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# taz.de -- Ausbeutung in der Saisonarbeit: Sind alle gleich vor dem Gesetz?
> Seit drei Jahren kämpft Levani Idadze um den Lohn für seine Arbeit auf
> deutschen Erdbeerfeldern. Er zog dafür vor Gericht – und hofft nun auf
> Gerechtigkeit.
Bild: Er will Gerechtigkeit: Saisonarbeiter Levani Idadze
Oldenburg taz | Am Ende von zweieinhalb kräftezehrenden Monaten auf
deutschen Erdbeerfeldern sitzt der Georgier [1][Levani Idadze] am Eingang
eines landwirtschaftlichen Betriebs, über ihm drei handgeschriebene
Schilder aus Karton. Darauf das Wort „Sklaverei“, es ist durchgestrichen,
„Stop trafficking“ – „Stoppt den Menschenhandel“ –, und „Wir brau…
Geld“. Idadze hat die Schilder gebastelt und sich davorgesetzt, anstatt auf
den Feldern des Betriebs Erdbeeren zu pflücken. Ein Kollege hat die Szene
im Juli 2021 fotografiert. Sie ist das vorläufige Ende einer Odyssee durch
Deutschland für Levani Idadze und 22 weitere Saisonarbeiter:innen, die sich
aus Georgien aufgemacht hatten, um bei der Ernte in Deutschland Geld zu
verdienen. Was mit einem fairen Angebot und der Aussicht auf ein gutes
Einkommen begann, endete mit einem Streik am Hoftor.
Dreieinhalb Jahre später, Anfang Dezember 2024, ist Idadzes Protest Thema
in einem deutschen Gericht. Im Sitzungssaal 4 des Arbeitsgerichts OIdenburg
sitzen sich Idadze und der Landwirt, gegen den er protestiert hat, zum
ersten Mal seit dem Vorfall direkt gegenüber.
„Die haben Videos gedreht und nach Georgien geschickt, sie haben eine Demo
veranstaltet auf meinem Hof und die Kundschaft verscheucht!“, poltert der
Landwirt Franz-Josef Gelhaus, ein hünenhafter Mann mit weißem Haar. „Wir
haben mehrfach versucht, mit Ihnen zu reden“, entgegnet Idadze. „Ich wusste
am Ende nicht mehr, was ich sonst machen soll.“
Idadze, 29 Jahre alt, dunkle Augen, die Haare kurz rasiert, lebt
mittlerweile in Deutschland und ist eine Art Sprecher der georgischen
Saisonarbeiter:innen geworden. Vor Gericht will er seine und die
Geschichte von seinen Kolleg:innen erzählen. Denn der Landwirt
Franz-Josef Gelhaus, so der Vorwurf, habe sie nicht bezahlt. Null Euro für
mehr als einen Monat Arbeit.
## Manche mussten sich das Geld für den Heimweg leihen
Dabei schien alles gut geregelt, als die Gruppe sich Anfang Mai 2021 ins
Flugzeug nach Deutschland setzte. Es gab ein neues Abkommen zwischen den
beiden Staaten über die Saisonarbeit in der Landwirtschaft: bis zu 5.000
Georgier:innen pro Jahr, Arbeitsverträge, feste Arbeitszeiten,
Mindestlohn. Doch Idadze und die anderen Arbeiter:innen schildern die
Zeit in Deutschland vollkommen anders. Nach wenigen Wochen floh die Gruppe
von einem Erdbeerhof am Bodensee zu Gelhaus’ Betrieb in Niedersachsen. Doch
auch dort gab es schnell Probleme. Die Arbeitsbedingungen seien in beiden
Fällen viel schlechter gewesen als vereinbart, sagen die Arbeiter:innen.
Akkordarbeit statt Stundenlohn, statt den erwarteten rund 4.000 Euro pro
Person haben die meisten am Ende gerade einmal ein paar Hundert Euro
verdient. Manche mussten sich Geld leihen, um die Flugtickets zurück nach
Georgien zu bezahlen.
