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# taz.de -- Reportage aus dem Rhein-Main-Gebiet: Ganz unten im System
> Länder, in denen migrantische Arbeiter auf Baustellen prekär beschäftigt
> werden, müssen boykottiert werden? Am besten fängt man mit Deutschland
> an.
Bild: Auf dem Bau: Knochenarbeit für schlechten Lohn
Die Männer, die das System am Laufen halten, leben am Rande der Stadt.
Abgeschieden, in einem Areal zwischen Bahngleisen und Autobahn, in einem
vierstöckigen Betonbau hinter einem Zaun. Wäscheständer hängen vor den
Balkonen. Klappstühle stehen vor den Eingängen. Darauf: Männer in
Jogginghosen und Flipflops, die meisten um die 30 Jahre alt.
Mehrere Hundert Arbeiter leben in der Unterkunft im Rhein-Main-Gebiet,
genauer soll man es nicht schreiben, sagen sie. Aus Angst vor dem
Vermieter. „Șerpărie“, nennen sie das Wohnheim, rumänisch für „Slum�…
trauriger Ort. Dabei würde das System ohne Männer wie diese kollabieren.
Ohne sie ginge nichts auf dem deutschen Bau.
Ein Samstagnachmittag im Oktober. In einem der Zimmer sitzen drei Männer
auf ihren Betten. Die Köpfe rasiert, die Schultern breit. Drei kräftige
Gestalten in einem viel zu engen Raum. Es riecht nach Essen und Seife. Ein
großer Topf Nudeln dampft auf dem Tisch. Einer der Männer hat einen vollen
Wäscheständer quer über sein Bett gestellt, sich selbst danebengequetscht.
Auf dem Kühlschrank flimmert ein Fernseher, rumänischer Sender, der Ton ist
ausgestellt.
„Feierabend“, sagt einer der Männer, fingert eine Bierdose aus einer
Plastiktüte und stellt sie auf den Tisch. Er trägt ein blaues T-Shirt und
beige Shorts, seine Füße stecken in Badeschlappen. Er bietet einem, wie
alle hier, sofort das Du an. Fabiu soll er heißen. Seinen wirklichen Namen
will er nicht nennen, aus Angst vor seinem Chef.
Fabiu ist ein sperriger Typ mit kratziger Stimme und herausforderndem
Blick. Er arbeitet als Maurer, lebt seit fast zehn Jahren in Deutschland.
„Sklaverei“ ist das erste Wort, das ihm einfällt, spricht man ihn auf seine
Arbeit hier an. „Scheiße“ das zweite.
„Du wirst nicht so gut bezahlt wie die Deutschen“, sagt er. „Du hast nicht
die gleichen Rechte.“
Fabiu wird betrogen, und das gleich mehrfach. Lohnabrechnungen und
Stundenzettel, die er vorlegt, belegen das. Dass er nur einen Teil des
Lohnes auf sein Konto überwiesen, den Rest bar bekommt, damit kann er noch
leben. Er ist 47, denkt nicht an die Rente, hat kein Problem mit
Schwarzarbeit. 2.500 Euro bekommt er hier pro Monat im Schnitt, gut 1.500
mehr als in Rumänien.
Was ihn wirklich wurmt: Dass sein Chef ihm und seinen Kollegen kein
Urlaubsgeld zahlt. Dass ihm einige seiner alten Chefs keine Arbeitsverträge
gegeben und ihn nicht bei der Krankenkasse angemeldet haben – und er jetzt,
weil man gesetzlich zur Versicherung verpflichtet ist, 4.000 Euro Schulden
bei der Kasse hat. Dass er die jungen Arbeiter auf den Baustellen einweisen
muss, Typen um die 18, frisch aus Rumänien, keine Ahnung von nichts. Alles
muss er ihnen erklären, sagt Fabiu, und bekommt dafür gerade mal 2 Euro pro
Stunde mehr als sie.
Und dann die Stimmung auf dem Bau. Es gab diesen Tag, letztes Jahr im
Herbst, da sei seine Geduld am Ende gewesen, sagt Fabiu. Die schwere
Arbeit, der ewige Druck, das ewige Hetzen. Er ging einfach heim. Sein Chef
behauptete daraufhin, er habe ein Baugerät beschädigt, und weigerte sich,
den ausstehenden Lohn zu zahlen. 1.700 Euro. Fabiu wartet darauf, immer
noch.
