| # taz.de -- Boris Rhein im Hessen-Wahlkampf: Ministerpräsident auf Bewährung | |
| > CDU-Amtsinhaber Rhein grenzt sich im Landtagswahlkampf von der AfD ab. | |
| > Die Fehler seines Parteichefs Merz machen ihm zu schaffen. | |
| Bild: Wahlkampf von Friedrich Merz überschattet: Boris Rhein will Hessens Mini… | |
| Friedrichsdorf und Winterberg taz | Der schwarze Luxusliner stoppt vor dem | |
| Vereinsheim der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft in Friedrichsdorf. Ein | |
| Dutzend Fotografen schwärmt aus. Zusammen mit dem Bürgermeister warten sie | |
| am Eingang des Luft- und Freibads auf den Gast. So in Szene gesetzt, | |
| verlässt Ministerpräsident Boris Rhein, CDU, dann den Reisebus. „Wie ein | |
| Popstar“, raunt einer aus dem Grüppchen, das sich zum Empfang eingefunden | |
| hat. | |
| Im petrolblauen Blazer, die Farbe seiner Wahlkampagne, schüttelt der | |
| 51-jährige Regierungschef im strömenden Regen Hände. „Echtes | |
| Freibadwetter“, sagt Rhein vergnügt. Seine weißen Sneaker ziert ein grüner | |
| Streifen. | |
| Seit dem Beginn der Sommerferien tourt Rhein durchs Land. Am 8. Oktober | |
| wählt Hessen einen neuen Landtag. Rhein, den die Fraktionen von CDU und | |
| Grünen vor gut einem Jahr ins Amt gebracht haben, kämpft um jede Stimme. | |
| Bis zur Wahl amtiert er, Vater zweier Söhne, Ehemann einer Richterin, als | |
| Ministerpräsident auf Bewährung. | |
| Am verregneten Tag im Freibad sind auf den Stehtischen bunte Badeenten | |
| platziert. Aufmerksam verfolgt der Ministerpräsident die Präsentation des | |
| örtlichen DLRG-Vorsitzenden: 580 Mitglieder hat der Verein, die Hälfte | |
| davon Kinder und Jugendliche. Mehr als 100 Schwimmkurse stemmen Verein und | |
| Stadt jährlich. Bürgermeister Lars Keitel, ein Grüner, lobt die | |
| Förderprogramme des Landes für Gemeinden, die ihre Hallen- und Freibäder | |
| erhalten. | |
| ## Wahlkampftour unter schlechtem Stern | |
| Rhein lobt im Gegenzug die Kooperation der Stadt mit dem Verein als | |
| beispielhaft. Später, am Beckenrand, benennt er die Defizite. 40.000 Kinder | |
| im Grundschulalter können nicht schwimmen, 20 Prozent der Jugendlichen | |
| haben es bis zu ihrer Entlassung aus der Schulpflicht noch nicht gelernt, | |
| doppelt so viele wie vor der Pandemie, sagt Rhein und verspricht neue | |
| Anstrengungen zu dem „enormen Thema“. | |
| Während seines Jurastudiums hat er selbst im Frankfurter Stadtteil Hausen | |
| als Hilfsschwimmmeister „Beckendienst“ geleistet. „Der Dank gilt den | |
| Ehrenamtlern“, sagt Rhein und fügt hinzu: „Wenn die DLRG nicht wäre, wür… | |
| das Erlebnis Freibad nicht stattfinden können.“ | |
| Kameraleute und Fotografen kommen bei der Präsentation der Rettungsübung im | |
| Sprungbecken auf ihre Kosten, trotz Dauerregen. Einsam ziehen eine Handvoll | |
| Wasserfreunde in den anderen Becken ihre Bahnen. Bei schönem Wetter | |
| bevölkern Tausende das Freibad. Die erhoffte Begegnung mit den WählerInnen | |
| fällt ins Wasser. Nach „Pommes rot-weiß mit Currywurst – ein echtes | |
| Schwimmbadessen!“ folgen Gruppenfoto, freundliche Worte und | |
| Autogrammkarten für Lukas und Moritz, den DLRG-Nachwuchs. | |
| Rheins Tour durch Hessen steht bislang unter keinem guten Stern, nicht nur | |
| wegen der Großwetterlage. Immer wieder hat CDU-Parteichef Friedrich Merz | |
| für Irritationen gesorgt. So ernannte er die Grünen zum „Hauptgegner“. | |
| Dabei regiert die Hessen-CDU seit zehn Jahren geräuschlos mit den Grünen | |
| und würde die Zusammenarbeit gerne fortsetzen. „Merz wird falsch | |