Jährlich kommen Hunderttausende Saisonarbeiter:innen aus Mittel- und
Osteuropa, aus Polen, Rumänien oder Bulgarien, zunehmend aber auch aus
weiter entfernten Ländern wie Georgien oder Usbekistan nach Deutschland.
Sie pflücken Beeren, stechen Spargel, ernten Gurken oder Kohl. Jedes Jahr
werden Fälle von Ausbeutung öffentlich, nicht gezahlte Löhne, schimmelige
Unterkünfte, sogar abgenommene Pässe. Nur vor Gericht landen diese Fälle
selten. Für die meisten Arbeiter:innen ist es einfacher, den Betrieb zu
verlassen und möglichst schnell woanders Arbeit zu suchen, als zu klagen.
Die Verfahren dauern oft Jahre, sie kosten Geld, hinzu kommt der
Schriftverkehr auf Deutsch und das Risiko, am Ende zu verlieren.
Die Gruppe um Levani Idadze ist einen anderen Weg gegangen. Sie haben
protestiert, Videos in sozialen Medien gepostet, noch während sie in den
Betrieben beschäftigt waren. Sie haben Journalist:innen in Deutschland
und Georgien informiert, Gewerkschaften und Berater:innen
eingeschaltet, die beiden Landwirte in Deutschland verklagt und auch eine
georgische Behörde, die die Jobs vermittelt hat. Man kann sagen: Sie haben
alle Mittel des Rechtsstaats genutzt, um auf sich aufmerksam zu machen und
Gerechtigkeit zu erfahren.
Und doch ist die Bilanz nach drei Jahren mager. Ein paar Hundert Euro hat
das Landesarbeitsgericht in Stuttgart den Arbeiter:innen zugesprochen –
in einem Vergleich. Weder das Gericht noch die Landwirte haben anerkannt,
dass die Situation so war, wie sie die Arbeiter:innen beschreiben. „Die
zwei Monate in Deutschland waren für uns eine Beleidigung“, sagt Idadze.
Und so geht es an diesem Dienstag Anfang Dezember im Oldenburger
Gerichtssaal für die Georgier:innen nicht nur um Geld, sondern auch um
die Frage, ob die Justiz ihnen glaubt. Ob das, was sie als Respektlosigkeit
bezeichnen, auch als Unrecht anerkannt wird.
## Die Wege zum Gericht sind unterschiedlich weit
Die Arbeiter:innen haben ihre täglichen Arbeitszeiten in Excel-Tabellen
notiert und dem Gericht vorgelegt. Zudem will Levani Idadze von seinen
Erlebnissen auf dem Betrieb berichten. In der Hoffnung, die Richter zu
überzeugen.
Bis auf Idadze leben alle Arbeiter:innen im Ausland, sie sprechen kaum
Deutsch und haben wenig Geld für Reisen, Anwält:innen oder Dokumente.
All diese Dinge stellen sich als hohe Barriere heraus, wenn man vor einem
deutschen Gericht Recht bekommen will. In Deutschland, scheint es, haben
nicht alle den gleichen Zugang zum Recht.
Wie verschieden die Bedeutung dieses Gerichtstermins in Oldenburg für die
Parteien ist, wird schon deutlich, da hat die Verhandlung noch gar nicht
begonnen. Levani Idadze hat sich an diesem Dezembermorgen für die
Verhandlung in Oldenburg Urlaub genommen. Eigentlich macht er in einer
Edeka-Filiale in Schleswig-Holstein eine Ausbildung zum Fleischer,
zusätzlich jobbt er in einem Steakhouse, um über die Runden zu kommen.
Idadze ist um fünf Uhr morgens aufgestanden, hat sich drei Stunden lang in
Regionalbahnen gesetzt, er ist in Oldenburg zur Sicherheit den kurzen Weg
vom Bahnhof zum Arbeitsgericht abgelaufen, um sich nicht kurz vor dem
Termin doch noch zu verirren. Die drei Stunden bis zur Verhandlung
verbringt er in der kalten Bahnhofshalle und wartet.
