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# taz.de -- Berlin aus dem Takt: Jeden Tag ein bisschen schlechter
> Ob Schulessen, ÖPNV oder Behördengänge – es läuft einfach nicht in der
> Hauptstadt. CDU-Senatschef Kai Wegner hatte mal das Gegenteil
> versprochen.
Bild: Fahrtanzeige des Grauens – inzwischen Alltag in Berlin
Berlin taz | Ein typischer Wochentag in Berlin unter Schwarz-Rot: Aylin
Yılmaz steht noch früher auf als sonst. Sie muss ihrer 10-jährigen Tochter
Schulbrote schmieren und Gemüsehäppchen zubereiten, damit die in der
Mittagspause etwas zu essen hat. Denn das Schulessen wird [1][seit zwei
Wochen nicht geliefert] – dem Chaos rund um den Caterer 40 Seconds sei
Dank.
Der hatte sich wegen der nicht ganz so pfiffigen Vergabepraxis völlig
übernommen und musste plötzlich 40.000 statt wie bisher 5.000 Mittagessen
liefern – was er natürlich nicht konnte.
Aylin Yılmaz gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie könnte auch Susanne heißen
oder Karl. So oder so muss unsere fiktive Mutter schnell los, um nach dem
Schulbroteschmieren ihren 3-jährigen Sohn in die Kita zu bringen. Ihr
Partner kann das heute nicht übernehmen, er musste für einen kranken
Kollegen einspringen – [2][Busfahrer*innen sind derzeit in Berlin]
Mangelware.
Am U-Bahnhof Eberswalder Straße angekommen wundert sich Yılmaz: Eben stand
die Anzeige noch bei 4 Minuten. Plötzlich verschwindet der Eintrag und ein
neuer erscheint: 12 Minuten. Nach einer halben Stunde ist die hoffnungslos
überfüllte U2 endlich da und Yılmaz ist gestresst: Sie weiß, sie kommt zu
spät.
## BVG-Takt – völlig losgelöst
Wie andere Linien ist auch die U2 vollkommen aus dem Takt. Das Grundproblem
ist lange bekannt: [3][Der Fuhrpark ist überaltert und störanfällig.]
Bestellte neue Züge kommen nicht vor 2025 – und selbst das halten
Expert*innen für Augenwischerei.
Inzwischen melden sich zudem die Fahrer*innen reihenweise krank. Allein
am Sonntag sollen fast 60 U-Bahnen personalbedingt ausgefallen sein. Seit
Dienstag habe sich die Situation aber „erkennbar entspannt“, teilt die BVG
am Mittwoch auf taz-Anfrage mit. Wo auch immer das erkennbar ist.
Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) nahm es im Juli noch locker. „Ich glaube,
da müssen wir eine andere Haltung bekommen. In anderen Städten fährt die
U-Bahn alle 10, alle 15 Minuten“, sagte sie zu den schon im Sommer
allgegenwärtigen Klagen über Verspätungen. Das kam nicht so gut an.
Mittlerweile wirbt Bonde um Verständnis und würdigt „das große Bemühen
aller Beteiligten, ein weitgehend verlässliches Angebot
wiederherzustellen“.
## Nächster Kita-Streik kommt bestimmt
Aylin Yılmaz hilft das wenig. In der Kita ihres Sohnes folgt der nächste
Schock: Ab Montag treten die Erzieher*innen möglicherweise [4][in einen
unbefristeten Streik], erzählt eine andere Mutter. Yılmaz schaltet sofort
in den Krisenmodus: Wie kann sie in der nächsten Woche die Kinderbetreuung
organisieren? Schließlich muss sie ja auch noch Geld verdienen.
Sie ist schon geübt in kurzfristiger Notfallbetreuung, allein in diesem
Jahr ist die Kita schon 24 Mal ausgefallen. Weniger wegen Streiks, sondern
meistens, weil die [5][Erzieher*innen krank waren]. Sie verkraften die
Belastung einfach nicht mehr. Auch Yılmaz’ Stresslevel liegt bei 180 –
dabei ist es erst 7.30 Uhr morgens.
Doch es nützt nichts, sie muss weiter, ihre Tochter in die Schule bringen.
Und anschließend zum Bürgeramt an der Schlesischen Straße in Kreuzberg, wo
sie einen der begehrten Termine ergattert hat. Sechs Wochen hat sie darauf
gewartet. Yılmaz muss dringend einen Kinderreisepass beantragen, bald sind
Herbstferien.