| verstanden, er hat das nur für die Politik auf Bundesebene gesagt“, stellt | |
| Rhein klar. „Für mich sind SPD, FDP und Grüne Mitbewerber, nicht Gegner“, | |
| so Rhein zur taz. | |
| In der ersten Augustwoche haben sich Rhein und NRW-Amtskollege Hendrik Wüst | |
| zu einer Wanderung verabredet. Wüst hat seine Landtagswahl bereits | |
| erfolgreich überstanden. Statt mit der FDP regiert seitdem auch er mit den | |
| Grünen. Auf den sechs Kilometern vom hessischen Willingen ins | |
| nordrhein-westfälische Winterberg wollen die beiden Möglichkeiten der | |
| Kooperation erörtern, heißt es. | |
| Die Zahnradbahn, die im Winter Skiflieger der Weltklasse zur Basis der | |
| Großschanze bringt, kriecht nur langsam den Berg hinauf. Eine Viertelstunde | |
| braucht sie für die 100 Höhenmeter, die die Adler in Sekunden talabwärts | |
| segeln. An Bord diesmal die Hoffnungsträger ihrer CDU-Landesverbände, die | |
| es vergleichsweise schnell nach oben geschafft haben. | |
| Im Tross von „Boris“ und „Hendrik“ KommunalpolitikerInnen, | |
| CDU-Abgeordnete aus Bund und Ländern, Bauernpräsident, Waldbesitzer, | |
| NachwuchssportlerInnen und als größte Gruppe rund 50 akkreditierte | |
| JournalistInnen. „Ist in Berlin nichts los?“, witzelt Wüst, doch auch er | |
| weiß, weshalb sie hier sind. Sie wollen ihn – den möglichen nächsten | |
| Kanzlerkandidaten der Union – kennenlernen und dazu seinen weithin | |
| unbekannten Parteifreund aus Hessen. | |
| „Bildpunkt eins“ der von den beiden Staatskanzleien penibel orchestrierten | |
| Wanderung ist der Skywalk, die längste FußgängerInnen-Hängebrücke | |
| Deutschlands. Das filigrane Konstrukt, das an Stahlseilen hängt, 120 | |
| Tonnen schwer, überspannt die Schlucht, in der im Winter die Skispringer | |
| landen. Auf der hin- und herschwingenden Brücke, 100 Meter über dem | |
| Abgrund, trotzen die beiden Ministerpräsidenten Wind und Wetter, stellen | |
| sich geduldig in Pose, geben sogar Interviews: „Ein echtes Erlebnis“, | |
| schwärmt Rhein danach, „Wir sind sturmerprobt“, sagt lachend Amtskollege | |
| Wüst. | |
| ## Merz stahl ihm die Show | |
| Er spielt wohl auf die Turbulenzen an, die CDU-Partei- und | |
| Bundestagsfraktionschef Friedrich Merz mit seinem „ARD-Sommerinterview“ | |
| ausgelöst hat. Die Aussage, auf der kommunalen Ebene [1][könne die CDU mit | |
| gewählten AfD-Vertretern kooperieren], musste Merz noch am Abend abräumen. | |
| Wüst war im Urlaub und schwieg. | |
| Am Montag danach hatte Rhein eine Verabredung mit dem „ZDF-Morgenmagazin“ | |
| und später mit den „Tagesthemen“. Er wollte eigentlich Aufmerksamkeit auf | |
| sich ziehen, indem er [2][Bundesinnenministerin Nancy Faeser] attackierte, | |
| die ihm in Hessen die Staatskanzlei als SPD-Spitzenkandidatin streitig | |
| macht. In der Bekämpfung der illegalen Immigration versage die | |
| Innenministerin; nicht einmal die Zusagen, die der Bundeskanzler den | |
| MinisterpäsidentInnen der Länder im Mai gemacht habe, würden | |
| umgesetzt, wetterte Rhein und forderte Faeser auf, die Kontrollen an den | |
| deutschen Außengrenzen durch die Bundespolizei anzuordnen. | |
| Doch statt dass diese Kritik an Faeser im Mittelpunkt stand, musste Rhein | |
| zur besten Sendezeit [3][die Irritationen ausräumen], für die Merz am Abend | |
| zuvor gesorgt hatte. „Die Brandmauer zur AfD steht“, versicherte Rhein. | |
| „Keine Zusammenarbeit, nirgends!“, so seine Botschaft. | |
| Seinen Ärger darüber, dass durch Merz der Auftakt seiner Wahlkampagne | |
| verhagelt wurde, behält er für sich. Auf der Wanderung legt er im Regen im | |