Der Landwirt Franz-Josef Gelhaus hingegen fehlt, als der Termin beginnen
soll. Sein Anwalt bittet um Entschuldigung, Gelhaus habe kein Navi, er
finde das Gericht nicht. Schweigen, bemühter Smalltalk, bis Gelhaus zehn
Minuten später doch noch wortlos durch die Tür tritt. „Gut, fangen wir an�…
sagt der Richter. Er verliest den Sachstand, dann äußern sich erst der
Landwirt, dann Idadze.
## Dreckige Toiletten, Schimmel, Löcher im Boden
Was im Gerichtssaal nicht zur Sprache kommt: Die Geschichte der Gruppe
beginnt schon viel früher als auf Franz-Josef Gelhaus’ Betrieb. Anfang 2021
hörte Idadze, damals noch in Georgien, von einem Angebot: Arbeit in
Deutschland, mit Visum, Arbeitsvertrag, geregelten Arbeitszeiten und
deutschem Mindestlohn, damals 9,50 Euro pro Stunde. „Ich habe
Wirtschaftswissenschaften studiert“, sagt Idadze. „Aber mit meinem Studium
bekommst du in Georgien vielleicht 400 Euro im Monat.“ Als Saisonarbeiter
in Deutschland konnte man mehr als das Dreifache verdienen. Idadze war
schon einmal in Deutschland, er hatte während seines Studiums ein Praktikum
in einer McDonald’s-Filiale gemacht. Er bewarb sich, bekam eine Zusage,
kaufte Flugtickets und reiste Anfang Mai mit 22 Kolleg:innen nach
Deutschland. Er unterschrieb auch einen Arbeitsvertrag: Drei Monate
Arbeitszeit in einem Erdbeerbetrieb bei Friedrichshafen am Bodensee,
maximal 48 Stunden pro Woche.
Doch vor Ort war die Situation anders als erwartet. Die Wohncontainer waren
heruntergekommen und unhygienisch. Auf einem der Videos, das die
Arbeiter:innen aufgenommen haben, sieht man dreckige Toiletten,
Schimmel, Löcher im Boden und eine hohe Mauer nur wenige Zentimeter vor dem
Fenster eines der Schlafzimmer. „So etwas hätte ich mir überhaupt nicht
vorstellen können“, sagte damals einer von Idadzes Kolleg:innen. „Ich will
gar nicht die Wörter benutzen, die mir dafür in den Sinn kommen.“
Offenbar hatte der Landwirt auch nicht genügend Arbeit für die
Georgier:innen. Statt der vereinbarten 48 Wochenstunden arbeitete die
Gruppe oft nur wenige Stunden am Tag, es waren zu wenige Erdbeeren reif.
Der Landwirt bezahlte sie nach Akkord, pro Kiste Erdbeeren. In Deutschland
ist das erlaubt, solange der Mindestlohn nicht unterschritten wird. In
einem heimlich aufgezeichneten Video sieht man, wie Levani Idadze im Namen
der Gruppe mit dem Landwirt verhandelt. Er will, dass der Landwirt jeden
Monat Geld überweist. Der Landwirt aber will erst am Ende der Saison
bezahlen und bietet 300 Euro Vorschuss. „Für die Landwirte ist das auch
schwer“, sagt Idadze heute. „Sie sind vom Wetter abhängig.“ Doch der
Landwirt vom Bodensee habe einfach zu wenig bezahlt.
Schon damals machte die Gruppe um Idadze ihre prekäre Situation öffentlich.
Sie nahmen Videos auf und stellten sie auf Facebook, sie riefen
Journalist:innen an und erzählten auch der [2][taz ihre Geschichte]. In
georgischen Medien schlug die Nachricht Wellen. Das Vermittlungsabkommen
zwischen Deutschland und Georgien war eine der wenigen Chancen für
georgische Arbeiter:innen auf einen [3][Job innerhalb der EU]. Doch
ausgerechnet im reichen Deutschland wurden die Menschen offenbar
ausgebeutet. Von den möglichen 5.000 georgischen Arbeiter:innen kamen
2021 nur 300 nach Deutschland. Möglich, dass die Berichte vom Bodensee zu
Beginn der Saison viele Landsleute abgeschreckt haben.
## Der Landwirt habe selbst kein Geld
Die deutsche Botschaft in Tiflis war damals um Schadensbegrenzung bemüht.
