# taz.de -- Armut in Deutschland: Der Suppenküchenstaat wächst | |
> Der Armutsforscher Christoph Butterwegge erzählt von der Umwandlung des | |
> Sozialstaats. Er malt ein beunruhigendes Bild unserer gespaltenen | |
> Gesellschaft. | |
Bild: Wenigstens ein Apfel. | |
„Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir | |
haben bei der Unterstützungszahlung die Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, | |
sehr stark in den Vordergrund gestellt.“ (Bundeskanzler G. Schröder vor dem | |
World Economic Forum 2005 in Davos über die Hartz-IV-Gesetze.) | |
„Ich fange einfach mal an“, sagt Herr Butterwegge und wirkt total | |
entspannt: „Mit der Agenda 2010 leitete die rot-grüne Koalition unter | |
Kanzler Gerhard Schröder einen radikalen Kurswechsel ein, der die | |
sogenannte Lissabon-Strategie im nationalen Rahmen umsetzte. Auf dem | |
dortigen EU-Sondergipfel im März 2000 hatten die Staats- und | |
Regierungschefs der Mitgliedstaaten als ’strategisches Ziel‘ für das | |
Jahrzehnt beschlossen und verlautbart, ’die Union zum wettbewerbsfähigsten | |
und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – | |
einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum | |
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen | |
Zusammenhalt zu erzielen.‘ | |
Von Beginn an wurde gelogen und beschönigt, Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld | |
II, war nicht, wie das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder so | |
irreführend formulierte, ’eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und | |
Sozialhilfe‘, da wurde nichts zusammengelegt, die Arbeitslosenhilfe wurde | |
schlicht abgeschafft! Spätestens seit den sog. Hartz-Gesetzen für ’moderne | |
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ ist feststellbar, dass die etablierten | |
Parteien die Interessen der Langzeitarbeitslosen, der Armen, der | |
Geringverdiener immer weniger vertreten, sonst hätten sie nicht solche | |
Gesetze gemacht, wie Zeitarbeit und Leiharbeit zu deregulieren, Mini- und | |
Midi-Jobs einzuführen und damit einen breiten Niedriglohnsektor zu | |
schaffen. | |
Die Prekarisierung der Lohnarbeit ist ja das Haupteinfallstor für Armut bei | |
uns heute in der Bundesrepublik. Und aus dieser Erwerbsarmut wird | |
automatisch Altersarmut. Altersarmut ist also das Ergebnis der | |
Deregulierung des Arbeitsmarkts, der Demontage des Sozialstaats im | |
Allgemeinen und der Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung durch | |
Teilprivatisierung der Altersvorsorge im Besonderen. | |
Seit der Einführung von Hartz IV im Januar 2005 hat sich nicht nur die | |
soziale Ungleichheit verschärft, es wurde auch das Leistungsniveau für den | |
Bürger stark abgesenkt. Die ’Reform‘ des Sozialstaats zieht zwangsläufig | |
eine Pauperisierung nach sich. Zunehmend mehr Menschen werden von | |
Verarmungsprozessen erfasst. Sie sind die Hauptleidtragenden dieser | |
Politik, und viele wenden sich entsetzt von den etablierten Parteien oder | |
überhaupt von der Politik ab. | |
Die Verarmenden und Armen ziehen sich immer mehr zurück, schon deshalb, | |
weil die Teilhabe am öffentlichen gesellschaftlichen Leben ja auch Geld | |
kostet. Sie steigen auch nicht auf die Barrikaden, weil sie ganz andere | |
Sorgen haben, etwa die, wie sie am 20. des Monats noch was Warmes auf den | |
Tisch kriegen. Die soziale Spaltung vertieft sich zusehends, und wir kommen | |
in einen Teufelskreis, der uns, wenn wir nicht aufpassen, auch eine | |
Brutalisierung unserer Gesellschaft bringen wird, mit mehr Drogensucht, | |
Alkoholismus, Kriminalität auf den Straßen und vielem anderen mehr. | |
## Die Armen gehen nicht mehr wählen | |
Dass die Armen sich als Fremde im eigenen Land fühlen, wurde bei der | |
jüngsten Bundestagswahl besonders in den westdeutschen Großstädten | |
augenfällig, es zeigte sich, dass sie vielfach gar nicht mehr wählen gehen. | |