| Sauerland nach. „Widerwärtig“ nennt er die Agitation des | |
| AfD-Spitzenkandidaten für das Europaparlament. „Wer die EU auflösen will, | |
| gefährdet die Arbeitsplätze und die Wirtschaft in Deutschland“, sagt er der | |
| taz und weist auf einen aktuellen Zeitungsartikel hin. „In allen Ländern in | |
| Europa, in denen konservative Parteien mit den Rechtspopulisten | |
| Kooperationen eingegangen sind, haben sie anschließend verloren“, sagt | |
| Rhein. | |
| ## Niederlage ausgerechnet gegen Feldmann | |
| Am Endpunkt der Wanderung, in der überfüllten Skihütte in Winterberg, | |
| verkündet Hendrik Wüst schließlich das Ende der Debatte. „Die | |
| Führungsfrage in der CDU ist geklärt“, stellt der NRW-Ministerpräsident | |
| fest, um die Spekulationen über eigene Ambitionen zu beenden. | |
| Vom Regen durchnässt fordern die beiden Ministerpräsidenten unter einem | |
| Hirschgeweih vor laufenden Kameras allerdings ein „transparentes Verfahren“ | |
| und die „Einbindung der Landesvorsitzenden“ in der K-Frage. Sie nennen auch | |
| den Zeitpunkt für die Entscheidung: nach der Europawahl im Juni nächsten | |
| Jahres. Von einem ersten Zugriffsrecht des CDU-Vorsitzenden ist nicht die | |
| Rede. „Er wird eine wichtige Rolle spielen“, sagt Rhein gönnerhaft über | |
| Merz. | |
| Taktische Fehler sind Rhein nicht fremd. Vor elf Jahren hat er seine erste | |
| Spitzenkandidatur in Frankfurt am Main versemmelt. 2012 hatte Petra Roth, | |
| die gefühlt ewige Oberbürgermeisterin der Stadt, überraschend ihren Posten | |
| für den damals amtierenden Landesinnenminister und „Frankfurter Bub“ Rhein | |
| frei gemacht. Scheinbar eine klare Sache. Doch Rhein scheiterte in der | |
| Stichwahl am seinerzeit weithin unbekannten Sozialdemokraten [4][Peter | |
| Feldmann]. | |
| Rhein hatte auf Plakaten mit Weichzeichner den sanften Familienmenschen | |
| gegeben. Die grüne Basis hatte indes noch die Attacken des jungen | |
| Innenpolitikers im Ohr, mit denen er im Landtag den damaligen grünen | |
| Justizminister Rupert von Plottnitz als „Sicherheitsrisiko“ gebrandmarkt | |
| hatte. Als JU-Kreisvorsitzender hatte Rhein gar den Publizisten Michel | |
| Friedman, zeitweise Vorstandsmitglied der CDU im Bund, als „Belastung für | |
| die Frankfurter CDU“ bezeichnet und ihm den Parteiaustritt nahegelegt, weil | |
| er zu liberal sei. | |
| Rhein überlebte die Niederlage politisch, zunächst als | |
| Wissenschaftsminister, dann als Landtagspräsident. In beiden Ämtern gewann | |
| er an Format, etwa als er als Landtagspräsident nach den rassistischen | |
| Morden von Hanau und an seinem CDU-Kollegen Walter Lübcke die richtigen | |
| Worte fand. | |
| Verliert Rhein nun die Wahl im Oktober, war seine zweite Chance zugleich | |
| seine letzte. Nach 25 Jahren an der Macht will die CDU die Staatskanzlei | |
| behaupten. Notfalls tauscht sie dazu den schwächelnden grünen Partner gegen | |
| die SPD aus. | |
| Nach den langen Jahren in der Opposition sei deren Preis für eine | |
| Regierungsbeteiligung vielleicht sogar günstiger, sagen die Parteistrategen | |
| aus Rheins Umfeld. Nur eine Ampel unter Nancy Faeser als | |
| Ministerpräsidentin müsse unbedingt verhindert werden. „Wer am 8. Oktober | |
| AfD wählt, wacht am nächsten Tag mit einer Ampel auf“, warnt Rhein deshalb | |
| bei jedem Wahlkampfauftritt; dann herrsche auch in Wiesbaden, wie derzeit | |
| in Berlin, „Streit und Chaos statt Stabilität und Verlässlichkeit“, so | |
| Rhein. | |
| 10 Aug 2023 | |
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