# taz.de -- Ausbeutung in der Saisonarbeit: Sind alle gleich vor dem Gesetz? | |
> Seit drei Jahren kämpft Levani Idadze um den Lohn für seine Arbeit auf | |
> deutschen Erdbeerfeldern. Er zog dafür vor Gericht – und hofft nun auf | |
> Gerechtigkeit. | |
Bild: Er will Gerechtigkeit: Saisonarbeiter Levani Idadze | |
Oldenburg taz | Am Ende von zweieinhalb kräftezehrenden Monaten auf | |
deutschen Erdbeerfeldern sitzt der Georgier [1][Levani Idadze] am Eingang | |
eines landwirtschaftlichen Betriebs, über ihm drei handgeschriebene | |
Schilder aus Karton. Darauf das Wort „Sklaverei“, es ist durchgestrichen, | |
„Stop trafficking“ – „Stoppt den Menschenhandel“ –, und „Wir brau… | |
Geld“. Idadze hat die Schilder gebastelt und sich davorgesetzt, anstatt auf | |
den Feldern des Betriebs Erdbeeren zu pflücken. Ein Kollege hat die Szene | |
im Juli 2021 fotografiert. Sie ist das vorläufige Ende einer Odyssee durch | |
Deutschland für Levani Idadze und 22 weitere Saisonarbeiter:innen, die sich | |
aus Georgien aufgemacht hatten, um bei der Ernte in Deutschland Geld zu | |
verdienen. Was mit einem fairen Angebot und der Aussicht auf ein gutes | |
Einkommen begann, endete mit einem Streik am Hoftor. | |
Dreieinhalb Jahre später, Anfang Dezember 2024, ist Idadzes Protest Thema | |
in einem deutschen Gericht. Im Sitzungssaal 4 des Arbeitsgerichts OIdenburg | |
sitzen sich Idadze und der Landwirt, gegen den er protestiert hat, zum | |
ersten Mal seit dem Vorfall direkt gegenüber. | |
„Die haben Videos gedreht und nach Georgien geschickt, sie haben eine Demo | |
veranstaltet auf meinem Hof und die Kundschaft verscheucht!“, poltert der | |
Landwirt Franz-Josef Gelhaus, ein hünenhafter Mann mit weißem Haar. „Wir | |
haben mehrfach versucht, mit Ihnen zu reden“, entgegnet Idadze. „Ich wusste | |
am Ende nicht mehr, was ich sonst machen soll.“ | |
Idadze, 29 Jahre alt, dunkle Augen, die Haare kurz rasiert, lebt | |
mittlerweile in Deutschland und ist eine Art Sprecher der georgischen | |
Saisonarbeiter:innen geworden. Vor Gericht will er seine und die | |
Geschichte von seinen Kolleg:innen erzählen. Denn der Landwirt | |
Franz-Josef Gelhaus, so der Vorwurf, habe sie nicht bezahlt. Null Euro für | |
mehr als einen Monat Arbeit. | |
## Manche mussten sich das Geld für den Heimweg leihen | |
Dabei schien alles gut geregelt, als die Gruppe sich Anfang Mai 2021 ins | |
Flugzeug nach Deutschland setzte. Es gab ein neues Abkommen zwischen den | |
beiden Staaten über die Saisonarbeit in der Landwirtschaft: bis zu 5.000 | |
Georgier:innen pro Jahr, Arbeitsverträge, feste Arbeitszeiten, | |
Mindestlohn. Doch Idadze und die anderen Arbeiter:innen schildern die | |
Zeit in Deutschland vollkommen anders. Nach wenigen Wochen floh die Gruppe | |
von einem Erdbeerhof am Bodensee zu Gelhaus’ Betrieb in Niedersachsen. Doch | |
auch dort gab es schnell Probleme. Die Arbeitsbedingungen seien in beiden | |
Fällen viel schlechter gewesen als vereinbart, sagen die Arbeiter:innen. | |
Akkordarbeit statt Stundenlohn, statt den erwarteten rund 4.000 Euro pro | |
Person haben die meisten am Ende gerade einmal ein paar Hundert Euro | |
verdient. Manche mussten sich Geld leihen, um die Flugtickets zurück nach | |
Georgien zu bezahlen. | |
Jährlich kommen Hunderttausende Saisonarbeiter:innen aus Mittel- und | |
Osteuropa, aus Polen, Rumänien oder Bulgarien, zunehmend aber auch aus | |
weiter entfernten Ländern wie Georgien oder Usbekistan nach Deutschland. | |
