# taz.de -- 25 Jahre im Bundestag: Die Klasse von 1998 | |
> Vor 25 Jahren wurde Rot-Grün gewählt. Drei Männer sitzen seitdem für die | |
> SPD im Bundestag. Ihr Weg zeigt, wie sich die Sozialdemokratie verändert | |
> hat. | |
Eine Straße inmitten von Feldern, postfossile Idylle mit Strommasten, | |
Windrädern und stillgelegtem Kohlekraftwerk. Die schwarze Limousine taucht | |
aus dem Nirgendwo auf, hält. „Tja, in Niedersachsen kann man sich leicht | |
verlaufen“, sagt [1][Hubertus Heil, 50], zu der verirrten Reporterin und | |
steigt aus. Das ist sein Wahlkreis, sechsmal hat er das Direktmandat | |
erobert. Er kenne hier jeden Busch. | |
„Dort hinten“, er zeigt auf einige entfernte Dächer, habe er die ersten | |
Lebensjahre mit seinen Eltern gewohnt. „Und dorthin“, er dreht sich um, | |
„ist meine Mutter mit uns gezogen, als mein Vater uns verlassen hat.“ Heil | |
sah ihn noch zweimal im Leben wieder. Hubertus war Schlüsselkind, Heil ist | |
Bundesminister für Arbeit und Soziales. Das personifizierte | |
sozialdemokratische Aufstiegsversprechen. | |
Auch [2][Carsten Schneider], 46, hat es weit gebracht. Bis in den sechsten | |
Stock des Kanzleramts. Der Blick aus dem Büro ist spektakulär. Man schaut | |
auf die gläserne Fassade des Hauptbahnhofs und das Haus der Kulturen der | |
Welt. Die Berliner Republik von oben. Schneider ist Staatsminister im | |
Kanzleramt, Beauftragter für den Osten. Staatsminister heißt – kein | |
Apparat, keine administrative Macht, aber diskursive. | |
„Jeden Mittwoch bin ich hier der Chef“, sagt [3][Michael Roth, 53]. Er | |
betritt mit flottem Schritt einen Besprechungsraum im zweiten Stock des | |
Paul-Löbe-Hauses. Hier tagt in den Sitzungswochen der Auswärtige Ausschuss | |
des Bundestags, Roth leitet ihn. An diesem Tag im Juli ist eine Gruppe | |
Hospitanten aus dem Auswärtigen Amt zu Gast. Junge Leute in Blazern und | |
Anzügen. Roth, weißes Hemd und Hosenträger, macht sie auf die Bildergalerie | |
aufmerksam. 14 Porträts hängen dort, alle Männer, drei davon | |
Sozialdemokraten. Jeder Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses ist hier | |
verewigt. „Irgendwann hängen sie mich dort auch auf“, sagt er. | |
Heil, Schneider und Roth verbindet, dass sie seit 1998 für die SPD im | |
Bundestag sitzen. Ein Vierteljahrhundert, mehr als ein halbes Arbeitsleben. | |
Sie sind die Dienstältesten ihrer Fraktion. Eigentlich sind sie zu viert – | |
Anette Kramme gehört auch zu den 98ern. Im Bundestag vertritt sie den | |
Wahlkreis Bayreuth, sie arbeitet außerdem als parlamentarische | |
Staatssekretärin im BMAS. | |
Die Versuche der taz, sie für ein Gespräch zu gewinnen, blieben erfolglos, | |
das soll mal der Chef machen, ließ sie ausrichten. Also drei Männer um die | |
50. Nicht jung, nicht alt, nicht die allererste Prominenz, aber in | |
wichtigen Positionen. An ihren Geschichten lässt sich ablesen, wie sich die | |
SPD in den 25 Jahren verändert hat, wie die bundesdeutsche Gesellschaft | |
sich gewandelt und die Welt eine andere geworden ist. | |
## Auf einer Welle | |
Als Heil, Schneider und Roth im September 1998 in den Bundestag einzogen, | |
wurde die DVD auf der Cebit als das neue Speichermedium präsentiert, der | |
Trainer der Nationalmannschaft hieß Berti Vogts, im Kreml betrank sich | |
Boris Jelzin, im Weißen Haus vögelte Bill Clinton mit Monica Lewinsky. | |
Und im Bonner Kanzleramt machte Helmut Kohl dem Sozialdemokraten Gerhard | |