„Auf dem Bau“, sagt er, „jeder nutzt dich aus, wie er kann.“
Deutsche Politiker:innen verweisen gern auf die prekären Bedingungen,
unter denen migrantische Arbeiter auf Baustellen im Ausland beschäftigt
sind. Vor allem jetzt, zur Fußball-WM in Katar. Dabei gibt es auch
hierzulande gravierende Missstände auf dem Bau. Die Situation ist sicher
nicht mit der in Katar vergleichbar, wo die migrantischen Arbeiter
vollkommen rechtlos sind, wo ihnen Pässe entzogen werden und wo mehrere
Tausend von ihnen gestorben sind. Aber auch auf deutschen Baustellen werden
Menschen ausgebeutet. Und das seit Jahren.
Das Baugewerbe in Deutschland galt dabei lange als boomende Branche. Die
Nachfrage war groß, die Auftragsbücher der Unternehmen waren voll.
Inzwischen ist das Gewerbe aufgrund des Ukrainekriegs und der gestiegenen
Materialkosten ins Straucheln geraten. Die Bundesregierung hält an ihrem
Ziel, 400.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, aber weiterhin fest. Nur: Wer
soll die eigentlich bauen?
191.000 offene Stellen verzeichnete die Baubranche im ersten Quartal dieses
Jahres. Dabei hatte der Arbeitskräftemangel den Bau schon vor Jahren
erreicht. Und wie in der Pflege und der Landwirtschaft setzte man auch hier
früh auf Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Zuerst kamen die Polen. Sie haben sich inzwischen „hochgearbeitet“, man
findet sie kaum noch im besonders anstrengenden Rohbau, viele arbeiten
heute im Innenausbau, installieren Elektrik oder Sanitäranlagen. Dann kamen
die Rumänen, heute eine der größten Gruppen auf dem Bau, aber auch
Bulgaren, Kroaten und Serben. Inzwischen hat sich der Kreis weiter nach
Osten ausgedehnt, außerhalb der EU. Es kommen Arbeiter aus der Türkei,
Moldawien, Aserbaidschan und Georgien.
Fast 200.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Ausländer arbeiten
heute im deutschen Bauhauptgewerbe. In einigen Berufszweigen, etwa im
Hoch-, Aus- und Trockenbau, machen sie gut die Hälfte der Beschäftigten
aus. Hinzu kommen diejenigen, die keine Arbeitsverträge haben, die nicht
offiziell registriert sind.
Fabiu ist kein Einzelfall. Im deutschen Baugewerbe ist ein krakenartiges
Geflecht aus teils kriminellen Firmen entstanden; eine Schattenwelt, in der
die Grenze zwischen Legalität und Illegalität verschwimmt. Die taz hat für
diesen Artikel mit Gewerkschaftsvertretern, Sozialarbeitern, Arbeitgebern
und mehreren osteuropäischen Arbeitern gesprochen. Sie geben Einblicke in
ein System, das über Abhängigkeit und Angst funktioniert; ein System, bei
dem die Leidtragenden ganz unten stehen.
Was macht das mit diesen Menschen, die ihre Familien zurücklassen, um hier
in Deutschland Geld zu verdienen? Die hier moderne Wohnungen bauen, in
denen sie nie leben, funkelnde Shopping Malls, die sie nie betreten werden?
Die stattdessen zu dritt in Zimmern mit zwanzig Quadratmetern hausen, sich
mit neun anderen Männern eine Toilette und eine Küche teilen?
Fabiu lebt seit sechs Jahren in diesem Heim, in diesem Zimmer im
Rhein-Main-Gebiet. Bis hierher war es ein weiter Weg, mit vielen Brüchen.
Er beginnt in einem Dorf im Nordosten Rumäniens, eine der ärmsten Regionen
des Landes. Die Wende 1989 bedeutete für Fabius Familie eine radikale
Zäsur. Der Vater, Verwalter bei einer sozialistischen Genossenschaft,
schlug sich fortan als Klempner durch. Die Mutter, Vizebürgermeisterin im
Dorf, als Bibliothekarin. Es war ein Abstieg; für sie und die Menschen um
sie herum. Das Land taumelte, allein in der Industrie brach die Hälfte der
Arbeitsplätze weg.
