterin und
steigt aus. Das ist sein Wahlkreis, sechsmal hat er das Direktmandat
erobert. Er kenne hier jeden Busch.
„Dort hinten“, er zeigt auf einige entfernte Dächer, habe er die ersten
Lebensjahre mit seinen Eltern gewohnt. „Und dorthin“, er dreht sich um,
„ist meine Mutter mit uns gezogen, als mein Vater uns verlassen hat.“ Heil
sah ihn noch zweimal im Leben wieder. Hubertus war Schlüsselkind, Heil ist
Bundesminister für Arbeit und Soziales. Das personifizierte
sozialdemokratische Aufstiegsversprechen.
Auch [2][Carsten Schneider], 46, hat es weit gebracht. Bis in den sechsten
Stock des Kanzleramts. Der Blick aus dem Büro ist spektakulär. Man schaut
auf die gläserne Fassade des Hauptbahnhofs und das Haus der Kulturen der
Welt. Die Berliner Republik von oben. Schneider ist Staatsminister im
Kanzleramt, Beauftragter für den Osten. Staatsminister heißt – kein
Apparat, keine administrative Macht, aber diskursive.
„Jeden Mittwoch bin ich hier der Chef“, sagt [3][Michael Roth, 53]. Er
betritt mit flottem Schritt einen Besprechungsraum im zweiten Stock des
Paul-Löbe-Hauses. Hier tagt in den Sitzungswochen der Auswärtige Ausschuss
des Bundestags, Roth leitet ihn. An diesem Tag im Juli ist eine Gruppe
Hospitanten aus dem Auswärtigen Amt zu Gast. Junge Leute in Blazern und
Anzügen. Roth, weißes Hemd und Hosenträger, macht sie auf die Bildergalerie
aufmerksam. 14 Porträts hängen dort, alle Männer, drei davon
Sozialdemokraten. Jeder Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses ist hier
verewigt. „Irgendwann hängen sie mich dort auch auf“, sagt er.
Heil, Schneider und Roth verbindet, dass sie seit 1998 für die SPD im
Bundestag sitzen. Ein Vierteljahrhundert, mehr als ein halbes Arbeitsleben.
Sie sind die Dienstältesten ihrer Fraktion. Eigentlich sind sie zu viert –
Anette Kramme gehört auch zu den 98ern. Im Bundestag vertritt sie den
Wahlkreis Bayreuth, sie arbeitet außerdem als parlamentarische
Staatssekretärin im BMAS.
Die Versuche der taz, sie für ein Gespräch zu gewinnen, blieben erfolglos,
das soll mal der Chef machen, ließ sie ausrichten. Also drei Männer um die
50. Nicht jung, nicht alt, nicht die allererste Prominenz, aber in
wichtigen Positionen. An ihren Geschichten lässt sich ablesen, wie sich die
SPD in den 25 Jahren verändert hat, wie die bundesdeutsche Gesellschaft
sich gewandelt und die Welt eine andere geworden ist.
## Auf einer Welle
Als Heil, Schneider und Roth im September 1998 in den Bundestag einzogen,
wurde die DVD auf der Cebit als das neue Speichermedium präsentiert, der
Trainer der Nationalmannschaft hieß Berti Vogts, im Kreml betrank sich
Boris Jelzin, im Weißen Haus vögelte Bill Clinton mit Monica Lewinsky.
Und im Bonner Kanzleramt machte Helmut Kohl dem Sozialdemokraten Gerhard
Schröder Platz, SPD und Grüne regierten zum ersten Mal zusammen. Ein Foto,
aufgenommen im Oktober zum Ende der Koalitionsverhandlungen, zeigt Schröder
mit dem designierten Außenminister Joschka Fischer und SPD-Parteichef Oskar
Lafontaine. In weiten Anzügen und mit Champagnerschalen in den Händen.
Er sei auf einer Welle in den Bundestag getragen worden, sagt Roth später
in seinem Büro. Als die SPD ihn im hessischen Hersfeld-Rotenburg als
Direktkandidat aufstellt, ist er 27, hat gerade sein Politikstudium
beendet. „Ich habe mich erst mal gegen drei andere Mitbewerber in der SPD
durchsetzen müssen.“ Einer davon ein Gewerkschaftsfunktionär der IG
Bergbau, Chemie, Energie, sehr einflussreich. „Aber die Genossen wollten
einen Wechsel, etwas Neues.“ Er gewann den Wahlkreis mit knapp 55 Prozent
für die SPD.