Kurz nach den Vorfällen verschickte sie eine Pressemitteilung: „Die
aktuellen Probleme zeigen einen bedauerlichen Einzelfall“, zitiert sie die
zuständige Bundesagentur für Arbeit. Doch die deutschen Behörden hätten die
Vorwürfe untersucht und Maßnahmen ergriffen. Unter anderem hat das
zuständige Landratsamt bei einer Kontrolle Mängel festgestellt, die der
Landwirt beseitigen sollte.
Nur sind die Ereignisse vom Bodensee kein Einzelfall geblieben.
Mit der Unterstützung einer Beratungsstelle fand die Gruppe Arbeit in
Franz-Josef Gelhaus’ Erdbeerbetrieb und fuhr mit dem Bus vom Bodensee nach
Niedersachsen. „Zu Beginn war alles gut“, sagt Idadze. Die Unterkünfte bei
Gelhaus im Landkreis Vechta seien sauber gewesen, es habe mehr Arbeit
gegeben. Ein Arbeitsvertrag über maximal 46 Wochenstunden liegt der taz
vor. Doch auch Gelhaus bezahlte in seinem Erdbeerbetrieb für die meisten
Arbeiten nach Akkord – nicht nach Stunden. Die Hälfte der Gruppe reiste
nach wenigen Tagen entnervt ab, Vertreter:innen der georgischen
Botschaft und der Bundesagentur für Arbeit waren vor Ort. Idadze und neun
weitere Arbeiter:innen aber blieben. „Ich wollte nicht mit leeren
Händen nach Georgien zurückkehren“, sagt er.
Doch es habe auch danach immer wieder Konflikte gegeben. Der Landwirt
Gelhaus behauptet, die Gruppe habe wesentlich langsamer gearbeitet als
andere Saisonarbeiter:innen. „Wir haben so viel gepflückt, wie reif
war“, sagt Idadze. Erneut ist es Idadze, der für die Gruppe mit dem
Landwirt verhandelt, erneut zeichnen die Arbeiter:innen heimlich ein
Video auf. „Wir brauchen das Geld“, sagt Idadze. „Unser Flug geht in
wenigen Tagen.“ Gelhaus entgegnet, dass er so schnell kein Geld bekomme.
Danach, sagt Idadze, habe er entschieden, nicht mehr zu arbeiten. Er habe
die Tage im Container verbracht, Deutsch gelernt und die Kartons mit den
Protestsprüchen beschriftet.
Im Gerichtssaal in Oldenburg fragt Idadzes Anwalt den Landwirt, warum er
damals gar keinen Lohn gezahlt habe. Gelhaus beschwert sich über den
Protest, darüber, dass die Männer angeblich betrunken gewesen seien und
über einen Polizeieinsatz auf dem Hof. Die Polizei bestätigt einen Einsatz,
weitere Details nennt sie nicht, weil kein Ermittlungsverfahren eingeleitet
wurde. Einen möglichen Grund für die nicht gezahlten Löhne nennt dann
Gelhaus’ Anwalt. Der Landwirt habe kein Geld, allein das laufende Konto sei
im fünfstelligen Bereich im Minus. „Wenn Ihnen selbst das Wasser bis unter
die Nase steht, dann schauen Sie in dem Moment auf sich“, sagt er. Gelhaus
versuche, die Schulden abzubezahlen.
## Die Ungerechtigkeit treibt Idadze um
In der Pause erzählt Franz-Josef Gelhaus der taz vom Niedergang seines
Betriebs. 2017 ein Ernteausfall durch Hagel, dann drei Jahre Trockenheit
mit magerer Ernte, schließlich die Coronakrise. Den Betrieb habe er
eingestellt und sich stattdessen in einer Schweinemastanlage anstellen
lassen. Für die Georgier:innen bedeutet die Insolvenz: Selbst wenn
Gelhaus verurteilt wird, kann er erst mal nicht zahlen. Sie hätten dann
zwar Recht bekommen – aber kein Geld.