Anfang der Neunziger setzte dann die erste Migrationswelle ein. Die
Menschen gingen nach Israel, in die Türkei, andere bauten Ölförderanlagen
im Irak. Später zog es die meisten nach Westeuropa. Wenn er heute zu Besuch
in der Heimat ist, sagt Fabiu, sehe er dort keine bekannten Gesichter mehr.
Fabiu selbst hielt länger durch. Er hatte eine Ausbildung als Maurer
gemacht, fand immer noch Jobs auf Baustellen. 2013 aber, die Folgen der
Finanzkrise hatten Rumänien schwer gezeichnet, sah auch er keine Zukunft
mehr im Land. 100 Euro zahlte er einem rumänischen Vermittler, der brachte
ihn nach Deutschland. Seitdem hat er Wohnkomplexe in Frankfurt, Berlin und
Stuttgart gebaut.
Inzwischen arbeitet er auf einer Großbaustelle. Fundamente betonieren,
Wände hochziehen. Schwere körperliche Arbeit. Zehn Stunden pro Tag,
samstags nochmal mindestens fünf. Ein Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz,
mehr als acht Stunden pro Tag müssten in der Regel innerhalb von sechs
Monaten ausgeglichen werden. Fabiu kennt das Gesetz nicht. Alle Kollegen
würden so viel arbeiten, sagt er. „Normal.“
Fabius Alltag hier besteht aus Arbeit, dann kommt lange nichts. Weil der
Bau kaum Zeit und Energie für anderes lässt. Nach Feierabend nochmal kurz
zu Penny, dann Brötchen für den nächsten Tag schmieren, duschen, halb zehn
ins Bett.
Über die Deutschen sagt er: „Ich komme mit denen in Berührung. Aber ich
trinke kein Bier mit ihnen.“
Man bleibt unter sich. Es ist einer der Gründe, warum Fabiu in diesem Heim,
in diesem Zimmer lebt. 330 Euro zahle er dafür, sagt er, 600 wären es für
eine Einraumwohnung in der Stadt. Viel Geld. Und er wäre dann auf sich
gestellt, abgeschnitten von seiner Community.
Hier aber teilt er sich das Zimmer mit zwei Männern, die kommen aus
demselben Ort wie er, arbeiten für dieselbe Firma. Und wenn man doch mal
Ärger mit dem Chef hat, sagt Fabiu, muss man nur in die „Kneipe“ gehen,
sich umhören. „Zwei, drei Tage und man hat einen neuen Job.“
Die „Kneipe“, das ist der Mittelpunkt des Lagers, ein kleiner Laden am Kopf
des Areals. Wodka- und Kornflaschen stehen hinter der Kasse im Regal. Es
gibt Wein und Bier, Käse, Wurst und Konservendosen. Vor dem Laden steht ein
langer Tisch mit einer Bank, der Kneipenbereich.
Inzwischen ist es Sonntag, später Nachmittag. Aus einer Boombox schallt
rumänischer Pop. Die Box gehört einem betrunkenen Mann Mitte 40, er sitzt
auf der Bank vor dem Laden, steht immer wieder auf, um mitzusingen.
Fabiu sitzt mit zwei anderen Arbeitern ein paar Meter weiter, an einem
anderen Tisch, vor ihnen leere Bierflaschen. Fabiu nippt an einer Flasche
Korn. Er trägt dasselbe Shirt wie gestern, sein Gesicht ist gerötet, die
Stimme schwer.
Immer wieder kommen Männer vorbei, grüßen kurz, man gibt sich die Hand.
Einige haben Angelruten dabei, andere kommen vom Pilzesammeln im Park. Der
Umgang ist freundlich, fast herzlich. Der unbeschwerte Eindruck täuscht
leicht darüber hinweg: Es ist eine Parade tragischer Biografien.
Da ist der 34-Jährige mit dem kantigen Gesicht. Aufgewachsen in einem
rumänischen Waisenhaus. Hier in Deutschland hat jemand seinen Ausweis
geklaut, eröffnete eine Baufirma damit, schloss 20 Handyverträge ab. Jetzt
hat der Mann 10.000 Euro Schulden.