Hier in Köln gab es in Hochhaussiedlungen Wahlbeteiligungen von 40 Prozent, | |
in den Villenvierteln lag sie bei fast 90 Prozent. Das zeigt, wir haben | |
nicht nur eine Krise des Sozialstaats, der Wirtschaft, des Finanzmarkts, | |
wir haben auch eine Krise des Repräsentativsystems der repräsentativen | |
Demokratie! | |
Die sozial Benachteiligten sind derart desillusioniert, dass sie am | |
politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess gar nicht mehr | |
teilnehmen. Eine Demokratie sieht anders aus, Demokratie bedeutet für mich, | |
dass alle Menschen, die in einem Land leben, in der Lage sind, über dessen | |
Schicksal – und damit über ihr eigenes – politisch mitentscheiden zu | |
können. Das können sie aber eher nicht, wenn sie hoffnungslos sind, wenn | |
ihre soziale Absicherung gefährdet ist bzw. am seidenen Faden hängt, weil | |
sie Angst davor haben, am nächsten Monatsende ihre Miete nicht mehr zahlen | |
zu können oder dass ihnen Strom und Gas abgestellt wird, oder weil sie | |
’Transferleistungen‘ beziehen und ständig entwürdigenden Schikanen | |
unterworfen sind. | |
Woran es für die Betroffenen spürbar fehlt, ist Gerechtigkeit. Es gibt ja | |
die gefühlte und gemessene Gerechtigkeit … also das möchte ich mal etwas | |
genauer ausführen: Mit dem Begriff Gerechtigkeit wird zunehmend Schindluder | |
getrieben. An die traditionelle Vorstellung von Gerechtigkeit wird kaum | |
noch angeknüpft. | |
Im politischen Raum sind das immer die Bedarfsgerechtigkeit und die | |
Verteilungsgerechtigkeit gewesen. Bedarfsgerechtigkeit bedeutete, | |
demjenigen, der durch Behinderung, Arbeitslosigkeit und ähnliche | |
Zwangslagen Hilfe braucht, diese auch ausreichend zur Verfügung zu stellen. | |
Aufgabe des Sozialstaats war es, die Armut zu bekämpfen und die Bürger vor | |
bestimmten Lebensstandard… nein Standardlebensrisiken, zu schützen, | |
Krankheit Unfall usw. – was bei uns durch die Sozialversicherungen geregelt | |
ist. | |
Und daneben gab’s die Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, davon, dass | |
die Aufgabe des Sozialstaats natürlich auch darin besteht – als dritte | |
Hauptfunktion des Sozialstaats quasi –, für sozialen Ausgleich zu sorgen, | |
dafür, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht immer tiefer wird. | |
Das war bei den Vätern und wenigen Müttern unserer Verfassung eine ganz | |
konkrete Absicht, dass sie in Artikel 20 und Artikel 28 deutlich | |
reingeschrieben haben, die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer | |
Bundesstaat bzw. ein sozialer Rechtsstaat. So, das beruhte auf der | |
Vorstellung, es muss Verteilungsgerechtigkeit geben, also es darf der | |
Reichtum des Landes sich nicht in den Händen von wenigen konzentrieren, so | |
dass für die große Masse der Bürger kaum Nennenswertes übrig bleibt. | |
Heute ist es aber genau so. Selbst der beschönigte 4. Armuts- und | |
Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2013 sagt, dass die reichsten 10 | |
Prozent der Haushalte über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens in Händen | |
halten, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 50 Prozent, nur | |
über 1 Prozent des Gesamtnettovermögens verfügen darf. Über 40 Millionen | |
Menschen leben sozusagen von der Hand in den Mund. | |
Der Durchschnittsverdiener, der kein Vermögen besitzt, sondern lediglich | |
nur seinen ungesicherten Arbeitsplatz, befindet sich in einer Art sozialem | |
Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, vom Absturz trennt ihn nur | |
eine schwere Erkrankung oder die noch nicht ausgesprochene Kündigung. | |
## Nur Reiche könn sich armen Staat leisten | |
Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 | |
Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staats laut 4. ARB in | |
den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken. | |