Fragt man Levani Idadze, warum er die vielen Jahre durchgehalten hat, dann
spricht er von der Ungerechtigkeit, die ihn umtreibt – er nennt aber auch
einen Namen: Margarete Brugger. „Kaum jemand von uns spricht Deutsch, wir
kennen keine Anwälte, wir hatten kein Geld“, sagt Idadze. „Ohne Frau
Brugger hätten wir nicht gewusst, wie das alles geht.“
Margarete Brugger ist eine freundliche Frau, aber die Empörung der
Sozialarbeiterin wird deutlich, wenn sie über die Erfahrungen der
vergangenen drei Jahre spricht. „Mein Eindruck ist, dass Arbeitgeber von
offiziellen Stellen ernster genommen werden als Arbeitnehmer“, sagt sie.
„Wenn ein Arbeitgeber nicht alle Unterlagen bringt oder nicht vollständig
bezahlt, ist das nicht so schlimm. Ein Arbeitnehmer aber muss jedes Detail
nachweisen.“
Brugger berät in Freiburg bei der Beratungstelle „Mira – mit Recht bei der
Arbeit“ Menschen aus Nicht-EU-Ländern, die in Deutschland leben. Die
meisten sind in Asylverfahren, die Landwirtschaft war neu für Brugger. Das
Arbeitsministerium, das die Beratungsstelle fördert, habe sie nach dem
taz-Bericht informiert, sagt sie. Brugger verständigte einen Kollegen, sie
organisierte eine Übersetzerin und fuhr hin. Die Schilderungen der
Georgier:innen hätten sie erschüttert, sagt sie, und ihr Mut habe sie
beeindruckt. „Es war klar, es braucht eine Person, die sich verantwortlich
fühlt und hier in Deutschland Druck macht.“
## Ein Erfolg, trotz allem
Brugger hat seitdem den Fall begleitet, in ihrer Arbeitszeit und schnell
auch darüber hinaus, sie hat Briefe an die Landwirte geschrieben, Behörden
und Gerichte informiert, Kontakte in Georgien hergestellt und ein Netzwerk
an Unterstützer:innen aufgebaut. Die Arbeiter:innen sind der
Gewerkschaft [4][IG BAU beigetreten], die ein Jahresmodell für
Saisonarbeiter:innen anbietet. Nur so war es möglich, überhaupt zu
klagen. Niemand aus der Gruppe hätte sich Anwält:innen leisten können.
Im Dezember 2021 klagten 18 der Arbeiter:innen gegen den Landwirt vom
Bodensee und bekamen in erster Instanz weitgehend Recht. Doch der Landwirt
ging in Berufung, er bezweifelte die Stundenzahl, die die
Arbeiter:innen geltend gemacht hatten. Vor dem Landesarbeitsgericht
Stuttgart schlossen die Arbeiter:innen einen Vergleich. Alle
Arbeiter:innen bekamen Beträge zwischen 400 und 600 Euro zugesprochen,
im Schnitt etwa ein Drittel der geforderten Löhne.
Das Problem: Die Arbeiter:innen hätten vor Gericht jede gearbeitete
Stunde nachweisen müssen, etwa auf einem täglich ausgefüllten
Stundenzettel, am besten unterschrieben vom Landwirt. „Das haben wir am
Bodensee nicht gemacht, weil wir nicht wussten, dass das relevant sein
könnte“, sagt Idadze. Sie hätten auf das Abkommen und den Arbeitsvertrag
vertraut. Die Arbeiter:innen standen damals vor der Wahl: Wenige
Hundert Euro sicher – oder das Risiko, gar kein Geld zu bekommen, wenn die
Beweise nicht reichen. Alle Arbeiter:innen entschieden sich für den
Vergleich.
„Ich bewerte das trotzdem als Erfolg“, sagt Margarete Brugger. „Indem ihn…
ein Teil der Summe zugewiesen wurde, haben sie auch moralisch ein Stück
weit Recht bekommen.“ Auch Idadze sieht das so.