Schröder Platz, SPD und Grüne regierten zum ersten Mal zusammen. Ein Foto, | |
aufgenommen im Oktober zum Ende der Koalitionsverhandlungen, zeigt Schröder | |
mit dem designierten Außenminister Joschka Fischer und SPD-Parteichef Oskar | |
Lafontaine. In weiten Anzügen und mit Champagnerschalen in den Händen. | |
Er sei auf einer Welle in den Bundestag getragen worden, sagt Roth später | |
in seinem Büro. Als die SPD ihn im hessischen Hersfeld-Rotenburg als | |
Direktkandidat aufstellt, ist er 27, hat gerade sein Politikstudium | |
beendet. „Ich habe mich erst mal gegen drei andere Mitbewerber in der SPD | |
durchsetzen müssen.“ Einer davon ein Gewerkschaftsfunktionär der IG | |
Bergbau, Chemie, Energie, sehr einflussreich. „Aber die Genossen wollten | |
einen Wechsel, etwas Neues.“ Er gewann den Wahlkreis mit knapp 55 Prozent | |
für die SPD. | |
Als Carsten Schneider nach der Wahl mit dem Zug aus Thüringen in Bonn | |
ankam, wartete das „Morgenmagazin“ am Bahnsteig auf ihn, erzählt er. Der | |
22-jährige Bankkaufmann aus Erfurt, direkt gewählt mit 37 Prozent, war | |
damals der jüngste Parlamentarier der deutschen Geschichte. Jung und Osten | |
– das war im sehr westdeutschen Bonn fast exotisch. Er war ein Star. | |
Andere Abgeordnete zeigten ihm, wo der Hammer hängt. Die Ansage war: | |
„Entweder du fängt jetzt hier an zu arbeiten oder machst weiter den | |
Vorturner für die Medien.“ Schneider verstand die Lektion. „Ich wollte | |
nicht der jugendpolitische Sprecher der SPD-Fraktion werden“, sagt er im | |
Rückblick, und durfte in den wichtigen Haushaltsausschuss. | |
## Die SPD generalüberholen | |
Hubertus Heil, der in Gifhorn-Peine für die SPD die absolute Mehrheit | |
geholt hatte, wäre am liebsten in den Ausschuss für Arbeit und Soziales | |
marschiert, aber die Fraktion zog Olaf Scholz und Andrea Nahles vor. Auch | |
für den Wirtschaftsausschuss galt der Neuling als zu unerfahren. „Also | |
packte man mich in den Gesundheitsausschuss.“ Seine erste Bundestagsrede | |
hielt Heil zur Legalisierung von Fixerstuben. | |
Die rot-grüne Party war bald zu Ende. Lafontaine trat im März 1999 als | |
Finanzminister zurück, die Nato griff kurz darauf in den Kosovokrieg ein | |
und bombardierte serbische Städte. Deutschland beteiligte sich. Ohne | |
UN-Mandat, aber mit der Begründung, ein zweites Auschwitz verhindern zu | |
müssen. Als der Nato-Sprecher getötete Zivilisten in Serbien als | |
„Kollateralschäden“ bezeichnete, forderten sogar Regierungspolitiker eine | |
Waffenruhe. | |
Der Einsatz ist bis heute umstritten. Alle drei, Heil, Roth und Schneider, | |
hatten dafür gestimmt. Alle drei hatten Zivildienst geleistet. „Ich habe | |
lange mit mir gerungen“, meint Heil. Die Hand zu heben sei ihm nicht so | |
schwer gefallen, sagt Roth. Er hält den Einsatz nach wie vor für richtig. | |
„Milošević war ein Schlächter. Wenn du die Hand hebst, machst du dich | |
schuldig, aber wenn du nichts tust, machst du dich ebenso schuldig“, sagt | |
er. „Solche Dilemmata dürfen einen nicht lähmen.“ | |
Im Dezember 2001 hob er erneut die Hand, als der Bundestag nach dem 11. | |
September dafür stimmte, Bundeswehrsoldaten als Teil der internationalen | |
Isaf-Truppe zur Terroristenjagd nach Afghanistan zu schicken. Ein Einsatz, | |
der 20 Jahre später mit der erneuten Machtübernahme der Taliban und dem | |
fluchtartigen Abzug der Nato-Truppen endete. | |
