| # taz.de -- Swetlana Tichanowskaja über Belarus: „Das System bröckelt“ | |
| > In Belarus bestimmen Willkür und Repression den Alltag. Die | |
| > Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja sagt, daran erkenne man die Angst | |
| > des Regimes. | |
| Bild: Swetlana Tichanowskaja, belarussische Oppositionelle, lebt im Exil und k�… | |
| wochentaz: Frau Tichanowskaja, zum Ende eines alten und Beginn eines neuen | |
| Jahres blickt man zurück und voraus. Zunächst: Was für ein Jahr war 2023 | |
| für die exilierte belarussische Opposition? | |
| Swetlana Tichanowskaja: Eines vorweg: Ich mag es nicht, wenn man zwischen | |
| der Exilopposition und den in Belarus verbliebenen Dissident*innen | |
| unterscheidet. Denn wir arbeiten hier nicht in unserer Exilblase. Unsere | |
| Aufgabe ist es, die Kommunikation mit den Menschen in Belarus | |
| aufrechtzuerhalten. Die Menschen kämpfen auch innerhalb von Belarus weiter, | |
| so gut sie können, mit kleinen Sabotageakten und Zeichen. Neulich sind zwei | |
| Frauen verhaftet worden, weil sie in ihren Haaren weiß-rot-weiße Bänder | |
| trugen, die Farben der Opposition. Sie sind für mich Heldinnen des Alltags. | |
| Aber um Ihre Frage zu beantworten: Für uns ist es wichtig, die Beziehungen | |
| mit der demokratischen Welt aufrechtzuerhalten. Auf EU-Ebene haben wir die | |
| sogenannte Kontaktgruppe zur belarussischen Opposition im Europarat | |
| fortgeführt. Vor einem Monat haben wir auch den strategischen Dialog mit | |
| den USA aufgenommen. Wir haben künftige Reformen formuliert, ein | |
| Entschädigungskonzept für Opfer des Regimes entworfen. Und wir haben | |
| demokratische Institutionen im Exil weiter aufgebaut wie das United | |
| Transitional Cabinet of Belarus und den Koordinierungsrat. 2023 war ein | |
| Jahr der Neujustierung. | |
| Erklären Sie bitte nochmal kurz, was das United Transitional Cabinet of | |
| Belarus (UTC) und der Koordinierungsrat sind. | |
| Das UTC ist die alternative Regierung von Belarus, ein im Exil gegründetes | |
| Bündnis der Opposition gegen das Lukaschenko-Regime, ins Leben gerufen vom | |
| Koordinierungsrat. Den Koordinierungsrat haben ich und andere führende | |
| Oppositionskräfte nach der gefälschten Wahl 2020 mit dem Ziel gegründet, | |
| einen friedlichen Übergang im Land zu organisieren. Für diesen | |
| Koordinierungsrat wollen wir nun auch organisieren, dass seine | |
| Vertreter*innen neu gewählt werden können. | |
| Kürzlich haben Sie eine „New Belarus Transition Strategy“ vorgestellt. | |
| Inhalt: eine strahlende Zukunft für Belarus, freie Wahlen, gute | |
| Schulbildung, Justizreformen. Derzeit aber ist das belarussische Regime ein | |
| geschlossenes System, das schalten und walten kann, wie es will. Wozu | |
| dieses Strategiepapier? | |
| Natürlich, die wichtigste Frage ist, wie man an den Punkt gelangen kann, | |
| dass Veränderung möglich wird. Ich verstehe, dass dieses Dokument jetzt | |
| vielleicht merkwürdig wirkt, weil wir nicht annähernd an diesem Punkt sind. | |
| Wir müssen trotzdem schon an einer Strategie für die Übergangszeit | |
| arbeiten. Wenn das Regime fällt, muss Gerechtigkeit wiederhergestellt | |
| werden. Wir müssen also nach internationalen Vorbildern für ein | |
| Justizsystem suchen, um diejenigen, die die Verbrechen in Belarus begehen, | |
| eines Tages bestrafen zu können. | |
| Derzeit aber gehen Einschüchterungen und Folter tagtäglich weiter. | |
| Ja. Die zwei Hauptziele haben wir nicht erreicht, freie Wahlen und die | |
| Freilassung der politischen Gefangenen. Wir bleiben beharrlich, | |
| unterstützen die Menschen in Belarus weiter. Viele sagen: Sanktionen werden | |
| verhängt, die Oppositionellen im Exil schmieden Pläne, aber nichts ändert | |
| sich. Aber doch, es ändert sich etwas. Mehr und mehr Leute aus dem System | |
| Lukaschenko kommunizieren mit uns. Sie lassen uns Insiderinformationen | |
| zukommen. Das System bröckelt immer mehr. | |