In Deutschland sind Unternehmen seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts
2022 zwar verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter:innen zu
erfassen. Der Fall vom Bodensee aber zeigt: Vor Gericht liegt die
Beweislast trotzdem bei den Arbeiter:innen. Erfasst der Betrieb die
Arbeitszeit nicht transparent, bleibt Arbeiter:innen ohne belastbare
Aufzeichnungen oft nur ein Vergleich. Die Ampelkoalition wollte nach dem
Urteil 2022 mit einem Gesetz Rechtssicherheit schaffen und Arbeitszeiten
etwa elektronisch erfassen lassen. Doch die Koalition wurde sich nicht
einig, das Vorhaben scheiterte. Für die Georgier:innen hätte es
vermutlich Klarheit gebracht.
## Arbeitszeiten täglich notiert
Nach den Erlebnissen am Bodensee haben die Arbeiter:innen dazugelernt.
Bei Landwirt Gelhaus in Niedersachsen haben sie ihre Stunden täglich
notiert. Die taz konnte die Excel-Tabelle, die auch dem Gericht vorliegt,
einsehen. Auch Franz-Josef Gelhaus hat Arbeitszeiten vorgelegt, jedoch nur
für die Arbeiten, die er nach Stunden abgerechnet hat. Die eigentliche
Erntezeit, in der nach Akkord gearbeitet wurde, hat Gelhaus nicht notiert,
lediglich den Lohn pro Kilo geernteter Beeren. Die Summe, die Gelhaus auf
dieser Grundlage zahlen will, ist wesentlich niedriger. Insgesamt etwas
mehr als die Hälfte dessen, was die Georgier:innen fordern.
Das Arbeitsgericht in Oldenburg hört sich beide Seiten an und zieht sich
nach einer knappen Stunde zur Beratung zurück. Am selben Tag sprechen sie
Idadze und den anderen Kläger:innen die volle geforderte Summe zu,
insgesamt über 20.000 Euro. „Der Vortrag der Kläger war so ausführlich, da
hat uns das pauschale Bestreiten der Arbeitszeit des Beklagten nicht mehr
gereicht“, sagt der Richter. Das Gericht hat Idadze und seinen
Kolleg:innen geglaubt.
Als Idadze von dem Urteil erfährt, steht er in einer kleinen Gasse in der
Oldenburger Innenstadt und kann nicht aufhören zu grinsen. „Egal, ob wir
das Geld bekommen oder nicht, heute hat ein Gericht bestätigt, dass uns
Unrecht widerfahren ist“, sagt er. Es scheint, als hätten die Oldenburger
Richter an diesem Tag Idadzes Würde und die seiner Kolleg:innen
wiederhergestellt.
Dass Idadze und seine Kolleg:innen so weit gekommen sind, ist einer
außergewöhnlichen Konstellation geschuldet. Da sind die Arbeiter:innen, die
über drei Jahre hinweg kämpfen, während viele die Schulden aus Deutschland
in Georgien abarbeiten. Idadze ist der einzige aus der Guppe, der in
Deutschland wohnt. Dazu eine Gruppe von Unterstützer:innen in
Deutschland. Doch klar ist auch: So eine intensive Unterstützung kann es
nur in wenigen Fällen geben. Damit der Zugang zum Recht allen offensteht,
ist auch die Politik gefragt.
Anfang Februar 2025 wird bekannt: Auch der Landwirt Gelhaus hat Berufung
gegen das Urteil vom Dezember eingelegt – genau wie zuvor sein Kollege vom
Bodensee. Gelhaus hat nun ebenfalls eine Stundenliste für die gesamte
Arbeitszeit eingereicht, auf der allerdings wesentlich weniger Stunden
notiert sind. Statt der rund 2.500 Euro, die das Gericht Idadze
zugesprochen hat, will Gelhaus lediglich 1.400 Euro zahlen – vorausgesetzt,
er treibt das Geld auf.
Idadze ist trotzdem zuversichtlich. „Diesmal haben wir bessere Chancen zu
gewinnen“, sagt er. Sie hätten ihre Stundenzettel jeden Tag akkurat
ausgefüllt, das seien gute Belege. Ein Termin für die Verhandlung steht
noch nicht fest, es könnte bis zum Sommer dauern. An das Warten, sagt
Levani Idadze, hätten sie sich mittlerweile gewöhnt.
23 Mar 2025
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Jonas Seufert
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