Und wenn sie schon mal da ist, kann sie auch gleich einen neuen
Wohngeldantrag stellen. Dafür ist sie eigentlich zu spät dran, Ende des
Jahres läuft ihr Wohngeld aus und die [6][durchschnittliche
Bearbeitungszeit] in Kreuzberg liegt derzeit bei mehr als sechs Monaten.
Mit sechs Wochen Wartezeit auf einen Termin liegt Yılmaz genau im
Durchschnitt.
## Hauptsache, irgendein Bürgeramtstermin
Vom erklärten Ziel, dass Berliner*innen innerhalb von 14 Tagen einen
Termin beim Bürgeramt bekommen, will der Senat nichts mehr wissen. Jüngst
erklärte Senatschef Kai Wegner (CDU), [7][er werde und könne kein Datum für
die Umsetzung seines Wahlversprechens nennen]. Und überhaupt: „Ich glaube,
dass für viele Berlinerinnen und Berliner dieses 14-Tage-Ziel
ehrlicherweise gar nicht so wichtig ist.“ Stattdessen gehe es darum,
„schnell einen Termin“ zu bekommen, „wenn es notwendig ist“. Das hat bei
Aylin Yılmaz schon mal nicht funktioniert.
Auf dem Weg zum Bürgeramt steigt sie im U-Bahnhof Schlesischen Tor über
einen offenbar zugedröhnten Mann, der auf der Treppe liegt. Ein anderer
Mann bettelt sie an. Anderen geht es noch schlechter als mir, versucht sich
Yılmaz die desolate Lage schönzureden und gibt ihm 50 Cent. Für [8][die
vielen Drogenabhängigen und Obdachlosen in der Stadt] interessiert sich der
Senat merklich auch nicht so richtig. Wirklich besser geht es Yılmaz damit
nicht.
Um das Schlesische Tor herum stapelt sich Sperrmüll. Baucontainer werden
genutzt, um eigenen haushaltsüblichen – und unüblichen – Schrott
dazuzuwerfen. Vorbildliche Partygänger*innen haben ihre Flaschen neben
die vollen Mülltonnen gestellt. Die Flaschen der nicht so Vorbildlichen
liegen zerbrochen auf dem Gehweg.
Dabei hatten SPD und CDU in ihrem Koalitionsvertrag eine
„Sauberkeitsoffensive“ angekündigt, „um die Aufenthaltsqualität im
öffentlichen Raum“ zu erhöhen. Zwar wurden für die Reinigung von Straßen,
Plätzen und Grünflächen im Haushalt 2024/25 fast 50 Millionen Euro
zusätzlich eingeplant. Auch stieg die Zahl der von der BSR gesäuberten
Parks im Sommer von zuletzt rund 80 auf 102. Mit den Straßen kommt das
Unternehmen offenkundig aber nicht mehr hinterher – zumindest nicht in
Kreuzberg.
## „Mit harter Arbeit und guten Ideen“
Die Stadt scheint zunehmend vor die Hunde zu gehen, denkt sich Yılmaz, als
sie am defekten Fotoautomaten vorbeigeht. Dabei hatte die CDU doch
versprochen, die Stadt sauberer und funktionsfähiger zu machen. „Wir wollen
mit harter Arbeit und guten Ideen dafür sorgen, dass Berlin [9][jeden Tag
ein bisschen besser] funktioniert“, hatte Kai Wegner getönt. Deswegen hat
Yılmaz 2023 auch CDU gewählt.
Stattdessen wird es jeden Tag gefühlt ein bisschen schlimmer. Doch Yılmaz
hat keine Zeit, darüber nachzudenken: Ihre Nummer wird aufgerufen. Sie hat
noch 20 Minuten, bis sie zu ihrem Job als Pflegerin in der Charité muss.
Dann fängt der Stress eigentlich erst richtig an.
18 Sep 2024
## LINKS
[1] /Chaos-beim-Schulessen-in-Berlin/!6036266
[2] /Personalkrise-im-OePNV/!5973802
[3] /Sparen-bei-der-BVG/!6032000
[4] /Kita-Streik-fuer-Entlastung/!6032872
[5] /Personalmangel-sorgt-fuer-Ausfaelle/!6028359
[6] /Steigende-Mieten/!6027207
[7] /Neues-Buergeramt-in-Berlin-eroeffnet/!6031252
[8] /Oeffentliche-Toiletten-in-Berlin/!6023813
[9] /Schwarz-Rot-in-Berlin/!5957659
## AUTOREN
Marie Frank
Rainer Rutz
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