Entsprechend sind die Auswirkungen. Es wird verkündet, man müsse ’den | |
Gürtel enger schnallen‘. | |
Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten, sie umsorgen sich | |
selbst, ihre Kinder besuchen Privatschulen und ausländische Universitäten, | |
sie sind auf gute staatliche Schulen und Krankenhäuser, auf öffentliche | |
Schwimmbäder, Bibliotheken und sonstige kommunale Einrichtungen nicht | |
angewiesen. Aus ihrer Wahrnehmung fällt die Lebensrealität eines abhängig | |
Beschäftigten vollkommen heraus.“ (Heute muss ein Arbeitnehmer 45 Jahre | |
lang in Vollzeit arbeiten, und das zu einem Stundenlohn von über 10 Euro, | |
damit er im Alter eine Rente knapp über dem Hartz-IV-Niveau erreicht. 4,7 | |
Millionen Arbeitnehmer verdienen aber derzeit weniger. Anm. G.G.) | |
„Jedenfalls, diese beiden Vorstellungen von Gerechtigkeit, zum einen | |
Bedarfsgerechtigkeit als Aufgabe des Sozialstaats herzustellen und zum | |
anderen Verteilungsgerechtigkeit, die werden mehr und mehr verdrängt. | |
Natürlich durch neoliberale Ideologen, ihre Thinktanks und Einrichtungen. | |
Da gibt es z. B. das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln mit seinem | |
Direktor Michael Hüther, der behauptet, diese Kluft zwischen Arm und Reich | |
sei ein Märchen, in Wirklichkeit schließe sie sich – oder würde zumindest | |
nicht größer. | |
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat als Lobbyeinrichtung der | |
deutschen Wirtschaft natürlich ein verständliches Interesse daran, die | |
soziale Ungleichheit kleinzurechnen. Da wird jetzt sehr stark die | |
’Chancengerechtigkeit‘ betont. Sie haben eine Untersuchung gemacht, bei der | |
angeblich rausgekommen ist, dass die Chancengerechtigkeit die | |
Teilgerechtigkeit ist, die die Deutschen am wichtigsten finden. | |
Früher in den 70er Jahren sprach man mal von Chancengleichheit als Ziel. | |
Heute nehmen nicht nur die FDP, sondern auch andere Parteien diese | |
Chancengerechtigkeit in ihre Programmatik auf. Damit ist aber gar nichts | |
ausgesagt, es ist so, als würde man mir und allen anderen ermöglichen, zur | |
Lottoannahmestelle zu gehen und Lotto zu spielen. Dann hätten wir diese Art | |
von Chancengerechtikeit. | |
Der vorherrschende Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht | |
transformiert: von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der | |
Verteilungs- zur Teilhabegerechtigkeit und von der sozialen Gerechtigkeit | |
zur Generationengerechtigkeit, wobei dieser Begriff ablenken soll von der | |
wachsenden Ungerechtigkeit innerhalb aller Generationen. Eines jedenfalls | |
ist vollkommen unbestreitbar: Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn es ein | |
Mindestmaß von sozialer Gleichheit gibt. | |
Das auszublenden, dass das nicht der Fall ist, es möglichst zu verdrängen, | |
ist Ziel der Propagierung von solchen neuen, modischen Vokabeln und | |
Leerformeln. Sprachkritik ist auch sehr wichtig. Die Verdrehung von Worten | |
und Werten, die Umdeutung tradierter Begriffe wie Gerechtigkeit, | |
Gleichheit, Reform, das ist Sprachmissbrauch als politisches Instrument zum | |
Zweck der ’Gehirnwäsche‘ und Vernebelung ihrer ursprünglichen Bedeutung. | |
## Nur Bildung reicht nicht | |
In der Zeit des ’Wirtschaftswunders‘ in der Bundesrepublik gab es den | |
Slogan ’Wohlstand für Alle‘, er stammt vom 1957 erschienenem gleichnamigen | |
Buch von Ludwig Erhard. Heute ist nur noch ’Bildung für alle‘ das | |
Versprechen, das die Bundeskanzlerin gibt. Dieses Versprechen, die Armut | |
mit Bildung zu bekämpfen, kann vielleicht für Einzelfälle funktionieren, es | |
ist aber Bildung längst kein Garant mehr dafür, dass sie ein berufliches | |
Fortkommen und gutes Einkommen sichert. | |
11 Prozent aller im Niedriglohnsektor Tätigen haben z. B. einen | |
Hochschulabschluss. Selbst im öffentlichen Dienst an den Hochschulen sind | |