Sie pflücken Beeren, stechen Spargel, ernten Gurken oder Kohl. Jedes Jahr | |
werden Fälle von Ausbeutung öffentlich, nicht gezahlte Löhne, schimmelige | |
Unterkünfte, sogar abgenommene Pässe. Nur vor Gericht landen diese Fälle | |
selten. Für die meisten Arbeiter:innen ist es einfacher, den Betrieb zu | |
verlassen und möglichst schnell woanders Arbeit zu suchen, als zu klagen. | |
Die Verfahren dauern oft Jahre, sie kosten Geld, hinzu kommt der | |
Schriftverkehr auf Deutsch und das Risiko, am Ende zu verlieren. | |
Die Gruppe um Levani Idadze ist einen anderen Weg gegangen. Sie haben | |
protestiert, Videos in sozialen Medien gepostet, noch während sie in den | |
Betrieben beschäftigt waren. Sie haben Journalist:innen in Deutschland | |
und Georgien informiert, Gewerkschaften und Berater:innen | |
eingeschaltet, die beiden Landwirte in Deutschland verklagt und auch eine | |
georgische Behörde, die die Jobs vermittelt hat. Man kann sagen: Sie haben | |
alle Mittel des Rechtsstaats genutzt, um auf sich aufmerksam zu machen und | |
Gerechtigkeit zu erfahren. | |
Und doch ist die Bilanz nach drei Jahren mager. Ein paar Hundert Euro hat | |
das Landesarbeitsgericht in Stuttgart den Arbeiter:innen zugesprochen – | |
in einem Vergleich. Weder das Gericht noch die Landwirte haben anerkannt, | |
dass die Situation so war, wie sie die Arbeiter:innen beschreiben. „Die | |
zwei Monate in Deutschland waren für uns eine Beleidigung“, sagt Idadze. | |
Und so geht es an diesem Dienstag Anfang Dezember im Oldenburger | |
Gerichtssaal für die Georgier:innen nicht nur um Geld, sondern auch um | |
die Frage, ob die Justiz ihnen glaubt. Ob das, was sie als Respektlosigkeit | |
bezeichnen, auch als Unrecht anerkannt wird. | |
## Die Wege zum Gericht sind unterschiedlich weit | |
Die Arbeiter:innen haben ihre täglichen Arbeitszeiten in Excel-Tabellen | |
notiert und dem Gericht vorgelegt. Zudem will Levani Idadze von seinen | |
Erlebnissen auf dem Betrieb berichten. In der Hoffnung, die Richter zu | |
überzeugen. | |
Bis auf Idadze leben alle Arbeiter:innen im Ausland, sie sprechen kaum | |
Deutsch und haben wenig Geld für Reisen, Anwält:innen oder Dokumente. | |
All diese Dinge stellen sich als hohe Barriere heraus, wenn man vor einem | |
deutschen Gericht Recht bekommen will. In Deutschland, scheint es, haben | |
nicht alle den gleichen Zugang zum Recht. | |
Wie verschieden die Bedeutung dieses Gerichtstermins in Oldenburg für die | |
Parteien ist, wird schon deutlich, da hat die Verhandlung noch gar nicht | |
begonnen. Levani Idadze hat sich an diesem Dezembermorgen für die | |
Verhandlung in Oldenburg Urlaub genommen. Eigentlich macht er in einer | |
Edeka-Filiale in Schleswig-Holstein eine Ausbildung zum Fleischer, | |
zusätzlich jobbt er in einem Steakhouse, um über die Runden zu kommen. | |
Idadze ist um fünf Uhr morgens aufgestanden, hat sich drei Stunden lang in | |
Regionalbahnen gesetzt, er ist in Oldenburg zur Sicherheit den kurzen Weg | |
vom Bahnhof zum Arbeitsgericht abgelaufen, um sich nicht kurz vor dem | |
Termin doch noch zu verirren. Die drei Stunden bis zur Verhandlung | |
verbringt er in der kalten Bahnhofshalle und wartet. | |
Der Landwirt Franz-Josef Gelhaus hingegen fehlt, als der Termin beginnen | |
soll. Sein Anwalt bittet um Entschuldigung, Gelhaus habe kein Navi, er | |
finde das Gericht nicht. Schweigen, bemühter Smalltalk, bis Gelhaus zehn | |