Die Welt wurde nach dem Ende der Blockkonfrontation rasant | |
unübersichtlicher. In den USA steuerten islamistische Terroristen | |
Passagiermaschinen in das World Trade Center und brachten damit auch die | |
Post-Cold-War-Ordnung zum Einsturz. Im Bundestag sprach der neue | |
Kreml-Herrscher Wladimir Putin, die 650 Abgeordneten klatschten stehenden | |
Beifall. Zur Cebit, wo nun die ersten internetfähigen Handys gezeigt | |
wurden, kamen 850.000 Menschen. Die Dotcom-Blase wuchs und sollte einige | |
Jahre später platzen. Und die SPD hatte keinen Plan, wie sie sich in dieser | |
neuen Welt aufstellen sollte. | |
„Wir sind 1998 gewählt worden, weil die Bürgerinnen und Bürger einen | |
Aufbruch in Deutschland herbeisehnten und Rot-Grün für Erneuerung stand“, | |
sagt Heil. | |
## Erst Vortrag, dann Party | |
Rot-Grün war eine große Projektionsfläche, dahinter war wenig. „Den großen | |
Denkern meiner Partei fällt nichts mehr ein“, beklagte Heil 2001 in einem | |
Interview. Damals hatte er mit Gleichgesinnten gerade das Netzwerk Berlin | |
gegründet. Auch Roth und Schneider waren dabei. Die Parlamentarischen | |
Linken erschienen ihnen zu oldschool, die Seeheimer zu machtgeil. | |
„Die Netzwerker, das waren meine Kumpels aus der Juso-Zeit. Wir gehörten | |
nicht zum Stamokap-Flügel. Wir waren undogmatisch“, ruft Roth aus, auch | |
heute noch mit einem Anflug von Restbegeisterung. Die Jungen wollten | |
mitmischen, statt nur brav in ihren Ausschüssen zu sitzen und den Enkeln | |
Willy Brandts zu lauschen. | |
Ihr Ziel: Die SPD, deren letztes Grundsatzprogramm im Ausklang des Kalten | |
Krieges entstanden war, programmatisch generalzuüberholen. Zunächst waren | |
die Netzwerker eine Art Debattierclub, erzählt Heil. „Wir haben ständig | |
Leute aus der Wissenschaft, aus Gewerkschaften, aus der Wirtschaft | |
eingeladen zu sogenannten Netzwerkabenden, zu Vorträgen.“ Hinterher war | |
Party. | |
Die als Polit-Yuppies verspottete Truppe wurde schnell zu einem | |
Machtfaktor. Sie waren die Fußtruppe für die Schröder’sche Agenda-Politik, | |
die den bundesdeutschen Sozialstaat umkrempeln und die SPD an den Rand des | |
Abgrund bringen sollte. | |
Schröders Kanzleramtsminister Bodo Hombach schrieb 1999 ein Papier, welches | |
der deutsche Kanzler und der britische Premier Tony Blair gemeinsam als | |
„Weg nach vorn für Europas Sozialdemokratie“ veröffentlichten. Und dieser | |
Weg führte ihnen zufolge vor allem mitten hinein in den neoliberalen | |
Zeitgeist. Mehr Markt, weniger Staat, mehr Eigenleistung, weniger | |
Sozialausgaben, weniger Bürokratie. | |
Forderungen, die auch den Netzwerkern, die sich mit jungen | |
Labour-Abgeordneten in Gesprächskreisen trafen, flott über die Lippen | |
gingen. Kopfpauschale? Warum nicht. Studiengebühren. Klar, aber | |
nachgelagert. Kapitalgedeckte Rente als Zusatz? Gute Idee. Heute sagt Heil, | |
vielleicht habe man sich da vom Zeitgeist anstecken lassen. | |
## Die Geschichte mit dem Stein | |
Am 18. März 2003 stellte Gerhard Schröder in einer Grundsatzrede im | |
Deutschen Bundestag seine Agenda 2010 vor, eine Reihe von | |
arbeitgeberfreundlichen Ideen, die die hohe Arbeitslosigkeit dämpfen und | |
die Wirtschaft ankurbeln sollten. Das Arbeitslosengeld wurde mit der | |
Sozialhilfe zusammengelegt, die sich nicht am zuvor gezahlten Lohn, sondern | |
am – niedrigen – Bedarf orientiert. Jede Arbeit galt als zumutbar, wer sich | |