Als Carsten Schneider nach der Wahl mit dem Zug aus Thüringen in Bonn
ankam, wartete das „Morgenmagazin“ am Bahnsteig auf ihn, erzählt er. Der
22-jährige Bankkaufmann aus Erfurt, direkt gewählt mit 37 Prozent, war
damals der jüngste Parlamentarier der deutschen Geschichte. Jung und Osten
– das war im sehr westdeutschen Bonn fast exotisch. Er war ein Star.
Andere Abgeordnete zeigten ihm, wo der Hammer hängt. Die Ansage war:
„Entweder du fängt jetzt hier an zu arbeiten oder machst weiter den
Vorturner für die Medien.“ Schneider verstand die Lektion. „Ich wollte
nicht der jugendpolitische Sprecher der SPD-Fraktion werden“, sagt er im
Rückblick, und durfte in den wichtigen Haushaltsausschuss.
## Die SPD generalüberholen
Hubertus Heil, der in Gifhorn-Peine für die SPD die absolute Mehrheit
geholt hatte, wäre am liebsten in den Ausschuss für Arbeit und Soziales
marschiert, aber die Fraktion zog Olaf Scholz und Andrea Nahles vor. Auch
für den Wirtschaftsausschuss galt der Neuling als zu unerfahren. „Also
packte man mich in den Gesundheitsausschuss.“ Seine erste Bundestagsrede
hielt Heil zur Legalisierung von Fixerstuben.
Die rot-grüne Party war bald zu Ende. Lafontaine trat im März 1999 als
Finanzminister zurück, die Nato griff kurz darauf in den Kosovokrieg ein
und bombardierte serbische Städte. Deutschland beteiligte sich. Ohne
UN-Mandat, aber mit der Begründung, ein zweites Auschwitz verhindern zu
müssen. Als der Nato-Sprecher getötete Zivilisten in Serbien als
„Kollateralschäden“ bezeichnete, forderten sogar Regierungspolitiker eine
Waffenruhe.
Der Einsatz ist bis heute umstritten. Alle drei, Heil, Roth und Schneider,
hatten dafür gestimmt. Alle drei hatten Zivildienst geleistet. „Ich habe
lange mit mir gerungen“, meint Heil. Die Hand zu heben sei ihm nicht so
schwer gefallen, sagt Roth. Er hält den Einsatz nach wie vor für richtig.
„Milošević war ein Schlächter. Wenn du die Hand hebst, machst du dich
schuldig, aber wenn du nichts tust, machst du dich ebenso schuldig“, sagt
er. „Solche Dilemmata dürfen einen nicht lähmen.“
Im Dezember 2001 hob er erneut die Hand, als der Bundestag nach dem 11.
September dafür stimmte, Bundeswehrsoldaten als Teil der internationalen
Isaf-Truppe zur Terroristenjagd nach Afghanistan zu schicken. Ein Einsatz,
der 20 Jahre später mit der erneuten Machtübernahme der Taliban und dem
fluchtartigen Abzug der Nato-Truppen endete.
Die Welt wurde nach dem Ende der Blockkonfrontation rasant
unübersichtlicher. In den USA steuerten islamistische Terroristen
Passagiermaschinen in das World Trade Center und brachten damit auch die
Post-Cold-War-Ordnung zum Einsturz. Im Bundestag sprach der neue
Kreml-Herrscher Wladimir Putin, die 650 Abgeordneten klatschten stehenden
Beifall. Zur Cebit, wo nun die ersten internetfähigen Handys gezeigt
wurden, kamen 850.000 Menschen. Die Dotcom-Blase wuchs und sollte einige
Jahre später platzen. Und die SPD hatte keinen Plan, wie sie sich in dieser
neuen Welt aufstellen sollte.
„Wir sind 1998 gewählt worden, weil die Bürgerinnen und Bürger einen
Aufbruch in Deutschland herbeisehnten und Rot-Grün für Erneuerung stand“,
sagt Heil.
## Erst Vortrag, dann Party
Rot-Grün war eine große Projektionsfläche, dahinter war wenig. „Den großen
Denkern meiner Partei fällt nichts mehr ein“, beklagte Heil 2001 in einem
Interview. Damals hatte er mit Gleichgesinnten gerade das Netzwerk Berlin
gegründet. Auch Roth und Schneider waren dabei. Die Parlamentarischen
Linken erschienen ihnen zu oldschool, die Seeheimer zu machtgeil.
