# taz.de -- Gewalt gegen Frauen: Von der Witch zur Bitch | |
> Die Hexenverfolgung ist in Europa vorbei, doch der Hass auf | |
> selbstbestimmte Flinta* ist geblieben. Sie kämpfen durch emanzipatorische | |
> Aneignung zurück. | |
Bild: Solidarität ist gefragt: Während die Hexenverfolgungen in Europa vorbei… | |
Berlin taz | Wir sind die Töchter der Hexen, die ihr nicht verbrennen | |
konntet.“ Unter diesem Kampfruf eroberten tausende wütende Flinta* | |
vergangenes Jahr bei der „Take back the Night“-Demo die Straßen. Am Abend | |
vom 30. April nehmen sie sich traditionell die Walpurgisnacht zurück – die | |
Nacht, in der Hexen sich verbünden, sichtbar machen und feiern. Was Hexen | |
und Queerfeminist*innen eint? Der Widerstand gegen patriarchale | |
Unterdrückung. | |
Gewalt gegen Frauen wurde mit dem Ende der Hexenverfolgung nicht beendet. | |
Sie wurde normalisiert. Was körperliche Züchtigung, öffentliche Demütigung | |
und Verbrennung auf dem Scheiterhaufen war, ist heute strukturelle | |
Diskriminierung, geschlechtsspezifische Gewalt und Femizid. Das Resultat | |
des Gipfels der Misogynie bleibt gleich: [1][Eine Frau wird ermordet – weil | |
sie eine Frau ist.] | |
Die Beweggründe hinter der Hexenverfolgung zwischen dem Ende des 15. und | |
dem 18. Jahrhundert und dem Frauenhass heute sind dieselben: Die Angst der | |
Männer, dass eine Frau sich gegen die untergeordnete Rolle wehrt, die ihr | |
im Patriarchat zugewiesen wird. Besonders stark schlägt diese Angst in | |
Umbruchs- und Krisenzeiten um sich. Frauen wurden vor allem während | |
Missernten oder Epidemien der Hexerei bezichtigt und verantwortlich | |
gemacht. Heute wächst der antifeministische Backlash im Schatten globaler | |
Krisen und des Rechtsrucks. Jeden Tag wird in Deutschland eine Frau | |
ermordet, weil sie eine Frau ist. [2][In Berlin gab es allein im | |
vergangenen Monat mindestens 4 Femizide.] | |
Die Hexenverfolgung, die sich während des Übergangs vom Feudalismus zum | |
Kapitalismus ereignete, richtete sich vor allem gegen Frauen, die sozial | |
und wirtschaftlich unabhängig waren. Ihr selbstbestimmter Lebensstil | |
gefährdete die Ausbeutung der Arbeiter*innen – das Fundament für den | |
entstehenden Kapitalismus. Mit der Privatisierung von Land wurden Männer in | |
die bezahlte Produktion gedrängt und Frauen – die zuvor gemeinsam mit | |
Männern kollektiv Land bewirtschafteten – in die unbezahlte | |
Reproduktionsarbeit. Das Ziel: Frauen als Reproduzentinnen in den Dienst | |
der kapitalistischen Akkumulation stellen. | |
## Der Körper der Frau als Kontrollfeld des Kapitalismus | |
Die staatliche Kontrolle über den weiblichen Körper ist bis heute Realität: | |
Schwangerschaftsabbrüche bleiben strafbar und nur unter bestimmten | |
Voraussetzungen legal. [3][Während eine breite Mehrheit für eine Reform des | |
Paragrafen 218 ist], freuen sich Gegenbewegungen wie der „Marsch für das | |
Leben“ über Zulauf. | |
Doch nicht nur die Kontrolle der Gebärmutter unterwirft den weiblichen | |
Körper dem Kapitalismus. Dies geschieht ebenso, indem Schönheitsnormen | |
ökonomisch belohnt werden, Stichwort: „pretty privilege“. Flinta*, die | |
jung, schlank und „mädchenhaft“ aussehen, verdienen mehr. Die Folge: | |
freiwilliges Hungern – die größte Niederlage des Feminismus. | |
Die Kontrolle über den Körper der Frau war während der Hexenverfolgung eng | |
mit der Kriminalisierung von Verhütung verbunden. Hebammen und Heilerinnen, | |
die über dieses Wissen verfügten, wurden verfolgt. Dies führte auch zur | |
Zerstörung von Wissen über Heilkräuter, Verhütung und Abtreibung, das | |
Frauen untereinander weitergaben. | |
Ähnlich verhält es sich heute, wenn in Schulen Aufklärung über sexuelle | |
Selbstbestimmung oder Transidentität verboten wird, wie in den USA oder | |
Ungarn. Unterdrückt wird diese Wissensweitergabe von denjenigen, die von | |
