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# taz.de -- Wahlkampf in Hessen: Die doppelte Nancy
> Nancy Faeser (SPD) ist auf Wahlkampftour und muss sich dabei zugleich als
> Bundesinnenministerin und potenzielle Ministerpräsidentin Hessens
> präsentieren.
Bild: Fremdes Gebiet: Esken und Faeser lassen sich vom Chef der Solarfirma SMA …
Kassel/Bad Hersfeld/Weißenborn taz | Sie hat geduldig auf Nancy Faeser
gewartet. In einem schmucklosen Labor, eingewickelt in Zellophan: Eine
Wärmepumpe. Die Innenministerin und SPD-Spitzenkandidatin für die hessische
Landtagswahl schleicht vorsichtig um den übermannshohen Klotz herum, der
wie ein Menetekel in der Mitte des Raumes thront. Das sei eine Wärmepumpe,
wie sie in größeren Unternehmen verbaut werde, die für Häuser sei natürlich
kleiner, erklärt Anna Cadenbach, die hier am Kasseler Fraunhofer-Institut
für Energiewirtschaft verschiedene Varianten der Wärmeversorgung erforscht.
Um die Klimaziele im Bereich Wohnen zu erreichen, müssten in den nächsten
sieben Jahren sechs Millionen Wärmepumpen eingebaut werden, ist Cadenbach
überzeugt.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wäre jetzt sicher begeistert und
würde zu einem kleinen Impulsvortrag ansetzen. Faeser aber nickt nur
interessiert und brummt „okay“. Die Wärmepumpe steht für das, was die
Berliner Ampelkoalition vor der Sommerpause an den Rand des Abgrunds
gebracht hat. Der Streit über das im Grünen Wirtschaftsministerium
erarbeitete Heizungsgesetz, dessen Herzstück ursprünglich die Wärmepumpe
sein sollte, ist immer noch nicht ausgestanden. Zwar haben sich SPD, Grüne
und FDP nun auf einen Gesetzentwurf geeinigt, doch der Bundestag wird ihn
erst im Herbst verabschieden. Mitten im hessischen und bayerischen
Wahlkampf.
In beiden Bundesländern wird am 8. Oktober gewählt. Faeser will in Hessen
ein Vierteljahrhundert CDU-Regentschaft brechen und die Staatskanzlei für
die SPD zurückholen. Es ist wohl die letzte Gelegenheit, die hessische SPD
vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, wie es die bayerische
Landespartei fristet: auf ewig als Oppositionspartei aus der Staatskanzlei
verbannt. Es ist eine Herkulesaufgabe, zumal für eine Spitzenkandidatin,
die in persona die Berliner Regierung repräsentiert. Die Zustimmungswerte
für die von der SPD angeführte Ampel sind schlecht. Die SPD liegt in
Umfragen deutlich hinter der Union. Zur Freude der Genoss:innen immerhin
deutlich vor den Grünen, die in einer tiefen Krise stecken. Derweil bricht
die AfD neue Umfragerekorde.
In Hessen spiegelt sich der Bundestrend wieder – die CDU mit dem
[1][amtierenden Ministerpräsidenten Boris Rhein] liegt in Umfragen klar vor
der SPD, die Grünen auf Platz drei. Auch hier kann sich die AfD über
zweistellige Umfragewerte freuen und das, obwohl sie sich im Landtag völlig
zerlegt hat.
## Eskens Wandel
Faeser ist am Montag und Dienstag unterwegs in Hessen, um das unmöglich
Scheinende zu schaffen – den politischen Klimawandel. Unterstützung erhält
Faeser von der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, die ihre Sommertour in den
Dienst von Faesers Wahlkampf gestellt hat. Ausgerechnet von Esken, die sich
in ihren dreieinhalb Jahren als Parteivorsitzende von der linken
GroKo-Kritikerin zur superpragmatischen Ampelerklärerin entwickelt hat.
Zu den [2][Steuerentlastungsplänen der FDP für Unternehmen] hört man von
ihr kaum ein kritisches Wort, auch im Kampf für eine armutsfeste
[3][Kindergrundsicherung] springt sie der grünen Familienministerin Lisa
Paus nicht bei. Aber am Dienstagmorgen hat sie im Deutschlandfunk immerhin
gefordert, dass der Bund die Kommunen bei der Integration von Geflüchteten
weiterhin voll unterstützen müsse. Die Mittel kommen aus dem Etat von Paus,
der soll um 218 Millionen Euro gekürzt werden. Die Haushaltsverhandlungen
werden ruppig.