„Die Netzwerker, das waren meine Kumpels aus der Juso-Zeit. Wir gehörten
nicht zum Stamokap-Flügel. Wir waren undogmatisch“, ruft Roth aus, auch
heute noch mit einem Anflug von Restbegeisterung. Die Jungen wollten
mitmischen, statt nur brav in ihren Ausschüssen zu sitzen und den Enkeln
Willy Brandts zu lauschen.
Ihr Ziel: Die SPD, deren letztes Grundsatzprogramm im Ausklang des Kalten
Krieges entstanden war, programmatisch generalzuüberholen. Zunächst waren
die Netzwerker eine Art Debattierclub, erzählt Heil. „Wir haben ständig
Leute aus der Wissenschaft, aus Gewerkschaften, aus der Wirtschaft
eingeladen zu sogenannten Netzwerkabenden, zu Vorträgen.“ Hinterher war
Party.
Die als Polit-Yuppies verspottete Truppe wurde schnell zu einem
Machtfaktor. Sie waren die Fußtruppe für die Schröder’sche Agenda-Politik,
die den bundesdeutschen Sozialstaat umkrempeln und die SPD an den Rand des
Abgrund bringen sollte.
Schröders Kanzleramtsminister Bodo Hombach schrieb 1999 ein Papier, welches
der deutsche Kanzler und der britische Premier Tony Blair gemeinsam als
„Weg nach vorn für Europas Sozialdemokratie“ veröffentlichten. Und dieser
Weg führte ihnen zufolge vor allem mitten hinein in den neoliberalen
Zeitgeist. Mehr Markt, weniger Staat, mehr Eigenleistung, weniger
Sozialausgaben, weniger Bürokratie.
Forderungen, die auch den Netzwerkern, die sich mit jungen
Labour-Abgeordneten in Gesprächskreisen trafen, flott über die Lippen
gingen. Kopfpauschale? Warum nicht. Studiengebühren. Klar, aber
nachgelagert. Kapitalgedeckte Rente als Zusatz? Gute Idee. Heute sagt Heil,
vielleicht habe man sich da vom Zeitgeist anstecken lassen.
## Die Geschichte mit dem Stein
Am 18. März 2003 stellte Gerhard Schröder in einer Grundsatzrede im
Deutschen Bundestag seine Agenda 2010 vor, eine Reihe von
arbeitgeberfreundlichen Ideen, die die hohe Arbeitslosigkeit dämpfen und
die Wirtschaft ankurbeln sollten. Das Arbeitslosengeld wurde mit der
Sozialhilfe zusammengelegt, die sich nicht am zuvor gezahlten Lohn, sondern
am – niedrigen – Bedarf orientiert. Jede Arbeit galt als zumutbar, wer sich
weigerte, wurde mit Sanktionen bestraft. Gut bezahlte
Facharbeiter:innen konnten binnen eines Jahres zu
Sozialhilfeempfänger:innen oder Billiglöhnern werden. Die
Abstiegsängste wuchsen, „Hartz IV“ war das Wort des Jahres 2004.
Die SPD stimmte auf einem Sonderparteitag mit 90 Prozent für die Agenda,
natürlich waren auch die Netzwerker dafür. „Alle haben sich doch über
Deutschland lustig gemacht, und mir war klar, wir müssen jetzt was anderes
machen“, sagt Roth. Doch die Wut der SPD-Wählerbasis wuchs.
Da ist die Geschichte mit dem Stein. Ins Peiner Wahlkreisbüro von Heil sei
eines Tages eine ältere Dame gekommen. Sie wolle ihm diesen Stein geben,
sagte sie zu Heil. Der fand das zunächst nett. Es war aber gar nicht nett
gemeint. „Sie sagte mir, sie wollte den in die Scheibe meines Büros werfen,
habe es sich aber anders überlegt: ‚Das muss ja ihre arme Sekretärin
wegmachen. Das werden sie gar nicht merken!‘“
2005 hatte Gerhard Schröder die vorgezogene Bundestagswahl knapp verloren,
die Ära von Angela Merkel begann. Die Christdemokratin regierte zunächst
weiter mit der SPD, die die von ihr angestoßenen Sozialreformen auch als
Juniorpartner fortsetzte. 2007 führte SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering
die Rente mit 67 ein.
Danach hätten ihn einige Betriebe in seinem Wahlkreis nicht mehr
eingeladen, erzählt Heil. Andere luden ihn erst recht ein. Die Peiner
Träger etwa. Die stellten ihn im Stahlwerk vor einen Ofen. „Kannst du hier
noch mit 67 arbeiten?“
## 4 Euro die Stunde
Nein, hätte er sicher nicht gekonnt. Aber Heil konnte auch keine Zweifel
aufkommen lassen. Der damalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck hatte ihn
2005 zum Generalsekretär gemacht, ein Job, bei dem es darauf ankommt, die
Reihen nach innen zu schließen und nach außen als Lautsprecher aufzutreten.