Minuten später doch noch wortlos durch die Tür tritt. „Gut, fangen wir an�… | |
sagt der Richter. Er verliest den Sachstand, dann äußern sich erst der | |
Landwirt, dann Idadze. | |
## Dreckige Toiletten, Schimmel, Löcher im Boden | |
Was im Gerichtssaal nicht zur Sprache kommt: Die Geschichte der Gruppe | |
beginnt schon viel früher als auf Franz-Josef Gelhaus’ Betrieb. Anfang 2021 | |
hörte Idadze, damals noch in Georgien, von einem Angebot: Arbeit in | |
Deutschland, mit Visum, Arbeitsvertrag, geregelten Arbeitszeiten und | |
deutschem Mindestlohn, damals 9,50 Euro pro Stunde. „Ich habe | |
Wirtschaftswissenschaften studiert“, sagt Idadze. „Aber mit meinem Studium | |
bekommst du in Georgien vielleicht 400 Euro im Monat.“ Als Saisonarbeiter | |
in Deutschland konnte man mehr als das Dreifache verdienen. Idadze war | |
schon einmal in Deutschland, er hatte während seines Studiums ein Praktikum | |
in einer McDonald’s-Filiale gemacht. Er bewarb sich, bekam eine Zusage, | |
kaufte Flugtickets und reiste Anfang Mai mit 22 Kolleg:innen nach | |
Deutschland. Er unterschrieb auch einen Arbeitsvertrag: Drei Monate | |
Arbeitszeit in einem Erdbeerbetrieb bei Friedrichshafen am Bodensee, | |
maximal 48 Stunden pro Woche. | |
Doch vor Ort war die Situation anders als erwartet. Die Wohncontainer waren | |
heruntergekommen und unhygienisch. Auf einem der Videos, das die | |
Arbeiter:innen aufgenommen haben, sieht man dreckige Toiletten, | |
Schimmel, Löcher im Boden und eine hohe Mauer nur wenige Zentimeter vor dem | |
Fenster eines der Schlafzimmer. „So etwas hätte ich mir überhaupt nicht | |
vorstellen können“, sagte damals einer von Idadzes Kolleg:innen. „Ich will | |
gar nicht die Wörter benutzen, die mir dafür in den Sinn kommen.“ | |
Offenbar hatte der Landwirt auch nicht genügend Arbeit für die | |
Georgier:innen. Statt der vereinbarten 48 Wochenstunden arbeitete die | |
Gruppe oft nur wenige Stunden am Tag, es waren zu wenige Erdbeeren reif. | |
Der Landwirt bezahlte sie nach Akkord, pro Kiste Erdbeeren. In Deutschland | |
ist das erlaubt, solange der Mindestlohn nicht unterschritten wird. In | |
einem heimlich aufgezeichneten Video sieht man, wie Levani Idadze im Namen | |
der Gruppe mit dem Landwirt verhandelt. Er will, dass der Landwirt jeden | |
Monat Geld überweist. Der Landwirt aber will erst am Ende der Saison | |
bezahlen und bietet 300 Euro Vorschuss. „Für die Landwirte ist das auch | |
schwer“, sagt Idadze heute. „Sie sind vom Wetter abhängig.“ Doch der | |
Landwirt vom Bodensee habe einfach zu wenig bezahlt. | |
Schon damals machte die Gruppe um Idadze ihre prekäre Situation öffentlich. | |
Sie nahmen Videos auf und stellten sie auf Facebook, sie riefen | |
Journalist:innen an und erzählten auch der [2][taz ihre Geschichte]. In | |
georgischen Medien schlug die Nachricht Wellen. Das Vermittlungsabkommen | |
zwischen Deutschland und Georgien war eine der wenigen Chancen für | |
georgische Arbeiter:innen auf einen [3][Job innerhalb der EU]. Doch | |
ausgerechnet im reichen Deutschland wurden die Menschen offenbar | |
ausgebeutet. Von den möglichen 5.000 georgischen Arbeiter:innen kamen | |
2021 nur 300 nach Deutschland. Möglich, dass die Berichte vom Bodensee zu | |
Beginn der Saison viele Landsleute abgeschreckt haben. | |
## Der Landwirt habe selbst kein Geld | |
Die deutsche Botschaft in Tiflis war damals um Schadensbegrenzung bemüht. | |