Esken, so munkelt man, habe Ambitionen, Faeser selbst als Innenministerin
zu beerben. Spricht man sie darauf an, versichert sie jedoch, sie sei sehr,
sehr gern SPD-Vorsitzende. Schließt aber auch nichts aus. Faeser und Esken
wollen Zuversicht verbreiten und setzen auf Frauenpower. Passend dazu
besuchen sie eine Reihe von Orten, die für die Energiewende stehen: einen
Windpark mitten im Wald, in der Hand von Bürger:innen und Gemeinden.
Faeser sagt, dass Genossenschaften von Bürger:innen günstiger an Flächen
für neue Windräder kommen sollen. „Für ’ne erhöhte Akzeptanz, sie haben…
selbst was davon, wenn sich das Windrad hier dreht.“ Oder die Solarfirma
SMA, eines der weltweit führenden Unternehmen für Wechselrichter und
Energiespeicher.
Faeser kommt direkt aus Berlin, vor neun Jahren war sie schon hier einmal
zu Besuch. „Da war ich gerade schwanger, deshalb erinnere ich mich gut“,
sagt sie fröhlich. Er erinnere sich auch gut, sagt der Geschäftsführer,
einer ihrer Vorgänger sei damals auch zu Besuch gewesen. Im selben Jahr wie
Faeser hatte der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel das Unternehmen besucht
und erklärt, andere Länder hielten Deutschland wegen der Energiewende für
bekloppt. Kurz darauf kürzte er als Wirtschaftsminister die Förderung der
erneuerbaren Energien. Das Geschäft mit der Solarenergie brach ein, das
Kasseler Unternehmen entließ die Hälfte der Beschäftigten. Heute wächst es
wieder, die Konkurrenz aus China sei allerdings hart.
Erneuerbare Energien, Netzausbau und Speicherkapazitäten – für all das will
heute auch die SPD gewählt werden. Urgrüne Themen, die Faeser als
Innenministerin bisher kaum verkörpert. Aber Strategie der SPD ist es eben,
die Grünen auf Abstand zu halten und der CDU so nahe zu kommen, dass eine
Regierungsbildung gegen sie möglich und nicht unverfroren erscheinen würde.
Und das hat ja schon mal fast geklappt. 2008 wäre Andrea Ypsilanti mit dem
Thema erneuerbare Energien fast Ministerpräsidentin geworden. Drei ihrer
eigenen Leute verhinderten das, näher ist die SPD der Macht seitdem nicht
mehr gekommen. Auch diesmal ist es kein Spaziergang.
Der Rundgang durch das Fraunhofer-Institut gleicht einem erweiterten
Physikleistungskurs. Begriffe wie Superkondensatoren zur
Lebensdaueroptimierung von Batterie-Hybrid-Systemen oder kognitive
Energiesysteme fliegen durch die Luft. Faeser wedelt sich mit einem Fächer
ihrer Parteifreundin Esken mechanisch Luft zu und fragt vor allem aus
Innenministerinnenperspektive nach: Was geschieht im Falle eines
Cyberangriffs, wie schützt man die Infrastruktur? Es ist erkennbar nicht
ihr Gebiet.
Noch sind Ferien in Hessen, so richtig los geht der Wahlkampf erst Anfang
September, wenn die Hessen aus dem Urlaub zurück sind und merken, ach,
schon wieder Landtagswahl. Faeser und ihre SPD hoffen auf eine Art
Scholz-Schub wie 2021 im Bundestagswahlkampf oder eine Rehlinger-Rallye wie
2022 im Saarland – also einen Aufschwung wenige Wochen vor dem Urnengang
wie ihn Olaf Scholz und Anke Rehlinger erlebten, getragen von einer
Wechselstimmung und blassen Gegenkandidaten.
Faeser versucht den Hattrick – als Spitzenkandidatin tourt sie durch
Hessen, als Innenministerin boxt sie in Berlin weiterhin Gesetze durch. Sie
hat sich Disziplin verordnet, verzichtet in den Wochen vor der Wahl auf
Alkohol und setzt auf die Geduld ihrer Familie, die sie nun nicht mal mehr
am Wochenende sehe. Ganz schlecht stehen ihre Chancen trotz der verkorksten
Situation in Berlin und des Streits in der Ampel nicht.
Die Doppelrolle als Innenministerin und Spitzenkandidatin bringt immerhin
den Vorteil, dass man sie in Hessen kennt. Und anders als der glücklose
Norbert Röttgen, der 2012 als Bundesumweltminister und Spitzenkandidat der
CDU die Wahl in Nordrhein-Westfalen verlor und anschließend von Angela
Merkel gefeuert wurde, war Faeser schon lange vor ihrer Ernennung zur
Bundesinnenministerin in Hessen politisch aktiv. Seit 2003 gehörte sie dem
hessischen Landtag an, war innenpolitische Sprecherin und
Fraktionsvorsitzende.
