| # taz.de -- Berliner Opfer von Femiziden: Wenn der Staat versagt | |
| > In Berlin wurden binnen vier Wochen vier Frauen Opfer von Femiziden. Beim | |
| > Kampf gegen patriarchale Gewalt zögert der Staat aus Sorgen um | |
| > Datenschutz. | |
| Bild: Hunderte Menschen protestieren mit eine Demonstration unter dem Motto „… | |
| Berlin taz | 28. Mai in Wilmersdorf, 28. Mai in Charlottenburg, 3. Juni in | |
| Köpenick, 30. Juni in Tempelhof: ermordet von ihren (Ex)-Partnern in ihren | |
| Wohnungen und auf offener Straße. Was sie begangen haben? Sie waren Frauen | |
| – und haben sich nicht den patriarchalen Besitzansprüchen der Männer | |
| unterworfen. [1][Femizide], also Morde an Mädchen und Frauen aufgrund ihres | |
| Geschlechts, sind der Höhepunkt frauenfeindlicher Gewalt. | |
| Im vergangenen Jahr gab es [2][laut Lagebild „Häusliche Gewalt“ des | |
| Bundeskriminalamtes (BKA) deutschlandweit 155 Femizide]. Somit wird im | |
| Schnitt nicht mehr jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem | |
| (Ex)-Partner ermordet, sondern fast jeden zweiten. „Wo bleibt der | |
| gesellschaftliche Aufschrei? Wo die Empörung?“, fragt Lilly S. von der | |
| [3][Initiative „Femizide stoppen!“]. In diesem Jahr hat die Gruppe bereits | |
| 51 Femizide gezählt, vermutet jedoch eine hohe Dunkelziffer. | |
| „Die Statistiken des BKA sind nicht umfassend genug“, kritisiert Lilly S. | |
| Tatsächlich erfasst die Kategorie „Partnerschaftsgewalt“ des BKA nur Morde | |
| an (Ex)-Partner*innen. Femizide können allerdings auch außerhalb von | |
| bestehenden und ehemaligen Partnerschaften stattfinden: etwa wenn Söhne | |
| ihre Mütter töten. Oder sogenannte [4][Ehrenmorde], bei denen | |
| Familienmitglieder eine Frau töten, die in ihren Augen die „Familienehre“ | |
| beschädigt. | |
| Neben der lückenhaften Erfassung trage auch die mediale Berichterstattung | |
| oft zur Verharmlosung von Femiziden bei, betont Lilly S.: Durch | |
| Bezeichnungen wie „Beziehungstat“, „Eifersuchts-“ oder „Beziehungsdra… | |
| würden Morde „unkonkret, romantisiert und verklärt dargestellt“. Zudem | |
| werde in den Medien oft Rassismus geschürt, sagt S. So wird suggeriert, | |
| dass patriarchale Gewalt herkunftsspezifisch sei. Dabei ist sie ein | |
| übergreifendes Problem, unabhängig von Herkunft, Klasse oder Religion, das | |
| in patriarchalen Gesellschaften tief verankert ist. | |
| ## Oft keine Anzeige erstattet | |
| Lilly S. weist darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen viele | |
| Erscheinungsformen hat: „Das beginnt bei sexistischen Witzen im Alltag, | |
| geht über Belästigung bis hin zu häuslicher Gewalt und Mord.“ Viele Frauen | |
| erstatteten allerdings aus Scham oder Angst keine Anzeige, zudem nehme die | |
| Polizei Gewaltbetroffene oft nicht ernst, kritisiert sie: „Sie werden | |
| entmutigt, Anzeige zu erstatten, mit der Begründung, dass es ohnehin nicht | |
| zu einer Anklage oder Verurteilung führe.“ | |
| Dabei sei es wichtig, diese Fälle zu dokumentieren sowohl für die Statistik | |
| als auch für die Historie bei möglichen späteren Gerichtsverfahren gegen | |
| den Täter oder auch für andere Gerichtsverfahren, in denen der Täter vor | |
| Gericht steht. | |
| Bei der [5][„Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“ (BIG)] ist das | |
| Problem bekannt: „Häusliche Gewalt beginnt oftmals als psychische Gewalt | |
| und eskaliert dann in körperliche Gewalt“, sagt Nua Ursprung, Referentin | |
| der Beratungsstelle. Bereits bei ersten Anzeichen müssten Schutzmaßnahmen | |
| eingeleitet werden. Verbale sexuelle Belästigungen sind in Deutschland | |
| jedoch nicht strafbar. Geahndet werden können sie höchstens als | |
| Beleidigung. Eine Vielzahl an Sprüchen, bei denen sich Frauen bedroht oder | |
| degradiert fühlen, fallen nicht darunter. | |
| Aufgrund der staatlichen Strukturen, die Gewaltbetroffene daran hindern, | |
| sich Hilfe zu holen und frauenfeindliche und feminizidale Gewalt | |
| ermöglichen, wird daher auch von „Feminizid“ gesprochen, das in seiner | |
