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# taz.de -- Hass auf die Grünen in Ostdeutschland: Im Osten nichts Grünes?
> Nirgendwo sind die Grünen so unbeliebt wie in Ostdeutschland. Mangelnde
> Bürgernähe, Realitätsferne und Wessitum. Woher kommt das?
Bild: Oft ist es hier nicht so ruhig: Monique Hänel im Büro der Grünen in G�…
Es ist eine Auflistung puren Hasses. Einmal, so berichtet Monique Hänel,
kam ein Mann ins Büro und rief: „Ich wollte nur sagen, dass ihr scheiße
seid!“ Ein anderer kündigte am Telefon an: „Ich komme ins Büro und hole m…
mein Geld!“ – „Welches?“ fragte Hänel. „Das, was mir fehlt wegen euch
Grünen!“ Ein anderes Mal kam ein Mann in die Geschäftsstelle gestürmt und
bedrohte eine Mitarbeiterin mit einem Fahrradschloss. „Den haben wir
angezeigt.“ Ein Anrufer brüllte: „Ihr elenden grünen Drecksäcke. Ich has…
euch. Am besten komm ich ins Büro und [1][schlag euch tot]!“ Hänel
informierte die Kripo.
Dazu kommen die unzähligen Angriffe gegen das Büro selbst, die
Farbattacken, die verkleisterten Türschlösser und die bespuckten
Fensterscheiben. Monique Hänel leitet das Regionalbüro der Grünen in
[2][Görlitz], tief im Osten Sachsens an der Grenze zu Polen. Belastend
seien die Attacken, sagt sie. Das alles nimmt man schließlich am Abend mit
nach Hause. „Ich wollte schon Bäume umarmen.“
Die Anrufe kommen aus dem Landkreis, und die Eindringlinge sind Männer der
Generation 50 plus. Themenhopping betreiben sie – [3][Ukraine],
[4][Energiepreise], [5][Flüchtlinge], [6][Klima]. Sie brandmarken alles
Grüne, lassen Dampf ab, kippen ihren Unrat aus. Der letzte Winter war
besonders heftig, im Frühjahr hat sich die Lage dann beruhigt. Die
Frühlingssonne, vermutet Monique Hänel, habe manch aufgewühlte Seele
entspannt.
Beruhigend, einerseits. Andererseits kann es bald wieder losgehen. Die
Temperaturen fallen. Inzwischen gibt es Vorkehrungen. Die Eingangstür ist
verschlossen. Erst nach Sichtkontrolle schließt Monique Hänel auf und bald
werde der Außenbereich „kameratechnisch abgedeckt“, eine Empfehlung des
sächsischen Landeskriminalamts.
## Schubert ist eigentlich keine polarisierende Grüne
„Dass ich das mal erlebe, dass sich das Landeskriminalamt um Vorfälle
kümmert, finde ich krass“, sagt Franziska Schubert. Alles Gift, was für das
Görlitzer Büro bestimmt ist, soll auch sie treffen. Es ist ihr
Abgeordnetenbüro in der Heimat. Jetzt sitzt sie in einem kahlen
Besprechungsraum, irgendwo im Landtag in Dresden. „Es ist eine Enthemmung
im Gange, die finde ich besorgniserregend.“ Es klingt nicht ängstlich, wie
sie es sagt, doch nachdenklich.
Die 41 Jahre alte Grünen-Politikerin war bisher keine, die sich persönlich
Sorgen machen musste. Schubert polarisiert nicht, sie führt zusammen. Den
Grünen hat sie in Görlitz schon zum Höhenflug verholfen.
In der 56.000-Einwohner-Stadt, in der seit Jahren regelmäßig [7][ein
Drittel für die AfD stimmt], ist ihr 2019 ein Triumph gelungen. Bei der
Oberbürgermeisterwahl hatten im ersten Wahlgang 28 Prozent für Schubert
votiert, Platz drei, knapp hinter dem CDU-Mann. Der AfD-Anwärter allerdings
hatte beide überflügelt. Erstmals in Deutschland hätte ein AfDler
Oberbürgermeister einer Stadt werden können. Es kam anders. Schubert
verzichtete, warb im zweiten Wahlgang für eine „offene Europastadt“ und
unterstützte so den CDU-Kandidaten. Mit 55 Prozent zog der ins Rathaus ein.
## Am Alltag der Menschen vorbei
Das verleitete Annegret Kramp-Karrenbauer, damals die CDU-Vorsitzende, den
eher wackeligen Sieg ganz für ihre Partei zu reklamieren. „So far away from
here“ sei die Parteispitze der CDU, so weit, weit weg von den tatsächlichen
Verhältnissen, schimpfte Schubert über dieses Fehlurteil. „Das ist genau
der Stil, der die Menschen wütend macht“, sagte sie damals der taz.