weigerte, wurde mit Sanktionen bestraft. Gut bezahlte | |
Facharbeiter:innen konnten binnen eines Jahres zu | |
Sozialhilfeempfänger:innen oder Billiglöhnern werden. Die | |
Abstiegsängste wuchsen, „Hartz IV“ war das Wort des Jahres 2004. | |
Die SPD stimmte auf einem Sonderparteitag mit 90 Prozent für die Agenda, | |
natürlich waren auch die Netzwerker dafür. „Alle haben sich doch über | |
Deutschland lustig gemacht, und mir war klar, wir müssen jetzt was anderes | |
machen“, sagt Roth. Doch die Wut der SPD-Wählerbasis wuchs. | |
Da ist die Geschichte mit dem Stein. Ins Peiner Wahlkreisbüro von Heil sei | |
eines Tages eine ältere Dame gekommen. Sie wolle ihm diesen Stein geben, | |
sagte sie zu Heil. Der fand das zunächst nett. Es war aber gar nicht nett | |
gemeint. „Sie sagte mir, sie wollte den in die Scheibe meines Büros werfen, | |
habe es sich aber anders überlegt: ‚Das muss ja ihre arme Sekretärin | |
wegmachen. Das werden sie gar nicht merken!‘“ | |
2005 hatte Gerhard Schröder die vorgezogene Bundestagswahl knapp verloren, | |
die Ära von Angela Merkel begann. Die Christdemokratin regierte zunächst | |
weiter mit der SPD, die die von ihr angestoßenen Sozialreformen auch als | |
Juniorpartner fortsetzte. 2007 führte SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering | |
die Rente mit 67 ein. | |
Danach hätten ihn einige Betriebe in seinem Wahlkreis nicht mehr | |
eingeladen, erzählt Heil. Andere luden ihn erst recht ein. Die Peiner | |
Träger etwa. Die stellten ihn im Stahlwerk vor einen Ofen. „Kannst du hier | |
noch mit 67 arbeiten?“ | |
## 4 Euro die Stunde | |
Nein, hätte er sicher nicht gekonnt. Aber Heil konnte auch keine Zweifel | |
aufkommen lassen. Der damalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck hatte ihn | |
2005 zum Generalsekretär gemacht, ein Job, bei dem es darauf ankommt, die | |
Reihen nach innen zu schließen und nach außen als Lautsprecher aufzutreten. | |
Kein Amt für Zwischentöne. | |
„Ich glaube, dass ich den Fehler gemacht habe, das einfach nur zu | |
verteidigen, weil ich meinte, der Regierung in der Funktion als | |
Generalsekretär den Rücken freihalten zu müssen. Aber ein gutes Gefühl | |
hatte ich nicht“, sagt er heute. Die starre Erhöhung des Rentenalters ohne | |
flexible Übergänge habe vielleicht mehr Vertrauen gekostet als all die | |
anderen Dinge, die tatsächlich Gegenstand der Agenda-Politik waren. | |
Einzig Carsten Schneider meldete öffentlich zaghafte Einwände an. Das | |
Problem im Osten waren nicht die angeblich arbeitsunwilligen Menschen, die | |
man in Jobs zwingen konnte – es gab kaum Jobs. Viele Gewerkschaften waren | |
2002 gegen einen allgemeinen Mindestlohn, Tarifverhandlungen seien ihre | |
Sache. | |
„Die Gewerkschaften hatten damals kein Interesse an der nicht organisierten | |
[4][ostdeutschen Arbeitnehmerschaft]“, so Schneider. So jobbten viele im | |
Osten jahrelang für 4 oder 5 Euro die Stunde, zeitweise arbeiteten 40 | |
Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Mit Folgen bis heute. | |
Schneider kennt aus Sprechstunden Leute, die 700 Euro Rente bekommen. Wer | |
arm war, wird altersarm. | |
Für die SPD, die die Wahl von 1998 noch mit über 40 Prozent gewonnen hatte | |
und seitdem in Umfragen sanft abgeglitten war, setzte der Sturzflug ein. | |
Bei der Wahl 2009 wählten noch 23 Prozent der Wähler:innen SPD, | |