Kein Amt für Zwischentöne.
„Ich glaube, dass ich den Fehler gemacht habe, das einfach nur zu
verteidigen, weil ich meinte, der Regierung in der Funktion als
Generalsekretär den Rücken freihalten zu müssen. Aber ein gutes Gefühl
hatte ich nicht“, sagt er heute. Die starre Erhöhung des Rentenalters ohne
flexible Übergänge habe vielleicht mehr Vertrauen gekostet als all die
anderen Dinge, die tatsächlich Gegenstand der Agenda-Politik waren.
Einzig Carsten Schneider meldete öffentlich zaghafte Einwände an. Das
Problem im Osten waren nicht die angeblich arbeitsunwilligen Menschen, die
man in Jobs zwingen konnte – es gab kaum Jobs. Viele Gewerkschaften waren
2002 gegen einen allgemeinen Mindestlohn, Tarifverhandlungen seien ihre
Sache.
„Die Gewerkschaften hatten damals kein Interesse an der nicht organisierten
[4][ostdeutschen Arbeitnehmerschaft]“, so Schneider. So jobbten viele im
Osten jahrelang für 4 oder 5 Euro die Stunde, zeitweise arbeiteten 40
Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Mit Folgen bis heute.
Schneider kennt aus Sprechstunden Leute, die 700 Euro Rente bekommen. Wer
arm war, wird altersarm.
Für die SPD, die die Wahl von 1998 noch mit über 40 Prozent gewonnen hatte
und seitdem in Umfragen sanft abgeglitten war, setzte der Sturzflug ein.
Bei der Wahl 2009 wählten noch 23 Prozent der Wähler:innen SPD,
mittlerweile freut man sich, wenn man dieses Niveau halten kann. Heil
erzählt, dass seine Mutter 2013, schon schwer krank, noch in die SPD
eintrat. Der SPD gehe es ja zurzeit nicht so gut, sie könne jede
Unterstützung brauchen. Heil schluckt, als er sich daran erinnert.
Allein die Linkspartei, hervorgegangen aus der ostdeutschen PDS und den in
der WASG versammelten enttäuschten Ex-Sozialdemokrat:innen, profitierte von
der Krise der SPD. 2008 gelang ihr in Hessen und damit dem ersten
westdeutschen Bundesland der Einzug in den Landtag. Gleich darauf wurde sie
zum Zünglein an der Waage.
Die sozialdemokratische Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti wollte sich mit
Hilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen, obwohl sie das
vorher ausgeschlossen hatte. Er habe sie dazu ermutigt, erzählt Roth,
damals Vorsitzender des hessischen Unterbezirks Hersfeld-Rotenburg. „Sie
war sich nicht sicher, ob sie das machen kann, und ich habe ihr geraten:
Mach es, du wirst die Chance haben, nach einem schwierigen Start durch gute
Arbeit wieder Vertrauen zurückzugewinnen.“
Eine Fehleinschätzung. Vier Mitglieder der eigenen Fraktion verweigerten
Ypsilanti die Zustimmung, der Versuch einer rot-grünen, von der Linken
tolerierten Minderheitsregierung floppte. Mittlerweile ist Ypsilanti aus
der SPD ausgetreten, die Linke ist kurz davor, aus dem Hessischen Landtag
zu fliegen und die SPD seitdem in Wiesbaden nie wieder in die Nähe der
Macht gekommen.
## Raus aus dem Reihenhaus
Roth wurde Generalsekretär der hessischen SPD. Er habe seiner Partei wegen
seiner Mitverantwortung für diese Tragödie helfen wollen, sagt er. Vier
Jahre machte er den Job, den man, wie er findet, nicht zu lange ausüben
sollte. „Denn es macht dich kaputt.“
2013 wechselt Roth als Staatsminister für Europa ins Auswärtige Amt. Heil
wird 2017 Minister für Arbeit und Soziales und ist es noch immer. Schneider
wird im gleichen Jahr zum Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der
SPD-Fraktion gewählt.
Die SPD verabschiedet sich 2019 endgültig von Hartz IV und beschließt ein
neues Sozialstaatskonzept. Der Staat soll Arbeitslose nicht mehr gängeln
und drängeln, sondern Freund und Helfer sein.