Kurz nach den Vorfällen verschickte sie eine Pressemitteilung: „Die | |
aktuellen Probleme zeigen einen bedauerlichen Einzelfall“, zitiert sie die | |
zuständige Bundesagentur für Arbeit. Doch die deutschen Behörden hätten die | |
Vorwürfe untersucht und Maßnahmen ergriffen. Unter anderem hat das | |
zuständige Landratsamt bei einer Kontrolle Mängel festgestellt, die der | |
Landwirt beseitigen sollte. | |
Nur sind die Ereignisse vom Bodensee kein Einzelfall geblieben. | |
Mit der Unterstützung einer Beratungsstelle fand die Gruppe Arbeit in | |
Franz-Josef Gelhaus’ Erdbeerbetrieb und fuhr mit dem Bus vom Bodensee nach | |
Niedersachsen. „Zu Beginn war alles gut“, sagt Idadze. Die Unterkünfte bei | |
Gelhaus im Landkreis Vechta seien sauber gewesen, es habe mehr Arbeit | |
gegeben. Ein Arbeitsvertrag über maximal 46 Wochenstunden liegt der taz | |
vor. Doch auch Gelhaus bezahlte in seinem Erdbeerbetrieb für die meisten | |
Arbeiten nach Akkord – nicht nach Stunden. Die Hälfte der Gruppe reiste | |
nach wenigen Tagen entnervt ab, Vertreter:innen der georgischen | |
Botschaft und der Bundesagentur für Arbeit waren vor Ort. Idadze und neun | |
weitere Arbeiter:innen aber blieben. „Ich wollte nicht mit leeren | |
Händen nach Georgien zurückkehren“, sagt er. | |
Doch es habe auch danach immer wieder Konflikte gegeben. Der Landwirt | |
Gelhaus behauptet, die Gruppe habe wesentlich langsamer gearbeitet als | |
andere Saisonarbeiter:innen. „Wir haben so viel gepflückt, wie reif | |
war“, sagt Idadze. Erneut ist es Idadze, der für die Gruppe mit dem | |
Landwirt verhandelt, erneut zeichnen die Arbeiter:innen heimlich ein | |
Video auf. „Wir brauchen das Geld“, sagt Idadze. „Unser Flug geht in | |
wenigen Tagen.“ Gelhaus entgegnet, dass er so schnell kein Geld bekomme. | |
Danach, sagt Idadze, habe er entschieden, nicht mehr zu arbeiten. Er habe | |
die Tage im Container verbracht, Deutsch gelernt und die Kartons mit den | |
Protestsprüchen beschriftet. | |
Im Gerichtssaal in Oldenburg fragt Idadzes Anwalt den Landwirt, warum er | |
damals gar keinen Lohn gezahlt habe. Gelhaus beschwert sich über den | |
Protest, darüber, dass die Männer angeblich betrunken gewesen seien und | |
über einen Polizeieinsatz auf dem Hof. Die Polizei bestätigt einen Einsatz, | |
weitere Details nennt sie nicht, weil kein Ermittlungsverfahren eingeleitet | |
wurde. Einen möglichen Grund für die nicht gezahlten Löhne nennt dann | |
Gelhaus’ Anwalt. Der Landwirt habe kein Geld, allein das laufende Konto sei | |
im fünfstelligen Bereich im Minus. „Wenn Ihnen selbst das Wasser bis unter | |
die Nase steht, dann schauen Sie in dem Moment auf sich“, sagt er. Gelhaus | |
versuche, die Schulden abzubezahlen. | |
## Die Ungerechtigkeit treibt Idadze um | |
In der Pause erzählt Franz-Josef Gelhaus der taz vom Niedergang seines | |
Betriebs. 2017 ein Ernteausfall durch Hagel, dann drei Jahre Trockenheit | |
mit magerer Ernte, schließlich die Coronakrise. Den Betrieb habe er | |
eingestellt und sich stattdessen in einer Schweinemastanlage anstellen | |
lassen. Für die Georgier:innen bedeutet die Insolvenz: Selbst wenn | |
Gelhaus verurteilt wird, kann er erst mal nicht zahlen. Sie hätten dann | |
zwar Recht bekommen – aber kein Geld. | |
Fragt man Levani Idadze, warum er die vielen Jahre durchgehalten hat, dann | |
spricht er von der Ungerechtigkeit, die ihn umtreibt – er nennt aber auch | |
einen Namen: Margarete Brugger. „Kaum jemand von uns spricht Deutsch, wir | |