mittlerweile freut man sich, wenn man dieses Niveau halten kann. Heil | |
erzählt, dass seine Mutter 2013, schon schwer krank, noch in die SPD | |
eintrat. Der SPD gehe es ja zurzeit nicht so gut, sie könne jede | |
Unterstützung brauchen. Heil schluckt, als er sich daran erinnert. | |
Allein die Linkspartei, hervorgegangen aus der ostdeutschen PDS und den in | |
der WASG versammelten enttäuschten Ex-Sozialdemokrat:innen, profitierte von | |
der Krise der SPD. 2008 gelang ihr in Hessen und damit dem ersten | |
westdeutschen Bundesland der Einzug in den Landtag. Gleich darauf wurde sie | |
zum Zünglein an der Waage. | |
Die sozialdemokratische Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti wollte sich mit | |
Hilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen, obwohl sie das | |
vorher ausgeschlossen hatte. Er habe sie dazu ermutigt, erzählt Roth, | |
damals Vorsitzender des hessischen Unterbezirks Hersfeld-Rotenburg. „Sie | |
war sich nicht sicher, ob sie das machen kann, und ich habe ihr geraten: | |
Mach es, du wirst die Chance haben, nach einem schwierigen Start durch gute | |
Arbeit wieder Vertrauen zurückzugewinnen.“ | |
Eine Fehleinschätzung. Vier Mitglieder der eigenen Fraktion verweigerten | |
Ypsilanti die Zustimmung, der Versuch einer rot-grünen, von der Linken | |
tolerierten Minderheitsregierung floppte. Mittlerweile ist Ypsilanti aus | |
der SPD ausgetreten, die Linke ist kurz davor, aus dem Hessischen Landtag | |
zu fliegen und die SPD seitdem in Wiesbaden nie wieder in die Nähe der | |
Macht gekommen. | |
## Raus aus dem Reihenhaus | |
Roth wurde Generalsekretär der hessischen SPD. Er habe seiner Partei wegen | |
seiner Mitverantwortung für diese Tragödie helfen wollen, sagt er. Vier | |
Jahre machte er den Job, den man, wie er findet, nicht zu lange ausüben | |
sollte. „Denn es macht dich kaputt.“ | |
2013 wechselt Roth als Staatsminister für Europa ins Auswärtige Amt. Heil | |
wird 2017 Minister für Arbeit und Soziales und ist es noch immer. Schneider | |
wird im gleichen Jahr zum Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der | |
SPD-Fraktion gewählt. | |
Die SPD verabschiedet sich 2019 endgültig von Hartz IV und beschließt ein | |
neues Sozialstaatskonzept. Der Staat soll Arbeitslose nicht mehr gängeln | |
und drängeln, sondern Freund und Helfer sein. | |
Die arbeitslose Ingenieurin Mitte 50, der Dreher Anfang 60, der nicht mehr | |
stehen kann, sie sollen nicht mehr ins Callcenter geschickt und nach zwölf | |
Monaten aus ihren zu teuren Wohnungen oder Reihenhäuschen gedrängt werden. | |
Die SPD versucht mit einer neuen Kultur des Respekts vor der Arbeiterklasse | |
jene Wähler:innen zurückholen, die sie mit ihrer Agenda-Politik | |
vergrault hat. Das hat 2021 geklappt. Für die nächste Bundestagswahl sieht | |
es derzeit nicht ganz so gut aus. | |
## Das Ende der Agenda | |
Als SPD-Arbeitsministerin führt Andrea Nahles 2015 erstmals einen | |
gesetzlichen [5][Mindestlohn] ein und begrenzt damit die schlimmsten | |
Auswüchse auf dem Niedriglohnsektor. Eine Haltelinie, so sagt mancher | |
Genosse heute, die man schon 2003 hätte einziehen müssen, als man jenen | |
Sektor massiv ausweitete. Als ihr Nachfolger und Minister in der Großen | |
Koalition darf Heil das Rentenniveau erhöhen, er erlaubt Menschen, schon | |
mit 63 Jahren in den Ruhestand zu gehen, und boxt für jene, die zu wenig | |
Rente haben, staatliche Zuschläge in Form einer Grundrente durch. | |