Da ist der 62-Jährige mit dem Rollator. Mit 22 verließ er Rumänien,
arbeitete in der Sowjetunion, in Israel und Ägypten. Seit 15 Jahren ist er
in Deutschland, arbeitete für etwa 20 Firmen. Meistens zehn Stunden pro
Tag, offiziell war er immer nur vier angestellt. Jetzt ist er krank, keiner
will ihn mehr. Er bekommt Arbeitslosengeld II. Demnächst wird er in
Frührente gehen.
Da ist der 32-jährige Eisenflechter. Drei Bandscheibenvorfälle hatte er.
Drei Mal sagte sein Chef, er solle beim Arzt nicht sagen, dass es ein
Arbeitsunfall war. Drei Mal bekam er kein Krankengeld, niemand kümmerte
sich. „Ich verstehe, dass wir Söldner sind“, sagt der Mann. „Aber im Kri…
lässt man doch auch keine Verletzten zurück.“
Fragt man diese Männer, warum sie sich das antun, fremd in diesem Land,
unter Deutschen und doch isoliert, mit schlechterer Arbeit und viel mieser
bezahlt, ist die Antwort immer dieselbe: Die Kinder sollen es einmal besser
haben als sie. Sie sollen studieren, sich ein Leben aufbauen in der Heimat.
Auch Fabiu hat Familie. Einen Sohn, eine Tochter, 16 und 15 Jahre alt. Sie
sind zu Hause bei der Mutter, die als Verkäuferin in einem Kiosk arbeitet.
300 Euro verdiene sie dabei, sagt er; wenig, selbst für rumänische
Verhältnisse. Sie telefonieren täglich. Zwei Mal im Jahr besucht er sie,
meist für vier Wochen. Und er schickt Geld, 1.500 Euro pro Monat. Damit
bezahlen sie unter anderem das Internat der Kinder.
Wie seine Frau das findet, sie mit den Kindern in Rumänien und er hier? Sie
sei froh, wenn er zwischendurch zu Hause ist, sagt Fabiu. Und traurig, wenn
er wieder geht. Aber sie könne es verstehen. „Gute Frau“, sagt er. „Herz…
selben Fleck wie ich.“
Plötzlich wird es laut vor der Kneipe, eine Flasche zerbricht. Der
Betrunkene mit der Boombox ist schwankend aufgestanden, vor ihm steht ein
Mann in schwarzem T-Shirt, größer und kräftiger als er. Der Mann schreit
den Betrunkenen an, dann schlägt er zu, der Betrunkene geht zu Boden. Der
Mann in schwarz dreht sich um, kommt auf Fabius Tisch zugelaufen, er greift
zwei Bierflaschen, schlägt sie routiniert gegeneinander, als habe er das
schon unzählige Male getan, um mit den abgebrochenen Flaschenhälsen wieder
auf den Betrunkenen loszugehen. Ein paar Männer gehen dazwischen. Es
gelingt ihnen, ihn abzudrängen.
Szenen wie diese seien hier die Ausnahme, erklären Fabiu und die anderen
ruhig. In der Regel seien die Menschen von der Arbeit zu erschöpft, um
aufeinander loszugehen. Diese Woche aber habe es geregnet, die Männer
mussten zeitweilig zu Hause bleiben.
Es ist eine raue Welt; eine, in der man sich behaupten muss, um nicht
unterzugehen. Sei es im Wohnheim oder auch bei der Arbeit, im Umgang mit
den Chefs. 300 Euro Energiekostenpauschale stehen Fabiu als Arbeiter zu,
250 hat er von seinem Chef bekommen. Immerhin. Aber auch nur, weil er
gefragt hat. „Du musst ein bisschen Deutsch verstehen, bisschen aggressiv
sprechen“, sagt Fabiu, „sonst kriegst du von denen gar nichts.“
In einem türkischen Café, keine zehn Minuten von Fabius Arbeiterheim
entfernt, sitzt so ein Mann, der manchmal gar nichts kriegt. Einer, dem
Fabius Durchsetzungskraft fehlt. Über den sie hier sagen: „Alle werden
betrogen. Aber wenn du wie er bist, betrügt man dich noch mehr.“
Adrian. 49 Jahre alt, vom Leben gebeugte Schultern, runder Kopf, die Augen
wässrig-grün. Auch er kommt aus Rumänien. Auch er heißt eigentlich anders.