| Letztens war zu hören, dass die Wohnung der [1][Literaturnobelpreisträgerin | |
| Swetlana Alexijewitsch] beschlagnahmt werden soll, der Vater [2][des | |
| Schriftstellers Sasha Filipenko] wurde festgenommen. Ist es die Zeit der | |
| Rache des Regimes? | |
| Das sind die Fälle, die Aufmerksamkeit erregen. Aber das passiert jeden Tag | |
| in Belarus. Durchsuchungen der Wohnungen von Aktivist*innen finden | |
| ständig statt. Meine Wohnung ist auch beschlagnahmt worden. Das Regime übt | |
| schon seit 2020 Rache. Es ist wie im Gulag. | |
| Lukaschenko hat ein Gesetz beschlossen, laut dem [3][Belaruss*innen, | |
| die im Ausland leben, ihren Pass nicht mehr in den Botschaften verlängern | |
| können.] Sie müssen dafür ins Land zurückkehren. Was können Sie gegen diese | |
| Schikanen tun? | |
| Als kurzfristige Lösung schlagen wir den EU-Ländern und anderen Nationen | |
| vor, abgelaufene Pässe als gültig zu betrachten, damit | |
| Aufenthaltsgenehmigungen verlängert werden können. Wir verhandeln deshalb | |
| einzeln mit den Ländern. Und wir sind dabei, „New Belarus“-Pässe | |
| auszuarbeiten – eigene Dokumente des United Transitional Cabinet of | |
| Belarus für die Auslandsbelaruss*innen. Erste Exemplare werden gerade | |
| gedruckt. Wir werden sie nach Brüssel schicken und uns um die Anerkennung | |
| dieser Papiere bemühen. Das soll die langfristige Lösung dieses Problems | |
| sein. Natürlich ist das Neuland, so etwas gab es noch nicht. Aber wir | |
| werden es versuchen. | |
| Die Aufmerksamkeit der westlichen Länder für Belarus schwindet. Haben | |
| Solidaritätsbekundungen derzeit ohnehin nur symbolischen Wert? | |
| Jede Aufmerksamkeit für die entsetzliche Menschenrechtssituation in Belarus | |
| ist wichtig. Es muss gelingen, dass die Belaruss*innen mit der EU und | |
| den demokratischen Ländern in Verbindung bleiben. Ich glaube, nach 2020 | |
| interessieren sich immer mehr Belaruss*innen für Außen- und | |
| Innenpolitik und dafür, wie die Dinge funktionieren. Die Menschen sind | |
| politisch gebildeter. Sie wollen verstehen, was vor sich geht. Dazu | |
| brauchen sie auch das Interesse und die Unterstützung des Westens. | |
| Lassen Sie uns über die EU-Sanktionen gegen Belarus und Russland sprechen. | |
| Sie haben gesagt, dass es zu viele Schlupflöcher gibt. Was sind Ihre | |
| Forderungen an die EU? | |
| Wir fordern eine Synchronisierung der Sanktionen gegen die diktatorischen | |
| Regime in Belarus und Russland, nicht aber gegen das Volk. Schlupflöcher | |
| müssen geschlossen werden. Belarus ist zum Beispiel einer der größten | |
| Exporteure von Kalidünger, eine wichtige Einnahmequelle für Lukaschenko. | |
| Der Handel mit Düngemitteln aus Belarus ist zwar von Sanktionen betroffen, | |
| Russland kann jedoch immer noch über EU-Häfen an Drittstaaten exportieren. | |
| So lassen sich Sanktionen leicht umgehen. Wir können auch mit Daten | |
| belegen, dass es genug Dünger in der Welt gibt, sodass arme Staaten nicht | |
| unter einem totalen Bann leiden würden. Es gibt also kein Argument für | |
| diese Ausnahmeregelungen. | |
| Wir haben schon über die politischen Gefangenen gesprochen. Offiziell | |
| sollen es knapp 1.500 Menschen sein, in Wirklichkeit wohl viele Tausend | |
| mehr. Wenn Sie Worte an sie richten könnten, was würden Sie ihnen sagen? | |
| Zunächst einmal, dass sie Held*innen sind. Aber das ist wenig wert im | |
| Gefängnis. Sie leiden entsetzlich, sind unter schrecklichen Bedingungen | |
| inhaftiert, den Erkrankten fehlt es an medizinischer Versorgung. Ich würde | |
| ihnen trotzdem sagen, dass ihr Schmerz uns die Energie gibt | |
| weiterzukämpfen. | |
| Wann haben Sie zuletzt etwas von den inhaftierten | |
| Oppositionspolitiker*innen – ihrem Mann [4][Sergei Tichanowski], | |
| [5][Maria Kolesnikova] und [6][Wiktar Babaryka] – gehört? | |
| Sie und Dutzende andere Leute werden seit fast einem Jahr in Isolationshaft | |