Als Minister der Ampel ersetzt er schließlich Hartz IV durch ein | |
Bürgergeld. Ein Paradigmenwechsel, der sich nicht an fundamental höheren | |
Leistungen festmacht – die bleiben für viele enttäuschend niedrig. Doch nun | |
sollen die Jobcenter arbeitslose Menschen qualifizieren und weiterbilden | |
und nicht mehr wie früher von einem Hilfsjob in den nächsten vermitteln. | |
Vieles an der Agenda hält Heil nach wie vor für richtig, etwa die | |
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Bündelung in den | |
Jobcentern. „Aber die Art, wie die Agenda umgesetzt wurde, der Ton | |
dahinter, das hat dazu geführt, dass wir Verunsicherung in der damaligen | |
Zeit verstärkt haben.“ | |
Sein Wagen hält vor einer Fabrik, die Solaranlagen samt Speichern | |
aufstellt. Der Geschäftsführer begrüßt „Hubertus“ mit Handschlag – man | |
kennt sich aus dem SPD-Unterbezirk. 20 Jahre nach der Agenda-Rede hat sich | |
die Situation auf dem Arbeitsmarkt gedreht. Nicht mehr Arbeitslosigkeit, | |
sondern Fachkräftemangel ist das Problem, überall fehlen Auszubildende und | |
Arbeitskräfte. „Wenn wir hier keine Willkommenskultur etablieren und die | |
Menschen zu uns holen, laufen wir auf einen gigantischen Wohlstandsverlust | |
zu“, warnt die Personalchefin. Man hat an Bierbänken Platz genommen, in | |
einer Halle, in der Solarpaneele gestapelt sind. Sie kommen alle aus China. | |
Ende August reist Carsten Schneider als Ostbeauftragter der Bundesregierung | |
durch entvölkerte Landstriche in Brandenburg und Sachsen, aus denen die | |
Menschen in den 90ern noch mit Wegzugprämien fortgelockt wurden. „Wir haben | |
heute Arbeit ohne Ende, was uns fehlt, sind die Menschen“, sagt die | |
parteilose Bürgermeisterin von Spremberg zu Schneider. Hier wie im übrigen | |
Ostdeutschland kann sich die rechtsextreme AfD auf satte 30 Prozent | |
Zustimmung stützen. In drei ostdeutschen Bundesländern wird im kommenden | |
Jahr gewählt. Er mache sich Sorgen, sagt der Ostbeauftragte. | |
Ende September 2023. [6][In der Ukraine herrscht seit eineinhalb Jahren | |
Krieg], Putin, der immer noch im Kreml sitzt, hat seinen Truppen am 24. | |
Februar 2022 den Befehl zum Einmarsch gegeben. Im Weißen Haus regiert mit | |
Joe Biden wieder ein Demokrat. Die Cebit gibt es nicht mehr. Und der | |
Trainer der Deutschen Nationalmannschaft hieß gerade kurz mal wieder Rudi | |
Völler. | |
## Die Machos sind weg | |
Auf der Dachterrasse eines Hochhauses in der Mitte Berlins lädt das | |
Netzwerk zur Party ein. Eine neue Generation von Sprecher:innen eröffnet | |
das Event, die Luft ist lau, die vielen jungen Genoss:innen stehen dicht | |
gedrängt. Gegen 23 Uhr gesellt sich auch der Kanzler dazu, der nun Olaf | |
Scholz heißt. Netzwerk und Party, das gehörte schon immer zusammen, meint | |
Hubertus Heil. „Aber früher hätten wir länger gemacht“, sagt er, als er | |
nach Mitternacht im Aufzug nach unten gleitet. „Wir sind eben älter | |
geworden.“ | |
Was hat sich verändert? Der Umgang miteinander, sagt Roth. Die machohafte | |
Art, damals der Normalzustand in der Politik, sei fast weg. „Die Schröders, | |
Lafontaines und Fischers, solche Typen gibt es heute nicht mehr. Die haben | |
ihr Umfeld ja gar nicht mehr wahrgenommen. Nur wenn man Macht hatte oder so | |
richtig widerspenstig war, wurde man von diesen Typen ernst genommen.“ Olaf | |
Scholz, sagt Roth, sei komplett anders. Der habe mit diesem Machogehabe | |