kennen keine Anwälte, wir hatten kein Geld“, sagt Idadze. „Ohne Frau | |
Brugger hätten wir nicht gewusst, wie das alles geht.“ | |
Margarete Brugger ist eine freundliche Frau, aber die Empörung der | |
Sozialarbeiterin wird deutlich, wenn sie über die Erfahrungen der | |
vergangenen drei Jahre spricht. „Mein Eindruck ist, dass Arbeitgeber von | |
offiziellen Stellen ernster genommen werden als Arbeitnehmer“, sagt sie. | |
„Wenn ein Arbeitgeber nicht alle Unterlagen bringt oder nicht vollständig | |
bezahlt, ist das nicht so schlimm. Ein Arbeitnehmer aber muss jedes Detail | |
nachweisen.“ | |
Brugger berät in Freiburg bei der Beratungstelle „Mira – mit Recht bei der | |
Arbeit“ Menschen aus Nicht-EU-Ländern, die in Deutschland leben. Die | |
meisten sind in Asylverfahren, die Landwirtschaft war neu für Brugger. Das | |
Arbeitsministerium, das die Beratungsstelle fördert, habe sie nach dem | |
taz-Bericht informiert, sagt sie. Brugger verständigte einen Kollegen, sie | |
organisierte eine Übersetzerin und fuhr hin. Die Schilderungen der | |
Georgier:innen hätten sie erschüttert, sagt sie, und ihr Mut habe sie | |
beeindruckt. „Es war klar, es braucht eine Person, die sich verantwortlich | |
fühlt und hier in Deutschland Druck macht.“ | |
## Ein Erfolg, trotz allem | |
Brugger hat seitdem den Fall begleitet, in ihrer Arbeitszeit und schnell | |
auch darüber hinaus, sie hat Briefe an die Landwirte geschrieben, Behörden | |
und Gerichte informiert, Kontakte in Georgien hergestellt und ein Netzwerk | |
an Unterstützer:innen aufgebaut. Die Arbeiter:innen sind der | |
Gewerkschaft [4][IG BAU beigetreten], die ein Jahresmodell für | |
Saisonarbeiter:innen anbietet. Nur so war es möglich, überhaupt zu | |
klagen. Niemand aus der Gruppe hätte sich Anwält:innen leisten können. | |
Im Dezember 2021 klagten 18 der Arbeiter:innen gegen den Landwirt vom | |
Bodensee und bekamen in erster Instanz weitgehend Recht. Doch der Landwirt | |
ging in Berufung, er bezweifelte die Stundenzahl, die die | |
Arbeiter:innen geltend gemacht hatten. Vor dem Landesarbeitsgericht | |
Stuttgart schlossen die Arbeiter:innen einen Vergleich. Alle | |
Arbeiter:innen bekamen Beträge zwischen 400 und 600 Euro zugesprochen, | |
im Schnitt etwa ein Drittel der geforderten Löhne. | |
Das Problem: Die Arbeiter:innen hätten vor Gericht jede gearbeitete | |
Stunde nachweisen müssen, etwa auf einem täglich ausgefüllten | |
Stundenzettel, am besten unterschrieben vom Landwirt. „Das haben wir am | |
Bodensee nicht gemacht, weil wir nicht wussten, dass das relevant sein | |
könnte“, sagt Idadze. Sie hätten auf das Abkommen und den Arbeitsvertrag | |
vertraut. Die Arbeiter:innen standen damals vor der Wahl: Wenige | |
Hundert Euro sicher – oder das Risiko, gar kein Geld zu bekommen, wenn die | |
Beweise nicht reichen. Alle Arbeiter:innen entschieden sich für den | |
Vergleich. | |
„Ich bewerte das trotzdem als Erfolg“, sagt Margarete Brugger. „Indem ihn… | |
ein Teil der Summe zugewiesen wurde, haben sie auch moralisch ein Stück | |
weit Recht bekommen.“ Auch Idadze sieht das so. | |
In Deutschland sind Unternehmen seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts | |
2022 zwar verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter:innen zu | |
erfassen. Der Fall vom Bodensee aber zeigt: Vor Gericht liegt die | |
Beweislast trotzdem bei den Arbeiter:innen. Erfasst der Betrieb die | |