Auch Adrian lebte lange in dem Heim. Im Frühjahr flog er raus. Die Nachbarn
hätten zu laut Musik gehört, sagt er, und hätten es ihm in die Schuhe
geschoben. Adrian sei im Vollsuff ins falsche Zimmer gelaufen, sagen
ehemalige Kollegen, der Hausmeister wollte ihn raushaben.
Und Adrian wollte keinen Ärger. Er schlief zunächst in dem kleinen Gärtchen
am Bahnhof, inzwischen übernachtet er in einer Notunterkunft. Er hatte
vorher schon ein Alkoholproblem, auf der Straße fing er an, exzessiv zu
trinken. Wenn Adrian von seinem Leben erzählt, verheddert er sich oft in
den Jahren. In seiner Erzählung tauchen auf: das Ingenieursstudium in
seiner Heimatstadt Suceava, seine Zeit als Taxifahrer. Die Zeit im Westen:
Küchenhilfe in Italien, Erntehelfer in Niedersachsen, dann tingelte er mit
einem Zirkus durch Deutschland, ein Foto auf seinem Handy zeigt ihn
lächelnd vor zwei Kamelen. Über einen rumänischen Bekannten landete er
schließlich auf dem Bau.
Wie um sich selbst zu vergewissern, zieht er einen Ordner mit Plastikfolien
aus seinem Rucksack, sein Anker, der Beweis, dass es wirklich ein Leben gab
vor seinem jetzigen. Eine Kopie seines Abschlusszeugnisses ist darin, und
die Geburtsurkunde seiner Tochter.
Fragt man Adrian nach einem Bild von ihr, muss er mit seinem Handy auf ihre
Facebook-Seite gehen. Eine Frau um die 18, sie sieht ein bisschen aus wie
Scarlett Johansson. Ein eigenes Bild hat er nicht. Ein zweites Foto auf
ihrem Profil zeigt sie vor einem Haus. „Mein Haus“, sagt Adrian. Jetzt
wohnen die Tochter, seine Ex-Frau und ihr neuer Mann darin. Der Mann hat
inzwischen ein Kind mit der Frau. Und will nicht, dass Adrian Kontakt zu
seiner Tochter hat. Adrian wiederum will keinen Ärger und akzeptiert es.
Adrians Geschichte ist die Geschichte eines Mannes, der für seine Familie
ins Ausland ging. Und sie dabei verlor. Der studiert hatte und ohne
handwerkliche Ausbildung in das Baumetier hineingerutscht ist. Ein Mann im
falschen Leben.
Sein letzter Chef schuldet ihm noch Geld. Einen Stundenlohn von 12 Euro
hatten sie mündlich abgemacht, sagt Adrian. Teilt man das Geld, das er
bekommen hat, durch die Anzahl der geleisteten Stunden, kommt man auf einen
Stundenlohn von 6,40 Euro. Lohnabrechnungen des ehemaligen Arbeitgebers und
ausgefüllte Stundenzettel belegen das.
Warum er nichts gesagt hat? Er habe gehofft, dass das restliche Geld noch
kommt, sagt Adrian. Und hatte Angst, dass er gar nichts kriegt, wenn er den
Mund aufmacht: „Ich will keinen Ärger“, sagt Adrian. „Ich bin ja fremd in
diesem Land.“
Der deutsche Bau ist kein rechtsfreier Raum. Es gibt den gesetzlichen
Mindestlohn von 12 Euro, er gilt, seitdem der Branchenmindestlohn Ende
letzten Jahres auslief. Und es gibt das Arbeitszeitgesetz, es regelt, wie
lange jemand arbeiten darf.
Und doch arbeiten hier Männer wie Fabiu und Adrian, die ständig Überstunden
machen. Die schwarz beziehungsweise nur teilweise ausbezahlt werden.
Mitunter auch Männer, deren Wohnsituation vom Wohlwollen ihrer Chefs
abhängt. Die beschaffen oftmals nämlich auch Zimmer für ihre Arbeiter, weil
diese sich nicht auf dem Wohnungsmarkt auskennen. Wer sich dann beschwert,
riskiert, nicht nur den Job, sondern auch das Dach über dem Kopf zu
verlieren. Viele bleiben da lieber still.
Man kann sich das System Bau dabei wie eine Pyramide vorstellen. Ganz unten
stehen die Arbeiter. Darüber kommen die sogenannten Subunternehmen.