| Definition die staatliche Verantwortung und strukturelle Ebene mit | |
| einschließt. | |
| ## Schutzorte überlastet | |
| Dazu gehören auch ausgelastete Schutzorte für gewaltbetroffene Frauen. So | |
| mussten im Jahr 2022 in Berlin rund 2.000 von 3.400 Anruferinnen abgewiesen | |
| werden, die sich beim Hilfstelefon der BIG meldeten und um Vermittlung an | |
| ein Frauenschutzhaus baten. Die Auslastung der Frauenhäuser lag 2022 bei 83 | |
| Prozent. Die restlichen Plätze sind laut Senatsverwaltung für | |
| Gleichstellung und Antidiskriminierung reserviert für Kinder. | |
| „Laut Schlüssel der [6][Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen | |
| Frauen, die die Bundesregierung 2017 ratifiziert hat], müsste Berlin 963 | |
| Plätze in Frauenhäusern zur Verfügung stellen. [7][Es gibt jedoch nur 462, | |
| also knapp die Hälfte]“, sagt Nua Ursprung. Wenn es Plätze gebe, seien | |
| diese oftmals nicht barrierefrei oder nähmen keine Frauen mit Söhnen auf, | |
| die älter als 12 Jahre sind. Mit Schutzwohnungen und Clearingstellen kommt | |
| Berlin auf 521 Schutzplätze für Frauen – immer noch viel zu wenige. | |
| Ursprung fordert daher die Realisierung des Landesaktionsplans, den der | |
| Senat im Oktober vergangenen Jahres verabschiedete, um die | |
| Istanbul-Konvention umzusetzen. Eine Maßnahme ist der Ausbau der | |
| Schutzplätze; diese habe „hohe Priorität“, sagt ein Sprecher der | |
| Senatsverwaltung für Gleichstellung und Antidiskriminierung der taz. 2024 | |
| seien bereits die Schutzwohnungen der Stadtmissionen um 14 Plätze erweitert | |
| worden, der Aufbau weiterer Plätze werde mit „Hochdruck“ vorangetrieben. | |
| Der Senat hatte bereits 2022 ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur | |
| Verhinderung von Femiziden beschlossen. Im Doppelhaushalt 2023/24 hatte es | |
| zudem [8][24 Millionen Euro und damit 9 Millionen Euro mehr für den Bereich | |
| Antidiskriminierung] zugesagt. Passiert ist bislang jedoch wenig: „Seit | |
| einem halben Jahr liegt das Geld für mehr Gewaltschutz brach“, sagt die | |
| frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Bahar Haghanipour, der taz. | |
| „Schwarz-Rot muss das selbstgemachte Haushaltschaos sofort beenden und | |
| dafür sorgen, dass der Gewaltschutz in Berlin gestärkt wird“, fordert | |
| Haghanipour. | |
| ## Ein Datenschutzproblem!? | |
| Ein wirksames Mittel gegen Femizide sehen Haghanipour und Ursprung in den | |
| sogenannten multiinstitutionellen Fallkonferenzen, die im Aktionsplan | |
| vorgesehen sind. Hierbei sollen verschiedene Einrichtungen zusammenarbeiten | |
| und Schutzstrategien für gewaltbetroffene Frauen erstellen: die Polizei, | |
| die zuständigen Bezirksämter sowie Beratungsstellen. | |
| In Bundesländern wie Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist das bereits | |
| gängige Praxis. In Berlin stellt sich bislang jedoch die | |
| Datenschutzbeauftragte dagegen. Um das Datenschutzproblem zu umgehen, hat | |
| Innensenatorin Iris Spranger (SPD) interne Fallkonferenzen für die | |
| Sicherheitsbehörden angekündigt – ohne Beteiligung der Beratungsstellen. | |
| Dabei sei es essenziell, diese mit einzubinden, erklärt Ursprung: „Die | |
| Beratungsstellen sind die wichtigste Vertretung der Betroffenen.“ Auch | |
| Haghanipour kritisiert die Ankündigung Sprangers als „Fallkonferenz Light“. | |
| Es scheint, als habe der Datenschutz Vorrang vor dem effektiven Schutz von | |
| Frauen und Mädchen vor Mord und Gewalt. | |
| 14 Jul 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Femizide/!t5514275 | |
| [2] /155-Femizide-in-Deutschland/!6015782 | |
| [3] https://www.instagram.com/femizide_stoppen/?hl=de | |
| [4] /Ehrenmord/!t5021198 | |
| [5] https://www.big-berlin.info/ | |
| [6] /Fuenf-Jahre-Istanbul-Konvention/!5912016 | |
| [7] /Ueberfuellte-Frauenhaeuser/!5949140 | |
| [8] /Begrenzungen-im-Doppelhaushalt/!5960568 | |
| ## AUTOREN | |
| Lilly Schröder | |
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