Die arbeitslose Ingenieurin Mitte 50, der Dreher Anfang 60, der nicht mehr
stehen kann, sie sollen nicht mehr ins Callcenter geschickt und nach zwölf
Monaten aus ihren zu teuren Wohnungen oder Reihenhäuschen gedrängt werden.
Die SPD versucht mit einer neuen Kultur des Respekts vor der Arbeiterklasse
jene Wähler:innen zurückholen, die sie mit ihrer Agenda-Politik
vergrault hat. Das hat 2021 geklappt. Für die nächste Bundestagswahl sieht
es derzeit nicht ganz so gut aus.
## Das Ende der Agenda
Als SPD-Arbeitsministerin führt Andrea Nahles 2015 erstmals einen
gesetzlichen [5][Mindestlohn] ein und begrenzt damit die schlimmsten
Auswüchse auf dem Niedriglohnsektor. Eine Haltelinie, so sagt mancher
Genosse heute, die man schon 2003 hätte einziehen müssen, als man jenen
Sektor massiv ausweitete. Als ihr Nachfolger und Minister in der Großen
Koalition darf Heil das Rentenniveau erhöhen, er erlaubt Menschen, schon
mit 63 Jahren in den Ruhestand zu gehen, und boxt für jene, die zu wenig
Rente haben, staatliche Zuschläge in Form einer Grundrente durch.
Als Minister der Ampel ersetzt er schließlich Hartz IV durch ein
Bürgergeld. Ein Paradigmenwechsel, der sich nicht an fundamental höheren
Leistungen festmacht – die bleiben für viele enttäuschend niedrig. Doch nun
sollen die Jobcenter arbeitslose Menschen qualifizieren und weiterbilden
und nicht mehr wie früher von einem Hilfsjob in den nächsten vermitteln.
Vieles an der Agenda hält Heil nach wie vor für richtig, etwa die
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Bündelung in den
Jobcentern. „Aber die Art, wie die Agenda umgesetzt wurde, der Ton
dahinter, das hat dazu geführt, dass wir Verunsicherung in der damaligen
Zeit verstärkt haben.“
Sein Wagen hält vor einer Fabrik, die Solaranlagen samt Speichern
aufstellt. Der Geschäftsführer begrüßt „Hubertus“ mit Handschlag – man
kennt sich aus dem SPD-Unterbezirk. 20 Jahre nach der Agenda-Rede hat sich
die Situation auf dem Arbeitsmarkt gedreht. Nicht mehr Arbeitslosigkeit,
sondern Fachkräftemangel ist das Problem, überall fehlen Auszubildende und
Arbeitskräfte. „Wenn wir hier keine Willkommenskultur etablieren und die
Menschen zu uns holen, laufen wir auf einen gigantischen Wohlstandsverlust
zu“, warnt die Personalchefin. Man hat an Bierbänken Platz genommen, in
einer Halle, in der Solarpaneele gestapelt sind. Sie kommen alle aus China.
Ende August reist Carsten Schneider als Ostbeauftragter der Bundesregierung
durch entvölkerte Landstriche in Brandenburg und Sachsen, aus denen die
Menschen in den 90ern noch mit Wegzugprämien fortgelockt wurden. „Wir haben
heute Arbeit ohne Ende, was uns fehlt, sind die Menschen“, sagt die
parteilose Bürgermeisterin von Spremberg zu Schneider. Hier wie im übrigen
Ostdeutschland kann sich die rechtsextreme AfD auf satte 30 Prozent
Zustimmung stützen. In drei ostdeutschen Bundesländern wird im kommenden
Jahr gewählt. Er mache sich Sorgen, sagt der Ostbeauftragte.
Ende September 2023. [6][In der Ukraine herrscht seit eineinhalb Jahren
Krieg], Putin, der immer noch im Kreml sitzt, hat seinen Truppen am 24.
Februar 2022 den Befehl zum Einmarsch gegeben. Im Weißen Haus regiert mit
Joe Biden wieder ein Demokrat. Die Cebit gibt es nicht mehr. Und der
Trainer der Deutschen Nationalmannschaft hieß gerade kurz mal wieder Rudi
Völler.