Baufirmen, meist mit Sitz in Deutschland, die häufig von Menschen mit
türkischem oder serbischem Migrationshintergrund geführt werden. Sie sind
es, die die Löhne schwarz oder auch gar nicht zahlen. Sie sind es, die
unbequemen Arbeitern mitunter drohen, sie aus den Wohnungen zu werfen. Der
Zoll spricht von einer Form der organisierten Kriminalität, mit einem
Schwerpunkt im Rhein-Main-Gebiet.
Es ist schwer, an diese Menschen heranzukommen. Die Arbeiter wollen keine
Namen nennen. Selbst Sozialarbeiter:innen, die die Arbeiter betreuen und
regelmäßig mit den Firmen zu tun haben, wollen lieber keinen Kontakt
herstellen.
Doch es gibt noch einen anderen Weg, sich den höheren Ebenen des Systems zu
nähern. Damit das System Bau durchgängig läuft, braucht es Menschen, die es
mit Nachschub versorgen, mit neuen Arbeitskräften. Menschen wie Sorin.
Sorin ist ein rundlicher Mann Anfang 50 mit hellen blauen Augen, die
freundlich schauen, einen aber aufmerksam taxieren. Sein Deutsch ist
deutlich besser als das der Bauarbeiter. Er stimmt einem Treffen nur unter
der Bedingung zu, anonym zu bleiben, auch er heißt eigentlich anders. Wir
treffen uns in einem Café am Frankfurter Hauptbahnhof.
Auch Sorin stammt aus Rumänien, 1991 ging er nach Deutschland. Weil er mit
seiner Ausbildung als Glasbläser hier nicht weit kam, heuerte er auf dem
Bau als Maurer an, arbeitete für verschiedene Firmen überall im Land. 2015
wurde er Personaler bei einem großen Subunternehmen, seitdem besorgt er
Dokumente für die Arbeiter, hilft bei Anmeldungen auf dem Amt.
Doch Sorin hat noch einen anderen Job. Weil er schon so lange in
Deutschland lebt, viele Leute kennt, fährt er nach Feierabend manchmal mit
seinem BMW vor die Arbeiterheime, auch vor das von Fabiu. Er spricht dort
mit den Menschen, die noch nicht lange im Land sind, die kein Wort Deutsch
sprechen; Menschen, die nicht gut genug vernetzt sind, um allein Fuß zu
fassen in dem Metier.
Er bringt sie dann mit den richtigen Männern in Kontakt. Mit
Subunternehmen, die neue Arbeiter suchen. Ein „Vermittler“, auch wenn er
dieses Wort nicht mag. Der Frage, für wie viele Firmen er das macht, weicht
er aus.
Wie er das sieht, Menschen in ein System zu schleusen, von dem man weiß,
dass sie dort betrogen werden? Sorin lässt einen auflaufen. Er würde nur an
Firmen vermitteln, die ihre Arbeiter korrekt auszahlen, sagt er. Und dass
er für die Vermittlung kein Geld nehme. Beides kann man getrost bezweifeln.
Dann sagt er: „Die Subunternehmen haben keine andere Wahl, als ihre
Arbeiter zu betrügen.“ Und spricht von mafiaartigen Strukturen, bei denen
das meiste Geld ganz oben in der Pyramide sitzt. Bei den deutschen
Generalunternehmen: Renommierte deutsche Firmen, oftmals
Familienunternehmen.
Sie sind es, die bei Ausschreibungen miteinander konkurrieren, auch bei
denen der öffentlichen Hand. Um dabei ein möglichst günstiges Angebot
abgeben zu können, gliedern viele die Arbeiten an günstige Subunternehmen
aus – und entledigen sich damit auch ein stückweit der Verantwortung.
Betrug, ungemeldete Arbeitsunfälle, falsch erfasste Arbeitszeiten – all das
fällt in den Bereich der Subunternehmen. Die Generalunternehmen haften nur
für den Mindestlohn.
Dass einige Generalunternehmen auch dabei nur widerwillig ihrer
Verantwortung nachkommen, zeigt der „Fall Medusa“ vom Juni dieses Jahres,
eine der größten Razzien der letzten Zeit. Im Zentrum stand ein Geflecht
aus drei Subunternehmen aus dem Main-Taunus-Kreis. Sechs Hauptverdächtige
wurden festgenommen. Der Vorwurf lautete auf Steuerhinterziehung und
Betrug. Die Subunternehmen verloren ihren Auftrag. Über 150 Arbeiter wurden
dadurch arbeitslos. Viele warten noch auf ihren ausstehenden Lohn.