## SPD ist optimistisch
Ebenso lange kennt sie Boris Rhein von der CDU und Tarek Al-Wazir von den
Grünen. Es ist ja immer von Vorteil, genau zu wissen, wie die Konkurrenz
tickt, entsprechend optimistisch ist man in der SPD, die Grünen aus dem
Bündnis mit den Schwarzen herauslösen oder mit der CDU sachliche
Koalitionsverhandlungen führen zu können. Schmutzig könnte der Wahlkampf
dennoch werden.
Am Mittwoch will Faeser, diesmal als Innenministern, in Berlin den
Gesetzentwurf für ein neues Staatsbürgerschaftsrecht vorstellen. Demnach
sollen Ausländer schon nach fünf Jahren einen deutschen Pass bekommen, bei
besonderer Integrationsleistung sogar schon nach drei Jahren. Als Faeser
ihre Pläne Ende letzten Jahres vorstellte, sprach die CSU davon, dass die
deutsche Staatsbürgerschaft verramscht werde. Dass sie den Ton ausgerechnet
im Wahlkampf mäßigt, ist nicht zu erwarten. In Hessen hat Roland Koch 1999
mit einer Kampagne gegen den Doppelpass die Wahl gewonnen.
Die Rahmenbedingungen haben sich zwar geändert. Mittlerweile dürfen auch
Deutsche zwei Pässe haben und Faeser hat darauf geachtet, dass der
Bundesrat ihrem Gesetz nicht zustimmen muss. Doch die alte
Stahlhelmfraktion in der hessischen CDU ist noch da, wenn auch nicht mehr
so mächtig. In Berlin setzt CDU-Chef Friedrich Merz nun ebenfalls auf einen
harten Kurs in der Migration, die hessische CDU könnte aufspringen, falls
die SPD ihr zu dicht auf die Pelle rückt.
Faeser versucht beides – auf europäischer Ebene hat sie eine Verschärfung
der Asylpolitik verhandelt. Der Entwurf zum Gemeinsamen Europäischen
Asylsystem sieht Schnellverfahren (GEAS) an den EU-Außengrenzen vor, vor
allem für Menschen aus Staaten mit niedriger Schutzquote. In den
gefängnisähnlichen Lagern, wo die Menschen bleiben müssen, sollen immerhin
soziale Mindeststandards gelten. Wenn das GEAS in Kraft tritt, hätte
ausgerechnet eine sozialdemokratische Innenministerin mehr für die
Abschottung der EU bewirkt als ihre Unionsvorgänger Thomas de Maizière und
Horst Seehofer
Gleichzeitig wirbt Faeser für einen Kurswechsel in der Einwanderung, der es
Menschen aus den Nicht-EU-Ländern erlaubt, legal nach Deutschland zu
kommen, wenn sie hier arbeiten und sesshaft werden wollen. Ihr
[4][Fachkräfteeinwanderungsgesetz] hat der Bundestag vor der Sommerpause
beschlossen, es soll ab November in Kraft treten. Dieser Kurs aus
Zuckerbrot und Peitsche – Faeser spricht lieber von ordnen und steuern –
kommt bei den Bürger:innen gut an. Sie erhalte viel Lob im Wahlkampf,
berichtet die Ministerin. Auch Ralf Hilmes, Bürgermeister im hessischen
Nentershausen, berichtet, dass die Menschen Sicherheit bei diesem Thema
wollten, die derzeit in den Ballungszentren fehle. Gleichzeitig fehlten
aber auch Fachkräfte, in der Pflege etwa oder in den Krankenhäusern.
Faeser hofft allerdings auch, dass die Wähler:innen sie, je näher die
Wahl rückt, weniger auf innenpolitische Themen ansprechen, sondern auf die,
die die hessische SPD gern in den Mittelpunkt rücken will: Gute Arbeit,
gerechte Bildungschancen, bezahlbarer Wohnraum, eine bessere
Gesundheitsversorgung. Im Fraunhofer-Institut würde man der
Spitzenkandidatin gern noch das Labor für die Wärmeplanung zeigen. Aber das
wird gerade noch gebaut, sie müsse im nächsten Jahr wiederkommen. „Wenn ich
Ministerpräsidentin bin“, sagt Faeser und lacht fröhlich. Den Optimismus
braucht sie.
22 Aug 2023
## LINKS
[1] /Boris-Rhein-im-Hessen-Wahlkampf/!5949470
[2] /Steuererleichterungen-fuer-Unternehmen/!5950230
[3] /Streit-ueber-Kindergrundsicherung/!5955391
[4] /Reform-des-Einwanderungsrechts/!5939961
## AUTOREN
Anna Lehmann
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