Arbeitszeit nicht transparent, bleibt Arbeiter:innen ohne belastbare | |
Aufzeichnungen oft nur ein Vergleich. Die Ampelkoalition wollte nach dem | |
Urteil 2022 mit einem Gesetz Rechtssicherheit schaffen und Arbeitszeiten | |
etwa elektronisch erfassen lassen. Doch die Koalition wurde sich nicht | |
einig, das Vorhaben scheiterte. Für die Georgier:innen hätte es | |
vermutlich Klarheit gebracht. | |
## Arbeitszeiten täglich notiert | |
Nach den Erlebnissen am Bodensee haben die Arbeiter:innen dazugelernt. | |
Bei Landwirt Gelhaus in Niedersachsen haben sie ihre Stunden täglich | |
notiert. Die taz konnte die Excel-Tabelle, die auch dem Gericht vorliegt, | |
einsehen. Auch Franz-Josef Gelhaus hat Arbeitszeiten vorgelegt, jedoch nur | |
für die Arbeiten, die er nach Stunden abgerechnet hat. Die eigentliche | |
Erntezeit, in der nach Akkord gearbeitet wurde, hat Gelhaus nicht notiert, | |
lediglich den Lohn pro Kilo geernteter Beeren. Die Summe, die Gelhaus auf | |
dieser Grundlage zahlen will, ist wesentlich niedriger. Insgesamt etwas | |
mehr als die Hälfte dessen, was die Georgier:innen fordern. | |
Das Arbeitsgericht in Oldenburg hört sich beide Seiten an und zieht sich | |
nach einer knappen Stunde zur Beratung zurück. Am selben Tag sprechen sie | |
Idadze und den anderen Kläger:innen die volle geforderte Summe zu, | |
insgesamt über 20.000 Euro. „Der Vortrag der Kläger war so ausführlich, da | |
hat uns das pauschale Bestreiten der Arbeitszeit des Beklagten nicht mehr | |
gereicht“, sagt der Richter. Das Gericht hat Idadze und seinen | |
Kolleg:innen geglaubt. | |
Als Idadze von dem Urteil erfährt, steht er in einer kleinen Gasse in der | |
Oldenburger Innenstadt und kann nicht aufhören zu grinsen. „Egal, ob wir | |
das Geld bekommen oder nicht, heute hat ein Gericht bestätigt, dass uns | |
Unrecht widerfahren ist“, sagt er. Es scheint, als hätten die Oldenburger | |
Richter an diesem Tag Idadzes Würde und die seiner Kolleg:innen | |
wiederhergestellt. | |
Dass Idadze und seine Kolleg:innen so weit gekommen sind, ist einer | |
außergewöhnlichen Konstellation geschuldet. Da sind die Arbeiter:innen, die | |
über drei Jahre hinweg kämpfen, während viele die Schulden aus Deutschland | |
in Georgien abarbeiten. Idadze ist der einzige aus der Guppe, der in | |
Deutschland wohnt. Dazu eine Gruppe von Unterstützer:innen in | |
Deutschland. Doch klar ist auch: So eine intensive Unterstützung kann es | |
nur in wenigen Fällen geben. Damit der Zugang zum Recht allen offensteht, | |
ist auch die Politik gefragt. | |
Anfang Februar 2025 wird bekannt: Auch der Landwirt Gelhaus hat Berufung | |
gegen das Urteil vom Dezember eingelegt – genau wie zuvor sein Kollege vom | |
Bodensee. Gelhaus hat nun ebenfalls eine Stundenliste für die gesamte | |
Arbeitszeit eingereicht, auf der allerdings wesentlich weniger Stunden | |
notiert sind. Statt der rund 2.500 Euro, die das Gericht Idadze | |
zugesprochen hat, will Gelhaus lediglich 1.400 Euro zahlen – vorausgesetzt, | |
er treibt das Geld auf. | |
Idadze ist trotzdem zuversichtlich. „Diesmal haben wir bessere Chancen zu | |
gewinnen“, sagt er. Sie hätten ihre Stundenzettel jeden Tag akkurat | |
ausgefüllt, das seien gute Belege. Ein Termin für die Verhandlung steht | |
noch nicht fest, es könnte bis zum Sommer dauern. An das Warten, sagt | |
Levani Idadze, hätten sie sich mittlerweile gewöhnt. | |
23 Mar 2025 | |
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