## Die Machos sind weg
Auf der Dachterrasse eines Hochhauses in der Mitte Berlins lädt das
Netzwerk zur Party ein. Eine neue Generation von Sprecher:innen eröffnet
das Event, die Luft ist lau, die vielen jungen Genoss:innen stehen dicht
gedrängt. Gegen 23 Uhr gesellt sich auch der Kanzler dazu, der nun Olaf
Scholz heißt. Netzwerk und Party, das gehörte schon immer zusammen, meint
Hubertus Heil. „Aber früher hätten wir länger gemacht“, sagt er, als er
nach Mitternacht im Aufzug nach unten gleitet. „Wir sind eben älter
geworden.“
Was hat sich verändert? Der Umgang miteinander, sagt Roth. Die machohafte
Art, damals der Normalzustand in der Politik, sei fast weg. „Die Schröders,
Lafontaines und Fischers, solche Typen gibt es heute nicht mehr. Die haben
ihr Umfeld ja gar nicht mehr wahrgenommen. Nur wenn man Macht hatte oder so
richtig widerspenstig war, wurde man von diesen Typen ernst genommen.“ Olaf
Scholz, sagt Roth, sei komplett anders. Der habe mit diesem Machogehabe
nichts am Hut.
In der aktuellen SPD-Fraktion ist ein Viertel jünger als 35 Jahre. Als er
noch Erster Parlamentarischer Geschäftsführer war, hat ihnen Carsten
Schneider 2021 eine Einführung gegeben, wie es hier läuft. Pflegt euren
Wahlkreis, sagte er zu ihnen. „Die ersten vier Jahre sind Bewerbungszeit.“
Und dass man besser Distanz zu Lobbyisten halte. Im Grundgesetz stehe
nicht, dass Abgeordnete ans Telefon gehen müssten, wenn Lobbyisten was
wollten. „Das Gemeinwohl ruft selten bei Abgeordneten an.“
Normalerweise sind junge SPDler:innen eher links und rücken im Lauf der
Zeit nach rechts. „Bei mir ist es umgekehrt. Ich bin eher linker geworden“,
sagt Schneider. Das ist einerseits kurios, denn Schneider gehört
mittlerweile zum Seeheimer Kreis, den konservativen Sozialdemokraten. Aber
es zeigt, wie sehr der Tanker SPD im Laufe der Jahre wieder vom
neoliberalen ins linke Fahrwasser gesteuert ist. Für Schneider ist eine
gerechte Vermögensverteilung mittlerweile eine zentrale Frage. Er hat
versucht, ein „Erbe für alle“ in die Debatte einzubringen. Die SPD werkelt
an einer Reform der Erbschaftssteuer, die Milliardenerben stärker schröpfen
soll.
In zwei Jahren sind wieder Bundestagswahlen. Wollen Roth, Schneider und
Heil erneut antreten, oder ist es dann mal Zeit für etwas Neues? „Für mich
war immer klar, wenn man mit 28 in den Bundestag einzieht, dann wird man
mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht als Bundestagsabgeordneter in
den Ruhestand gehen“, sagt Roth. Wolfgang Schäuble sei für ihn kein
Vorbild. Vor zwei Jahren hatte er eine mentale Krise, legte zwei längere
Auszeiten ein. Ob er noch einmal antritt, werde er in Ruhe mit seinem Mann
und seinen Kollegen besprechen, sagt er. Schneider will das im nächsten
Jahr entscheiden.
„Es gibt Menschen, für die ist Politik eine Sucht“, sagt Heil. Er habe
Kollegen kennengelernt, die sich für unersetzbar hielten und nicht mehr mit
Niederlagen umgehen konnten. Bevor es so weit komme, wolle er aufhören.
„Aber ich will noch was erreichen.“ Bundeskanzler? „Nein, als
Arbeitsminister.“
Die Klasse von 1998 ist sich nach wie vor verbunden. „Wir gucken uns
manchmal ein bisschen verwundert an, dass wir jetzt schon so lange dabei
sind“, sagt Heil. Man habe ja immer die Alten vor der Nase. Er habe das
zunächst gar nicht glauben wollen, meint Roth. Sie, die Dienstältesten.
„Ich bin dann die Listen durchgegangen und dachte, da muss doch noch jemand
vor uns eingezogen sein. Aber da war niemand mehr.“ Ob er dann in der
nächsten Legislatur zum Alterspräsidenten gewählt werde, fragt sich Heil
manchmal. Denn nach der Geschäftsordnung des Bundestages steht das Amt dem
Dienstältesten zu. Und dann hofft er, dass Jürgen Trittin, 69, noch einmal
kandidiert. Der Grüne sitzt ja auch schon seit 25 Jahren ununterbrochen im
Bundestag.
30 Sep 2023
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## AUTOREN
Anna Lehmann
Stefan Reinecke
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