es 80 Prozent inzwischen, die nur noch eine befristete Stelle haben. Also | |
das ist ein Bereich, der ja allgemein als gesellschaftlich privilegiert | |
gilt. Dennoch wird unverdrossen propagiert, es soll aus der Bundesrepublik | |
eine Bildungsrepublik gemacht werden. Wer keine oder nur schlecht bezahlte | |
Arbeit hat, hat eben nicht genug Bildungsanstrengungen gemacht. | |
Tatsächlich ist es aber so, dass bei immer besserer Bildung die Jungen z. | |
B. einfach nur auf höherem Niveau um die Arbeitsplätze konkurrieren, | |
unbezahlte Praktika machen und dass noch mehr Taxifahrer mit | |
Hochschulabschluss herumfahren. | |
Und an den Hochschulen selbst ist die Bildung ja auch ’verschlankt‘ worden. | |
Unter Bildung wird nur noch berufliche Qualifikation verstanden, die | |
Hochschulen sollen in möglichst kurzen Studiengängen, sprich | |
Bachelor-Studiengängen, für den Arbeitsmarkt die erforderlichen Kräfte | |
produzieren. Ich habe natürlich Bachelorisierung, Masterisierung, | |
Modularisierung und all das bekämpft, denn im Grunde wird die Universität | |
dadurch reduziert auf eine akademische Berufsschule. | |
Zugleich wurde die Hochschule umstrukturiert, und ich muss mit ansehen, wie | |
stark auch meine Universität hier immer mehr zu einem Unternehmen gemacht | |
wird. Stichwort Exzellenzinitiative. Auf dem Einzelnen lastet ein immer | |
stärker werdender Druck, nur noch das an Wissenschaft zu produzieren, was | |
verwertbar ist und ökonomischen Gewinn abwirft. Der Konformismus in der | |
Wissenschaft ist inzwischen so groß, wie er seit den 50er Jahren der | |
bleiernen Adenauerzeit nicht mehr war. | |
Bildungsversprechen taugen nicht zur Armutsbekämfung. Und auch nicht | |
Reichtumsförderung auf steuerpolitischem Gebiet. Was nötig wäre, ist eine | |
Umverteilung nach unten, und zwar von Einkünften, Vermögen und auch von | |
Arbeit. Arbeitszeitverkürzung wäre ein ganz wichtiger Ansatz und ebenso | |
Lebensarbeitszeitverkürzung. Unabdingbar ist natürlich eine inhaltliche, | |
organisatorische und strukturelle Erneuerung des sozialen | |
Sicherungssystems. | |
Wobei ich Ihnen an dieser Stelle sagen muss, ich halte nichts vom | |
’bedingungslosen Grundeinkommen‘. Das wird Sie vielleicht wundern, aber ich | |
will meine Gründe darlegen, vielleicht kann ich Sie ja überzeugen: Ins | |
Gespräch gebracht wurde es als Alternative zum Sozialstaat, nach dem Motto, | |
wir vertrauen jetzt nicht mehr auf unsere bisherigen sozialen | |
Sicherungssysteme, sondern wir lösen das, was einstmals hart erkämpft wurde | |
und wie es besteht seit Bismarck, ab und ersetzen es komplett durch ein | |
steuerfinanziertes bedingungsloses Einkommen. Das ist für mich | |
Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, ein Grundeinkommen für alle | |
Mitglieder der Gesellschaft, ob arm ob reich. | |
## Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine Falle | |
Hier wird das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit vollkommen auf den Kopf | |
gestellt. Es gibt verschiedene Modelle, wobei das Konzept der Linken sich | |
allerdings von dem der anderen unterscheidet. Einer der Hauptvertreter fürs | |
bedingungslose Grundeinkommen ist Götz Werner, Milliardär und Gründer der | |
DM-Drogeriemarkt-Kette, und der braucht nun wirklich kein bedingungsloses | |
Grundeinkommen von 1.000 oder 1.500 Euro vom Staat. Ich als C4-Professor | |
brauche es auch nicht. | |
Die andere Sache ist aber, dass es für die, die es brauchen, eine Falle | |
ist. Es wäre im Grunde ein Kombi-Lohn für ALLE. Es wäre ein eindeutiges | |
Signal an die Unternehmer, das als Lohnsubvention aufzufassen. Der ohnehin | |
schon ausufernde Niedriglohnsektor, in dem jetzt schon fast alle | |
Beschäftigten arbeiten – über 4 Millionen Menschen arbeiten für einen | |
Bruttostundenlohn von unter 7 Euro –, der würde noch breiter. | |