bestehenden Machtverhältnissen profitieren. Dasselbe Muster zeigt sich im | |
systematischen Schweigen über sexualisierte Gewalt – einem festen | |
Bestandteil der rape culture. | |
## Die arbeitende Frau wird als „Karrieristin“ diskreditiert | |
Was die geschlechtliche Arbeitsteilung betrifft, wurden seit der | |
Hexenverfolgung Fortschritte erkämpft: Mehr Flinta* sind berufstätig und in | |
Führungspositionen, Mutterschutz und Elternzeit sind gesetzlich verankert. | |
Doch strukturell hat sich zu wenig verändert: Care-Arbeit bleibt | |
unsichtbar, die gläserne Decke hält, der Gender Pay Gap klafft weiter. | |
Flinta*, die wirtschaftlich unabhängig sind, werden weiterhin abgewertet. | |
Nur Politikerinnen werden gefragt, wie sie Beruf und Familie unter einen | |
Hut bringen. Die arbeitende Frau wird als „Karrieristin“ diskreditiert, der | |
Mann als „erfolgreich“ gefeiert. Besonders stigmatisiert werden Flinta*, | |
die mit ihrem erotischen Kapital wirtschaften, etwa in der Sexarbeit. | |
Geschürt wird dieser Hass unter anderem von Flinta* aus dem | |
konservativ-rechten Spektrum, die mit Bannern wie „Weiblichkeit statt | |
Feminismus“ herumstolzieren. „Tradwives“ propagieren in den sozialen Medi… | |
ein reaktionäres Frauenbild. Ihr Ideal: die passive, keusche Gattin – ein | |
Bild aus der Zeit der Hexenverfolgung, als weibliche Sexualität zur Zeugung | |
und dem Dienst an Männern reduziert wurde. Durch antifeministische | |
Äußerungen erlangen Antifeministinnen männliche Anerkennung – und werden so | |
ermutigt, als „Pick me Girls“ Flinta* in den Rücken zu fallen. | |
Die Zerstörung der Solidarität unter Frauen war schon früher ein zentrales | |
Instrument, um die patriarchale Ordnung zu verfestigen. Oft setzten Männer | |
Frauen unter Druck, gegen andere Frauen auszusagen, die der Hexerei | |
bezichtigt wurden. Das schürte Misstrauen und Angst unter Frauen und | |
zerstörte die weibliche Solidarität. | |
## Mangelnde Solidarität in der feministischen Bewegung | |
Diese fehlt auch heute bei den modernen Hexenverfolgungen. Über | |
„Hexenjäger“, die Frauen in Teilen Afrikas und Asiens jagen und ermorden, | |
verlieren westliche Feminist*innen kaum ein Wort. Ebenso wenig über die | |
3.000 Frauen, die derzeit in Ghana in „Hexenlagern“ leben, weil sie unter | |
Androhung des Todes aus ihren Gemeinden fliehen mussten. | |
Die Hexenverfolgung, die größten Massenhinrichtungen, die es zu | |
Friedenszeiten in Europa gegeben hat, wird auch hierzulande unter den | |
Teppich gekehrt. Anstatt die Gräuel aufzuarbeiten und ihnen Platz im | |
kollektiven Gedächtnis zu verschaffen, werden sie in trashigen | |
Disney-Produktionen verarbeitet, die frauenfeindliche Stereotype | |
reproduzieren. | |
Flinta* versuchen sich daher, den Hexenbegriff emanzipatorisch anzueignen | |
und seiner demütigenden Wirkung zu berauben. Sie feiern sich bei | |
Vollmond-Ritualen, auf „Witchtok“ und Flinta*-Demos. „Lasst uns Hexen | |
sein!“, riefen Flinta* auf der „Take back the Night“-Demo. „Gierig und | |
promiskuitiv, pervers und queer, das sind wir!“ | |
Nicht nur der Begriff „Witch“ wird sich positiv angeeignet, auch der | |
Begriff „Bitch“. Denn was früher die Witch war, ist heute die Bitch: eine, | |
die nicht kleinlaut und unterwürfig ist. Eine, die ihre Wut artikuliert und | |
das patriarchale System herausfordert. Und wie damals die Witch, wird heute | |
die Bitch von Männern mit Hass überschüttet – aus Angst vor ihrer Macht, | |
ihrem Wissen, ihrer Handlungsfähigkeit. | |
Und die ist gerechtfertigt. Denn die Hexe ist kein Opfer, sondern eine | |
Bedrohung. Und ihre Pläne sind vernichtend: „Mit einem Besen in der Hand | |
putzen wir das Patriarchat blitze blank.“ Hex, hex! | |
„Take back the Night“-Demo, 30. April, 20 Uhr, Mariannenplatz. | |
30 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Lilly Schröder | |
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