# taz.de -- Urteil gegen Tichanowski in Belarus: 18 Jahre Strafkolonie | |
> Sergei Tichanowski, politischer Gegner von Präsident Lukaschenko, wurde | |
> zu langer Haftstrafe verurteilt. Olga Deksnis über stürmische Zeiten in | |
> Minsk. Folge 111. | |
Bild: Prag im Juni 2021: Swetlana Tichanowskaja hält ein Foto ihres inhaftiert… | |
Am 14. Dezember hat das Bezirksgericht Gomel den politischen Gefangenen | |
Sergei Tichanowski sowie fünf weitere Personen, die sich im selben | |
Strafverfahren befinden, zu hohen Haftstrafen von insgesamt fast hundert | |
Jahren verurteilt. | |
Sergei Tichanowski erhielt eine Freiheitsstrafe von 18 Jahren in einer | |
Strafkolonie. [1][Der Blogger Igor Losik] und der oppositionelle Youtuber | |
Wladimir Ziganowitsch wurden zu je 15 Jahren verurteilt. Gegen Artjom Sakow | |
und Dmitri Popow, zwei Mitarbeiter Tichanowskis, verhängte das Gericht | |
sechzehnjährige Freiheitsstrafen. Der Vorsitzende der belarussischen | |
Sozialdemokratischen Partei Nikolai Statkewitsch muss für 14 Jahre hinter | |
Gitter. | |
Außerdem müssen die sechs Angeklagten eine Strafe von umgerechnet 1 Million | |
Dollar für den Schaden zahlen, den sie dem Staat zugefügt haben. | |
Sergei Tichanowski ist Unternehmer, Oppositioneller und Betreiber des | |
populären Youtube-Kanals „Ein Land zum Leben“. Aktuell hat der Kanal mehr | |
als 300.000 Abonnenten. Zum Zeitpunkt von Tichanowskis Festnahme (im Mai | |
2020, Anm. d. Redaktion) waren es nur halb so viele. Seit 2019 machte | |
Sergei Tichanowski in ganz Belarus Video-Interviews mit ganz gewöhnlichen | |
Menschen, zeigte ihre Lebensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, | |
und verurteilte scharf die Politiker des Landes. | |
Wirklich spürbar und „gefährlich“ für die Machthaber wurde er zu dem | |
Zeitpunkt, als er in einem der Videos verkündete, dass er als | |
Präsidentschaftskandidat antreten wolle. Was er aber nicht konnte, denn er | |
wurde vorher festgenommen. Infolgedessen kandidierte statt seiner seine | |
Ehefrau. Laut unabhängiger Stimmenauszählung wurde dann auch ebendiese | |
Swetlana Tichanowskaja vom Volk gewählt. | |
„Ich werde weiterhin den Menschen verteidigen, den ich liebe und der zum | |
Anführer von Millionen Belarussen wurde“, sagte Swetlana Tichanowskaja nach | |
dem Urteil gegen ihren Mann. „Ich werde versuchen, etwas sehr Schwieriges, | |
vielleicht sogar Unmögliches zu tun, bis der Moment kommt, an dem wir uns | |
in einem neuen Belarus wiedersehen. Ich werde ihm weiter Postkarten und | |
Zeichnungen unserer Kinder schicken, um daraus, wenn wir uns wiedersehen, | |
ein Erinnerungsalbum zu machen.“ | |
„Die Verurteilung Sergei Tichanowskis ist surreal“, kommentiert der | |
(russische) Schriftsteller und Aktivist Anatoli Bataschew. „Einen | |
unschuldigen Menschen, einen Politiker verurteilt man zu 18 Jahren | |
Gefängnis. Die Frage ist, inwieweit ein solcher Urteilsspruch den Geist des | |
sowjetischen Staats atmet. Eine solche Art ‚asiatischer‘ Gerichtsurteile | |
haben wir bei uns in Russland nicht …“ | |
„Urteile mit solchem Strafmaß – das sind Projektionen der Angst der | |
‚Lukaschisten‘, die Rache für den von ihnen durchlebten Schock“, meint d… | |
(russische Medienmanager und) Journalist Dmitri Nawoscha. „Und eine | |
Fortsetzung der von ihnen gewählten Taktik: dass alle so vor Angst zittern, | |
dass sie an Wahlen, Rechte und Freiheit nicht einmal mehr zu denken wagen.“ | |
„Wenn ihr in Belarus über die aktuellen Ereignisse nichts schreiben dürft, | |
dann ruft wenigstens einen ‚Tag der Stille‘ aus“, mahnt (der belarussische | |
Blogger) Anton Motolko. Sein Blog „Motolko pomogi“ (unübersetzbares | |
russisches Wortspiel, bei dem aus dem Nachnamen des Bloggers und dem Verb | |
helfen so etwas wie „Hilf einfach“ wird; Anm. d. Redaktion) wurde erst | |
kürzlich als extremistisch eingestuft: Abonnenten können seitdem zu | |
Haftstrafen verurteilt werden. „Man darf nicht so tun, als ob nichts | |
passiert und als ob die wichtigsten Fragen heute die nach der Wahl der | |
richtigen Kondensmilch oder der Reservierung eines Tisches im Restaurant | |
für eine Silvesterfeier seien.“ | |
Die staatlichen Medien hingegen bejubeln diese Haftstrafen: Jetzt werdet | |
ihr wissen, was passiert, wenn man das Regime wanken lässt. | |
[2][Gerade hat Lukaschenko das Gesetz „Über Änderungen im Strafgesetzbuch | |
der Republik Belarus“ unterzeichnet.] Künftig kann man in Belarus zu | |
Haftstrafen von sechs bis zwölf Jahren verurteilt werden, wenn man | |
Sanktionen fordert. | |
Mir scheint, dass es bald gefährlich wird, überhaupt Belarusse zu sein. | |
[3][Täglich verlassen mehr und mehr Menschen das Land.] Mit Stand 15. | |
Dezember gibt es 920 anerkannte politische Gefangene in Belarus. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
22 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Olga Deksnis | |
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