Sehr deutlich ist das heute ja schon an der immer größer werdenden Zahl von | |
’Aufstockern‘. Hartz IV ist ja nicht nur für Langzeitarbeitslose, es werden | |
auch 1,3 Millionen Erwerbstätige finanziert, weil ihre Einkommen so gering | |
sind, dass sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter in Anspruch | |
nehmen müssen. | |
Und wenn man das Grundeinkommen finanzieren will, so wie Götz Werner, | |
nämlich über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, dann wird das Geld beim | |
Einkauf ja schon wieder aufgezehrt. Dem hält er das Argument entgegen, dass | |
durch den von ihm gewünschten vollkommenen Wegfall der Einkommens-, | |
Gewerbe- und Körperschaftssteuer für Unternehmer diese dann, wegen der | |
finanziellen Entlastung, ihre Preise senken würden. Das ist natürlich ein | |
genialer Einfall, um auch noch die letzten Verpflichtungen loszuwerden. | |
Außerdem würde eine 50- oder 100-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer | |
dazu führen, dass gerade diejenigen, die wenig haben, die sozial | |
Benachteiligten, die jeden Cent in den notwendigen Alltagskonsum stecken | |
müssen, ihr bedingungsloses Grundeinkommen auch noch selber finanzieren. | |
Ich kann natürlich verstehen, dass viele, die durch Schikanen und | |
Sanktionen der Jobcenter drangsaliert werden und keine ruhige Nacht mehr | |
haben, nach diesem Strohhalm nur allzu gerne greifen würden. | |
## Licht am Ende des Tunnels | |
Aber das Licht am Ende des Tunnels würde sich bald als Trugschluss | |
erweisen, denn über das Grundeinkommen hinaus gibt es dann keinerlei | |
verbürgten Rechtsanspruch mehr. Auf nichts! Es ist alles abgegolten. Die | |
eigentlichen Gewinner sind wieder mal nur die Vermögenden und Unternehmen, | |
die endlich von allen Abgaben befreit wären. | |
Es ist ja heute schon so, dass nur noch Rudimente der ehemaligen Ansprüche | |
der Arbeitnehmer und Arbeitslosen übrig geblieben sind. Dahinter steckt die | |
Absicht, dass der Sozialversicherungsstaat in der Tradition Bismarcks mehr | |
und mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat gemacht wird. | |
Im Resultat führt das zu einer ’US-Amerikanisierung‘ unseres Sozialstaats. | |
Und es führt dazu, dass den prestigebedachten Reichen die Möglichkeit | |
eröffnet wird, zu spenden, zu stiften, als Mäzene aufzutreten und Almosen | |
zu verteilen. Almosen übrigens, die verteilte der Sozialstaat vor seiner | |
Demontage nämlich gerade nicht, weil er die Grundrechte beachten musste und | |
sein Handeln auf Rechtsansprüchen beruhte. Almosenempfänger hingegen haben | |
keinen Rechtsanspruch. Sie sind der Bereitschaft der Reichen ausgeliefert, | |
etwas abzugeben von ihrem Reichtum. | |
Das spiegelt auch genau dieses neoliberale und marktradikale Denken wider, | |
dass das mündige Individuum im Sinne seiner Freiheit – jetzt nicht der | |
Freiheit des Citoyens, sondern des Bourgeois, und diese Unterscheidung ist | |
wesentlich – entscheidet, was und wofür und wem es gibt von seinem | |
Reichtum. Die Bedürftigen hingegen haben die Freiheit, Wohlverhalten, | |
Bescheidenheit, Fügsamkeit und natürlich auch Dankbarkeit an den Tag zu | |
legen – oder auch nicht. | |
Nein! Wofür ich plädiere, ist etwas ganz anderes: eine allgemeine, | |
einheitliche und solidarische Bürgerversicherung als eine konsequente | |
Weiterentwicklung des von Bismarck begründeten Sozialversicherungssystems. | |
Dazu ist ein Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer | |
Sozialversicherung aller Wohnbürgerinnen- und -bürger nötig. Und dadurch | |
erfährt diese Bürgerversicherung auch ihre wichtigste Rechtfertigung, dass | |
sie nämlich den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte | |
Wohnbevölkerung einbeziehenden solidarischen Sicherungssystem verwirklicht. | |
## Es braucht eine Bürgerbewegung | |
Dass nicht mehr nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch | |
Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete, Minister usf. mit ihren | |
sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten zur Finanzierung der Leistungen im | |
Sozial- und Gesundheitsbereich herangezogen oder ’verbeitragt‘ werden, wie | |
der Fachausdruck heißt. Ich bin übrigens, das ist ein wichtiger Punkt, den | |
ich einschieben möchte, nicht für den Wegfall des Arbeitgeberbeitrages, | |
sondern im Sinne einer Maschinensteuer, eines Wertschöpfungsbeitrags kann | |
ich mir sogar vorstellen, dass man das noch ausweitet. Jedenfalls kann ich | |
mir eine solidarische Bürgerversicherung für alle geeigneten | |
Versicherungszweige vorstellen, auch für die Kranken-und Pflegeversicherung | |
. | |
Und es ist doch die Frage, warum eigentlich der riesige private Reichtum | |
nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt | |
werden sollte. Es muss sich endlich, um das durchzusetzen, eine breite, | |
möglichst alle Bevölkerungsschichten übergreifende Bürgerbewegung | |
herausbilden, die solch eine Bürgerversicherung mit aller Macht einfordert | |
und damit eine Umverteilung von oben nach unten ermöglicht. Und es muss | |
durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung dafür gesorgt werden, dass es | |
keine Armut, Unterversorgung und soziale Exklusion gibt. Bürgerversicherung | |
und Grundsicherung müssen als siamesische Zwillinge gedacht werden. | |
Diese soziale Grundsicherung muss ihren Namen aber auch verdienen. Sie muss | |
deutlich über dem Niveau der heutigen Sozialhilfe liegen. Sie muss das | |
soziokulturelle Existenzminimum – und zwar ohne eine entwürdigende | |
Antragstellung und eine bürokratisch-exzessive Bedürftigkeitsprüfung – | |
wirklich problemlos sicherstellen. Sie muss also armutsfest und | |
repressionsfrei sein und eine weder durch Existenzangst bestimmte noch von | |
Ausgrenzung bedrohte Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben | |
ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Modell nicht durch die | |
’Grundsicherung für Arbeitsuchende‘ im SGB II nach Hartz IV für immer | |
diskreditiert ist. | |
Mein Resümee ist: Wenn hier der Neoliberalismus mit seiner marktradikalen | |
Sozialphilosophie – von der ich sage, dass sie eine politische | |
Zivilreligion ist, die im Grunde alle Poren der Gesellschaft bereits | |
durchdringt –, wenn die zur herrschenden Weltsicht wird, dann geht das | |
einher mit einem rigiden Armutsregime, mit einer Kriminalisierung der Armen | |
und Stigmatisierung der Überflüssigen. | |
Ich halte nichts von der Verelendungstheorie, deshalb sage ich, gegen eine | |
solche Entwicklung müssen sich breite Bündnisse bilden zwischen | |
Arbeitslosenforen, Gewerkschaften, Kirchen, Globalisierungskritikern wie | |
Attac und den vielen anderen kritischen Organisationen und Initiativen, die | |
ja zahlreich existieren in diesem Land. Es gibt in der Gesellschaft so | |
einen Unwillen, eine Unzufriedenheit in dem Sinn, dass man mit sich mit dem | |
Status quo nicht mehr abspeisen lassen will. | |
Ich wünsche mir eine Renaissance des Solidaritätsgedankens und die | |
Schaffung eines ’inklusiven‘ Sozialstaats, der alle Lebensformen toleriert | |
– nicht wie Rot-Grün einen ’investiven‘, dessen Sozialpolitik zwangsläu… | |
zu noch mehr sozialer Selektion führt. Sicher, ich bin mir absolut bewusst | |
darüber, mit einem inklusiven Sozialstaat ist noch lange nicht der | |
Kapitalismus beseitigt, aber man hat ihn mit Sicherheit etwas erträglicher | |
gemacht, fürs Erste. Das ist die Dialektik, die dem Sozialstaat innewohnt. | |
Ein solcher Sozialstaat wäre aber sozusagen die vorgeschobenste Bastion | |
einer Bewegung, die einen Systemwechsel anstrebt und die will, dass dieser | |
Finanzmarktkapitalismus überwunden wird.“ | |
25 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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