Die Generalunternehmen haften auch in diesen Fällen für die Zahlung des
Mindestlohns. Sieben Firmen waren in dem vorliegenden Fall als Auftraggeber
involviert. Fünf von ihnen hätten die ausstehenden Löhne relativ zeitnah
bezahlt oder eine entsprechende Bereitschaft signalisiert, heißt es bei der
Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt. Zwei hätten sich lange geweigert,
darunter das Unternehmen Brömer & Sohn GmbH, ein Familienunternehmen aus
Wiesbaden.
Die taz hat mit einem rumänischen Arbeiter gesprochen, der für den
verhafteten Subunternehmer tätig war. Der Mann sagt, der Geschäftsführer
von Brömer und dessen Vater seien eine Woche nach den Verhaftungen auf die
Baustelle gekommen, hätten sich aber geweigert, die fehlenden Löhne zu
zahlen. Ihre Begründung: Sie hätten das Geld bereits an den
Subunternehmer gezahlt. Für die IG BAU kein Argument: Es entbinde Brömer
nicht von der Generalunternehmerhaftung nach dem
Arbeitnehmerentsendegesetz.
Die Gewerkschaft vertritt nach eigenen Angaben zehn Arbeiter, die über die
verhafteten Subunternehmer für Brömer tätig waren. Bei drei von ihnen sei
Brömer jetzt – vier Monate nach der Verhaftung – bereit, die ausstehenden
Löhne zu zahlen, sagt ein Gewerkschaftsvertreter. Darunter ist auch der
Arbeiter, mit dem die taz gesprochen hat. Bei den restlichen sieben habe
die Firma zugesagt, zu prüfen, ob die Männer wirklich auf der Baustelle
tätig waren.
Die Firma Brömer selbst will sich auf Nachfrage nicht zu dem Vorgang
äußern, verweist aber auf den Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbands
Hessen-Thüringen, Burkhard Siebert.
Siebert wiederum sagt, viele der von der Gewerkschaft vertretenen
rumänischen Arbeiter habe der zuständige Polier von Brömer nie auf der
Baustelle gesehen. Der Sachverhalt müsse „sorgfältig aufgeklärt werden“.
Die Gewerkschaft widerspricht: Alle Männer seien dort tätig gewesen.
Sieberts Verband, der Bauindustrieverband Hessen-Thüringen, ist ein
Zusammenschluss mittelständischer und großer Unternehmen der Bauindustrie,
der sich als „Stimme der Branche“ versteht. Auch Siebert sieht ein Problem
im System Bau. Für ihn liegt es allerdings in der Auftragsvergabe. Gerade
bei öffentlichen Ausschreibungen bekomme fast immer der Anbieter mit dem
billigsten Angebot den Zuschlag, sagt er. Häufig müssten Arbeiten dann an
Subunternehmer vergeben werden, sonst sei man „nicht wettbewerbsfähig“.
„Wenn die Politik hier etwas ändern will“, sagt Siebert, „muss das
Vergabesystem reformiert werden.“ Die Vorgabe „billig, billig, billig“ sei
das Problem.
Kostendruck und eine auf Dumping ausgelegte Vergabepraxis sind eine
Erklärung, warum sich das System Bau in seiner Form so lange hält. Eine
andere sind fehlende Kontrollen. Alle Arbeiter, mit denen die taz für
diesen Artikel gesprochen hat, werden schwarz bezahlt. Aber: Kaum einer hat
je eine Kontrolle auf einer Baustelle erlebt. Gewerkschaftsvertreter, mit
denen man über das Thema spricht, bestätigen die Tendenz. Der Grund: Die
zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls kommt mit der Arbeit
nicht hinterher. Das liegt an fehlenden Arbeitskräften: Die Zahl der
Personalstellen wurde zwar erhöht, derzeit sind es knapp 10.200,
tatsächlich besetzt sind allerdings nur 8.500 Stellen. Die Gewerkschaft der
Polizei, Bezirksgruppe Zoll, bemängelt aber auch chaotische Strukturen
innerhalb der Behörde. Die Rede ist von einer wahren „Patchwork-Struktur“,
von Einsatzbereichen, die nicht richtig zusammenarbeiten würden.
