# taz.de -- Urteil gegen Frag den Staat: Schuldspruch für die Pressefreiheit | |
> Der Journalist Arne Semsrott hat Dokumente aus einem laufenden Verfahren | |
> veröffentlicht, das ist illegal. Sein Schuldspruch aber ist fast ein | |
> Freispruch. | |
Bild: Prozess gegen Arne Semsrott (r), Chef vom Internetportal „FragdenStaat�… | |
Berlin taz | „Das Gericht hat sich nicht zu einem Freispruch durchringen | |
können“, sagt Rechtsanwalt Lukas Theune nach Urteilsverkündung gegen seinen | |
Mandanten. Der heißt Arne Semsrott, ist Journalist und Gründer der | |
Transparenzplattform Frag den Staat, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, | |
staatliche Dokumente an die Öffentlichkeit zu bringen. | |
Einen Freispruch, das fordern die meisten Verteidiger*innen für ihre | |
Mandant*innen. In diesem Fall ist selbst der Schuldspruch nicht weit davon | |
entfernt. Semsrott wurde am Freitagmittag vor dem Landgericht Berlin | |
schuldig gesprochen, mit der Veröffentlichung von drei Gerichtsbeschlüssen | |
in einem Ermittlungsverfahren gegen Klimaaktvist*innen der Letzten | |
Generation gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Doch das Strafmaß ist | |
denkbar gering: Das Gericht hat lediglich eine Verwarnung ausgesprochen. | |
Denn Semsrott muss die angesetzten 20 Tagessätze à 50 Euro – [1][die | |
Staatsanwaltschaft hatte 40 Tage gefordert] – nur dann zahlen, wenn er sich | |
innerhalb der kommenden zwölf Monate erneut strafbar macht. Geldstrafe auf | |
Bewährung, sozusagen. Möglich wäre eine Strafe bis zu einem Jahr Haft | |
gewesen. | |
„Wir werden nach Karlsruhe ziehen“, sagte Semsrott der taz nach | |
Urteilsverkündung. Das heißt: Er will das Urteil anfechten. Das war von | |
vornherein das Ziel: Semsrott hält den Paragrafen 353d Nr. 3 des | |
Strafgesetzbuches für unzeitgemäß und verfassungswidrig. „Der Paragraf | |
gehört abgeschafft.“ Der Paragraf verbietet es Journalist*innen, amtliche | |
Dokumente aus laufenden Verfahren zu veröffentlichen. Das soll die | |
Verfahrensbeteiligten schützen und die Funktionsfähigkeit geordneter | |
Verfahren sicherstellen. | |
## Glaubwürdigkeit und Dokumente | |
[2][Veröffentlicht hatte Semsrott drei Beschlüsse] aus dem Sommer 2023 im | |
Zusammenhang mit Ermittlungen zur Letzten Generation. Das Gericht hatte | |
darin Hausdurchsuchungen bei den Klimaaktivist*innen, die Abschaltung der | |
Webseite und das Abhören des Pressetelefons der Gruppe im Rahmen | |
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen auf Bildung beziehungsweise | |
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung der Gruppe nach Paragraf 129 | |
angeordnet. Eine Anklage gibt es bis heute nicht. | |
Die Ermittlungen hatten breite öffentliche Debatten ausgelöst. Kritik wurde | |
unter anderem [3][am Abhören des Pressetelefons] geäußert. Über 100 | |
Journalist*innen sollen davon betroffen sein. Die Gesellschaft für | |
Freiheitsrechte, Reporter ohne Grenzen und der Bayerische | |
Journalisten-Verband haben mittlerweile im Namen von drei | |
Journalist*innen Verfassungsbeschwerden gegen die Maßnahme eingereicht. | |
Semsrott erklärte am Freitag in seinem Schlusswort vor dem Landgericht | |
Berlin, der Paragraf 353d verstoße gegen die im Grundgesetz verankerte | |
Pressefreiheit. Journalist*innen stelle er vor praktische Probleme. | |
Diese dürfen amtliche Dokumente wie Gerichtsbeschlüsse – so lange ein | |
Verfahren noch läuft – zwar inhaltlich zusammenfassen, aber nicht wörtlich | |
daraus zitieren. Das, so Semsrott, führe in der Berichterstattung immer | |
wieder zu Ungenauigkeiten und dadurch zu schlechterem Journalismus – und | |
letztlich zu einer schlechteren öffentlichen Debatte. Viele | |
Journalist*innen berichteten dann lieber gar nicht, statt falsch zu | |
berichten. | |
Semsrott vertritt die Ansicht, dass wörtliche Zitate aus Originaldokumenten | |
gerade in Zeiten der Desinformation der Transparenz dienen und den | |
„demokratischen Diskurs stärken“ können. Die Einsicht in Originaldokumente | |
ermögliche es jedem, sich selbst ein Bild zu machen. Gerade in der | |
aktuellen Zeit, in der es neben seriösen Medien auch viele Plattformen | |
gebe, die Falschinformationen verbreiteten. Die Einsicht in | |
Originaldokumente ermögliche es jedem, sich selbst ein Bild zu machen. | |
## Urteil erwünscht | |
Richter Bo Meyer hielt die Sachlage für klar: Semsrott habe gesetzeswidrig | |
gehandelt und das auch eingestanden. Er stimmte zwar zu, dass nach Urteilen | |
des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs „verschiedene Rechtsgüter | |
miteinander abgewägt werden“ müssten – also hier die Funktionsfähigkeit … | |
Gerichte mit der Pressefreiheit. Das sei aber nach deutschem Recht bereits | |
möglich, auch ohne Änderung des Paragrafen 353d. Im Fall Semsrott sei | |
Meyers Ansicht nach eine Einstellung des Verfahrens angemessen gewesen. Die | |
jedoch lehnten Semsrott und sein Verteidiger ab. Daher sprach der Richter | |
letztlich eine Verwarnung aus. | |
Arne Semsrott wertet das Urteil positiv: „Das Urteil ist ein Erfolg. Das | |
Gericht hat anerkannt, dass es eine Abwägung geben muss“, sagte er der taz | |
nach Urteilsverkündung am Freitagmittag. „Das ist ein kleiner Schritt nach | |
vorne.“ Sein Anwalt Lukas Theune erklärte, das Gericht habe anerkannt, dass | |
es ein grundsätzliches Veröffentlichungsverbot nicht geben dürfe. | |
Allerdings habe es nicht geklärt, wann eine Veröffentlichung straffrei sei. | |
Semsrott und sein Anwalt wollen daher weiterziehen: zunächst vor den | |
Bundesgerichtshof, dann vors Bundesverfassungsgericht. „Wir wollen eine | |
Grundsatzklärung“, sagte Semsrott der taz. „Wir müssen nach Karlsruhe.“ | |
taz-Autorin Johanna Treblin recherchiert aktuell mit | |
Frag-den-Staat-Journalistin Sabrina Winter zu [4][Maßregelvollzug in | |
Deutschland]. | |
18 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Gerichtsverhandlung-ueber-Pressefreiheit/!6043432 | |
[2] https://fragdenstaat.org/blog/2023/08/22/hier-sind-die-gerichtsbeschlusse-z… | |
[3] /Letzte-Generation-wird-ueberwacht/!5940285 | |
[4] /Krise-in-der-Gefaengnispsychiatrie-Berlin/!6027186 | |
## AUTOREN | |
Johanna Treblin | |
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