nichts am Hut. | |
In der aktuellen SPD-Fraktion ist ein Viertel jünger als 35 Jahre. Als er | |
noch Erster Parlamentarischer Geschäftsführer war, hat ihnen Carsten | |
Schneider 2021 eine Einführung gegeben, wie es hier läuft. Pflegt euren | |
Wahlkreis, sagte er zu ihnen. „Die ersten vier Jahre sind Bewerbungszeit.“ | |
Und dass man besser Distanz zu Lobbyisten halte. Im Grundgesetz stehe | |
nicht, dass Abgeordnete ans Telefon gehen müssten, wenn Lobbyisten was | |
wollten. „Das Gemeinwohl ruft selten bei Abgeordneten an.“ | |
Normalerweise sind junge SPDler:innen eher links und rücken im Lauf der | |
Zeit nach rechts. „Bei mir ist es umgekehrt. Ich bin eher linker geworden“, | |
sagt Schneider. Das ist einerseits kurios, denn Schneider gehört | |
mittlerweile zum Seeheimer Kreis, den konservativen Sozialdemokraten. Aber | |
es zeigt, wie sehr der Tanker SPD im Laufe der Jahre wieder vom | |
neoliberalen ins linke Fahrwasser gesteuert ist. Für Schneider ist eine | |
gerechte Vermögensverteilung mittlerweile eine zentrale Frage. Er hat | |
versucht, ein „Erbe für alle“ in die Debatte einzubringen. Die SPD werkelt | |
an einer Reform der Erbschaftssteuer, die Milliardenerben stärker schröpfen | |
soll. | |
In zwei Jahren sind wieder Bundestagswahlen. Wollen Roth, Schneider und | |
Heil erneut antreten, oder ist es dann mal Zeit für etwas Neues? „Für mich | |
war immer klar, wenn man mit 28 in den Bundestag einzieht, dann wird man | |
mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht als Bundestagsabgeordneter in | |
den Ruhestand gehen“, sagt Roth. Wolfgang Schäuble sei für ihn kein | |
Vorbild. Vor zwei Jahren hatte er eine mentale Krise, legte zwei längere | |
Auszeiten ein. Ob er noch einmal antritt, werde er in Ruhe mit seinem Mann | |
und seinen Kollegen besprechen, sagt er. Schneider will das im nächsten | |
Jahr entscheiden. | |
„Es gibt Menschen, für die ist Politik eine Sucht“, sagt Heil. Er habe | |
Kollegen kennengelernt, die sich für unersetzbar hielten und nicht mehr mit | |
Niederlagen umgehen konnten. Bevor es so weit komme, wolle er aufhören. | |
„Aber ich will noch was erreichen.“ Bundeskanzler? „Nein, als | |
Arbeitsminister.“ | |
Die Klasse von 1998 ist sich nach wie vor verbunden. „Wir gucken uns | |
manchmal ein bisschen verwundert an, dass wir jetzt schon so lange dabei | |
sind“, sagt Heil. Man habe ja immer die Alten vor der Nase. Er habe das | |
zunächst gar nicht glauben wollen, meint Roth. Sie, die Dienstältesten. | |
„Ich bin dann die Listen durchgegangen und dachte, da muss doch noch jemand | |
vor uns eingezogen sein. Aber da war niemand mehr.“ Ob er dann in der | |
nächsten Legislatur zum Alterspräsidenten gewählt werde, fragt sich Heil | |
manchmal. Denn nach der Geschäftsordnung des Bundestages steht das Amt dem | |
Dienstältesten zu. Und dann hofft er, dass Jürgen Trittin, 69, noch einmal | |
kandidiert. Der Grüne sitzt ja auch schon seit 25 Jahren ununterbrochen im | |
Bundestag. | |
30 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Hubertus-Heil/!t5417121 | |
[2] /Strukturwandel-im-Kohlegebiet/!5952911 | |
[3] /SPD-Aussenexperte-ueber-Waffenlieferungen/!5882055 | |
[4] /Ostdeutsche-in-Fuehrungspositionen/!5961538 | |
[5] /Mindestlohnforderung-von-Hubertus-Heil/!5924969 | |
[6] /Wagner-Aufstand-in-Russland/!5942834 | |
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