Es gibt in dieser Geschichte aber auch Institutionen, die für
Verbesserungen kämpfen, die den einzelnen Bauarbeitern helfen. Da ist die
Gewerkschaft. Da ist das Peco-Institut, ein gewerkschaftsnaher
Bildungsverein, der die Kontakte zu den Männern hergestellt hat. Da sind
aber auch die verschiedenen Beratungsstellen im Land, oftmals an
Gewerkschaften angebunden, die sich für die Rechte osteuropäischer
Arbeitskräfte einsetzen.
In einem Büro in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs sitzt ein Mann
hinter einem gewaltigen Schreibtisch. 33 Jahre alt, schmale Statur,
freundliche, zugewandte Art. Anel Crnovrsanin ist Jurist und Berater bei
einer dieser Organisationen, dem Europäischen Verein für
Wanderarbeiterfragen.
Auch wenn er es lieber anders hätte: In sein Büro kommen die Menschen meist
erst, wenn sie schon in der „Scheiße stecken“, wie er es nennt. Wenn sie
über Monate keinen Lohn bekommen haben oder der Chef sie auf die Straße
gesetzt hat. Die Geschädigten arbeiten auf dem Bau, aber auch in der
Gebäudereinigung, Gastronomie, Pflege und Logistik.
Anel Crnovrsanin setzt sich dann mit ihnen hin, formuliert eine
Zahlungsaufforderung an den Arbeitgeber, meist ein Subunternehmen. Da viele
von denen allerdings die Angewohnheit hätten, Briefe zu ignorieren, greife
er inzwischen häufiger zum Telefon, rufe die Firmen an. „Zähne zeigen“
nennt er das.
Viele Firmen hätten im ersten Augenblick Schwierigkeiten, ihn einzuordnen,
sagt er. Dann aber würden die meisten verstehen: Sie haben ein Problem.
„Wenn sich ein Arbeiter beschwert, fürchten sie, dass sich das bei den
Kollegen herumspricht“, sagt Crnovrsanin. Andere hätten Angst, dass sie vor
Gericht müssen oder Ärger mit dem Zoll bekommen.
Etwa die Hälfte der Subunternehmen zahle an diesem Punkt, sagt er. Bei der
anderen Hälfte schalte er die Generalunternehmen ein. Stellen auch die sich
quer, sei sein Spielraum ausgeschöpft. Dann bleibe den Geschädigten nur der
Gang vors Gericht.
Die Zustände auf dem Bau und im Mindestlohnbereich sind lange bekannt.
Crnovrsanin glaubt, über kurz oder lang würden sie zum Problem:
„Deutschland wird als Standort zunehmend unattraktiv“, sagt er. Spricht man
mit den Arbeitern, hört man schon jetzt häufiger Geschichten von Menschen,
die in ihre Heimat zurückgehen. Weil in vielen osteuropäischen Ländern,
darunter Rumänien, die Löhne steigen, vor allem in den großen Städten.
Einige erzählen auch von Verwandten, die zu Hause geblieben sind, eine
Existenz in der Landwirtschaft aufgebaut haben – und denen es jetzt besser
geht als den Arbeitern hier.
Fabiu sagt, er würde gern für ein deutsches Generalunternehmen arbeiten,
aber die würden keine Ausländer einstellen. Vergangenes Jahr war er für
drei Monate in Rumänien, mit zwei Kollegen hat er zwei Häuser gebaut. 7.000
Euro bekam er dafür, arbeitete allerdings auch 12 Stunden am Tag. Wenn es
diese Jobs regelmäßiger gäbe, sagt Fabiu, würde er zurückgehen, „gleich
morgen“.
Vor ein paar Jahren hat er ein altes Haus gekauft, bei sich im Dorf, es
wird zurzeit restauriert. Ob er die Bauarbeiter richtig bezahlt? Fabiu
zögert. „Nicht immer.“ Er hat in Deutschland so viele Maschen gesehen,
andere abzuzocken. Wenn er in der Heimat ist, probiert er es auch.
Sascha Lübbe, 43, ist Reporter der wochentaz. Am meisten beeindruckt haben
ihn die Offenheit der Arbeiter und ihr freundschaftlicher Umgang
miteinander.
4 Dec 2022
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Sascha Lübbe
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