| und ohne Kontakt zur Außenwelt gehalten. Ihre Verwandten erhalten keine | |
| Informationen über sie. Das Regime will diese Menschen psychologisch | |
| brechen. Auch [7][der Menschenrechtler Ales Bjaljazki ist weiter in Haft], | |
| es ist eine Schande für die Welt, wenn Friedensnobelpreisträger in | |
| Gefängnissen sitzen. Seit März 2023 war ich mit meinem Mann nicht mehr in | |
| Kontakt, seither haben meine Kinder auch keine Briefe mehr von ihrem Vater | |
| bekommen. Im Juli dieses Jahres habe ich anonyme Informationen über den | |
| angeblichen Tod meines Mannes zugespielt bekommen. Die haben sich zum Glück | |
| nicht bewahrheitet. | |
| Diese Büroetage in Vilnius, auf der wir uns gerade gegenübersitzen, wirkt | |
| wie eine kleine Exilregierung. Wie arbeiten Sie hier? | |
| Ich arbeite mit einem Stab von rund 15 Personen. Wir kommunizieren von hier | |
| aus mit den Medien, treten mit Menschenrechtsanwält*innen in Kontakt, | |
| arbeiten mit verschiedenen NGOs an Themen. Dabei geht es darum, | |
| Perspektiven für ein zukünftiges Belarus zu entwickeln, Themen wie grüne | |
| Wirtschaft, Wirtschafts- und Justizreformen spielen eine Rolle. | |
| Lukaschenko hat Parlamentswahlen für Februar 2024 angekündigt … | |
| … ja, und wir bitten die Menschen in Belarus, diese „Wahlen“ zu ignorieren | |
| und sich stattdessen an den Wahlen unseres Koordinierungsrats zu | |
| beteiligen. Es geht uns immer darum, Alternativen aufzuzeigen. Unsere | |
| Nation hat seit 30 Jahren keine Alternative. | |
| In Belarus wurden wichtigen Verlegern wie Andrei Januschkewitsch und Henadz | |
| Viniarski die Lizenzen entzogen, sie waren auch zeitweise in Haft. Wie | |
| erfolgreich ist Lukaschenkos Kampf gegen die Kultur? | |
| Das Regime versucht belarussische Geschichte auszulöschen. [8][In Belarus | |
| kann man sogar dafür verhaftet werden, Belarussisch zu sprechen]. Sie | |
| wollen unsere Geschichte umschreiben, die nationale Identität im Keim | |
| ersticken, junge Leute beeinflussen. Unsere Aufgabe ist es, durch die | |
| Medien das Belarussische populär zu machen, via Tiktok, Instagram, | |
| Telegram. Das ist nicht einfach, wenn unsere historische weiß-rot-weiße | |
| Flagge als „Nazifahne“ diffamiert wird. Und trotzdem blüht die | |
| belarussische Kultur im Moment auf. Wie viele Menschen haben nach 2020 | |
| angefangen, Belarussisch zu sprechen? Ich selbst bin das beste Beispiel | |
| dafür. Erst vor drei Jahren habe ich begonnen, Belarussisch zu sprechen. | |
| Ich konnte die Sprache vorher zwar sprechen, aber ich tat es nicht. Ich | |
| habe in dieser russischen Einflusssphäre gelebt. Im Kampf um die eigene | |
| Identität aber kann die Sprache sehr wichtig sein. | |
| Wir haben noch nicht vorausgeblickt. Was erhoffen Sie sich für 2024? | |
| Ich bin zuversichtlich, dass wir unserem Ziel eines freien und | |
| demokratischen Belarus mit jedem Tag näher kommen. Ich kann Ihnen keinen | |
| genauen Zeitplan nennen – ich wünschte, ich könnte es –, aber unsere | |
| Entschlossenheit ist ungebrochen. Lukaschenkos Diktaturmodell gehört der | |
| Vergangenheit an – man sieht dem Regime seine Angst an, und es kann nur | |
| überleben, indem es die Repressionen ständig erhöht. Ich bin sicher, dass | |
| die Stimmen der Belaruss*innen trotz der Versuche des Regimes, sie zum | |
| Schweigen zu bringen, stärker werden. | |
| Wir werden weiter daran arbeiten, Allianzen und Koalitionen mit unseren | |
| internationalen Partnern aufzubauen, um den Belaruss*innen innerhalb | |
| und außerhalb des Landes zu helfen und den bevorstehenden Übergang zur | |
| Demokratie vorzubereiten. Wir müssen mehr Druck aufbauen, um die | |
| Freilassung der politischen Gefangenen zu erreichen. Und wir werden die | |
| Ukraine weiterhin in jeder erdenklichen Weise unterstützen, da wir | |
| denselben Feind, den russischen Imperialismus, bekämpfen. | |
| 31 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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