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# taz.de -- Voices Performing Arts Festival: Wie lange brennt ein Mensch?
> In respektvoller Atmosphäre war am Samstag beim Voices Festival das
> Theaterstück „Cremulator“ in St. Elisabeth zu sehen. Es handelt von der
> Stalin-Zeit.
Bild: Szene aus „Cremulator“. Das Stück basiert auf einem russischsprachig…
Blutrote bodenlange Vorhänge schmücken die große Leinwand, die als
Projektionsfläche im Altarbereich der abgedunkelten St.-Elisabeth-Kirche in
Berlin aufgestellt ist. Im Bühnenbereich vor ihr liegen offene graue Särge,
sie sind mit rot-schwarzen Blumen bedeckt – inszeniert wird die Zeit der
Stalin'schen Säuberungen.
„Wie lange braucht ein Mensch, um auszubrennen?“, fragt der Ermittler auf
Russisch. Sein Gegenüber, Pjotr Nesterenko, Direktor des Moskauer
Krematoriums, beantwortet die Frage zunächst scherzhaft: „Ein ganzes Leben
lang!“, korrigiert sich dann aber in ernstem Ton, es dauere anderthalb
Stunden. Und fügt ein Detail hinzu: Wenn der Tod durch Erschießung
erfolgte, blieben Kugeln in der Asche zurück.
Der „Kremulator“ Nesterenko, gespielt von Maxim Sukhanov, hat seinen
morbiden Humor auch in dieser prekären Lage nicht eingebüßt. Ein wie der
Ermittler in eine schwarze Uniform gekleideter Kameramann filmt das Verhör
auf der Bühne, eine Nahaufnahme wird auf die Leinwand übertragen, zusammen
mit dem virtuos-schaurigen Text der Figuren in deutscher Übersetzung.
Am Samstag war im Rahmen des Voices Performing Arts Festivals Berlin das
Theaterstück „Cremulator“ zu sehen, das auf einem 2022 erschienenen
russischsprachigen Roman [1][des belarusischen Schriftstellers Sasha
Filipenko] basiert. Filipenko lebt inzwischen im Schweizer Exil.
Beide Aufführungen ausverkauft
Beide Aufführungen des Stücks an diesem Tag, das im Februar in Berlin
prämierte und an verschiedenen Orten in Europa gespielt wird, waren
ausverkauft. Auf die Bühne gebracht wurde der auf realen Archivdokumenten
basierende Roman, den Filipenko mit Unterstützung der
Menschenrechtsorganisation Memorial und [2][des jüngst im Zuge der neuen
Repressionen unter Putin geschlossenen Gulag-Museums] verfasste, durch den
russischen Theaterregisseur Maxim Didenko. Didenko verließ Russland nach
Beginn der Großinvasion und lebt nun in Berlin.
Der Protagonist Nesterenko war Offizier der zaristischen Weißen Garde, nach
dem Sieg der Bolschewiki ging er zunächst ins Exil – nach Paris, Istanbul
und Warschau –, bis ihm von den Sowjets angeboten wird, in die Heimat
zurückzukehren. Dort kremiert er dann Leichen, vornehmlich die der
sogenannten Volksfeinde, bis er selbst zu einem erklärt und 1942 nach
einigen Verhören hingerichtet wird.
Die brutale Geschichte des ermordeten Leichenverbrenners aus der Stalinzeit
kommt gut an beim größtenteils russischsprachigen Publikum, es scheint sich
darin wiederzuerkennen. Der Totalitarismus ist zurück, viele von ihnen sind
jetzt aus politischen Gründen im Exil.
[3][Das Voices Festival] findet dieses Jahr vom 2. bis zum 29. November an
verschiedenen Spielorten in Berlin statt, es wurde im vergangenen Jahr als
unabhängige Plattform für Tanz, Musik und Theater ins Leben gerufen.
Gezeigt werden Werke von Künstler*innen aus dem postsowjetischen Raum,
von denen nun viele im Exil leben. Die musikalische Leitung hat der schon
lange in Berlin lebende russische Komponist Sergej Newski inne, der auch
die Musik zum „Cremulator“ beisteuerte.
Dreistündiges Konzert
Ein unvergessliches Hörerlebnis bot am 3. November das über dreistündige
Konzert für Neue Musik „The Tower of Babel“, ebenfalls in der
St.-Elisabeth-Kirche. Das Wiener Klangforum spielte Werke mit großer
stilistischer Bandbreite, die allesamt von Komponist*innen aus dem
postsowjetischen Raum stammen.
Eröffnet wurde der Abend durch die sich gemächlich aus einer
gleichbleibenden Klanganordnung entwickelnde Komposition „Clessidra“ der
litauischen Komponistin Justė Janulytė, die ihre Musik selbst als
„monochrom“ bezeichnet. Zu hören waren unter anderem die Stücke „…soft
glass…“ des Ukrainers Maxim Kolomiiets, das sich die Melodie des
Narren-Tanzes aus Tschajkowskijs Snegurotschka aneignet und in ein
surreales Stück mit verschiedenen Dynamiken transformiert, oder auch „Wow
and Flutter“ der Belarusin Oxana Omelchuk – eine Collage verschiedener
musikalischer Traditionen, von Volkslied bis Jazz.
Einen Kontrast zu diesen wuchtigen Werken bildete das eingängige
Kontrabass-Solo des usbekischen Komponisten Jakhongir Shukurov. Als letztes
von insgesamt neun Stücken wurde die Komposition „Foucault's Pendulum“ des
in der Ukraine geborenen russischen Komponisten Vladimir Tarnopolski
gespielt, der nun in München lebt. Der Name des Werks, bei dem ein
tickendes Metronom zum Einsatz kommt, bezieht sich auf den physikalischen
Versuch aus der Mitte des 19. Jahrhundert, bei dem mit einem Pendel die
Erdrotation nachgewiesen wurde.
Dieser musikalische Turmbau zu Babel zeigte etwas Seltenes, nämlich dass
trotz des andauernden russischen Krieges ein solches Konzert möglich sein
kann – in respektvoller multikultureller Atmosphäre, ohne Dominanz des
Russischen oder gezwungene Bemühungen um Frieden, wo gerade keiner ist.
17 Nov 2024
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## AUTOREN
Yelizaveta Landenberger
## TAGS
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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