Möglicherweise kommen die Fehleinschätzungen inzwischen von den Grünen.
Franziska Schubert, offener, freundlicher Blick, macht nicht den Eindruck,
dass sie dieser Gedanke empört. Schuberts Eltern betreiben in dritter
Generation eine Fleischerei in einem Dorf dreißig Kilometer südwestlich von
Görlitz.
Was das Handwerk von Robert Habecks über Monate favorisierten Idee vom
Industriestrompreis hält, dürfte ihr der Vater bereits erzählt haben. Nicht
nur die Aluminiumindustrie braucht Energie, auch das Schlachthaus, das
Kühlhaus und der Backofen.
Die Wirtschafts- und Sozialgeografin Schubert kam nach Abschlüssen in
Osnabrück und Budapest nach Ostsachsen zurück. Sie, die überzeugte
Katholikin, bezeichnet sich als Lokalpatriotin.
„Es gibt so ein paar Annahmen, vielleicht auch innerhalb der Bündnisgrünen,
die nicht zum Alltag der Menschen passen“, überlegt sie. „Wir sind als
Bündnisgrüne beispielsweise manchmal recht unfreundlich gegen
Wohneigentümer.“ Hausbesitz werde schnell mit Reichtum gleichgesetzt.
[8][Dabei sind Wohnhäuser im ländlichen Raum Ostdeutschlands
Lebensgrundlage und Altersvorsorge in einem], Kredite vor der Rente oft
nicht abbezahlt.
## Vorangehen, vorangehen
Fragen der energetischen Sanierung könnten da eben nicht nur technisch
abgehandelt werden. Es gehe da schnell um Investitionen im sechsstelligen
Bereich. Leute mit einem Einkommen, „die das so ohne weiteres stemmen
können, die sehe ich im Osten nicht an jeder zweiten Hausecke“. Schubert
hat das neunzig Jahre alte Haus ihrer Großeltern übernommen. Wenn
Hausbesitzer zu ihr kommen, ahnt sie, was falsch läuft. „Gerade die Älteren
haben eine Heidenangst, dass es kalt wird.“ Wer in so einem Moment über
Wärmepumpen doziert, mag technisch auf der Höhe sein, sozial eher nicht.
Lösungen zaubert man nicht aus dem Hut. Das ist die Realität, und die
Vorreiterrolle, die die Grünen beanspruchen, hat auch noch ihre Tücken.
„Manchmal ist es bei uns Bündnisgrünen so, dass wir vorangehen, vorangehen,
vorangehen und dabei vergessen, uns umzudrehen und zu schauen, ob die Leute
mitkommen.“
Eigentlich wollte Franziska Schubert das Gespräch in ihrem Görlitzer Büro
führen, dort, wo schon die Eingangstür von der Mühsal grüner Politik
erzählt. Ihr Kalender, voll mit Terminen, hat das verhindert. Schubert
blickt aus dem Fenster. An dem Parlamentsgebäude fließt die Elbe vorbei. Im
Sommer sieht man in dem Fluss, einst nicht viel mehr als eine Kloake, immer
wieder Menschen baden. Nicht nur für Grüne ein Lichtblick im tiefsten
Osten.
Dabei sind in allen ostdeutschen Ländern die Bündnisgrünen seit Jahren im
Parlament vertreten, in drei Landesregierungen stellen sie Minister und
Staatssekretäre. Schlecht ist diese Bilanz nicht. Vor zwanzig Jahren war
sie desaströs. Die Grünen waren damals aus den Parlamenten aller
ostdeutschen Flächenländer geflogen, die ökologischen Erneuerer
gescheitert.
## Grüne haben es schwer, mit ihren Ideen durchzudringen
Paul Dörfler kennt diese Enttäuschung – und hat sie hinter sich gelassen.
Dörfler führt durch den Garten hinter seinem Häuschen im Dörfchen Steckby
an der Elbe. Der Garten ist ein Mix aus Streuobstwiese und Urwald,
mittendrin Tisch und Bank.
„Schau mal da, Bienenfresser!“ ruft er. „Die fangen sich jetzt die
Insekten, die aufsteigen, und fressen sich voll für ihre Reise in den
Süden.“ Er deutet auf die farbenprächtigen Vögel, die direkt über seinen
Kopf jagen. Eigentlich liegt ihre Heimat weiter im Süden. Doch seitdem es
nördlich der Alpen stetig wärmer wird, fühlen sie sich auch hier wohl,
besonders in Braunkohleregionen. [9][Sachsen-Anhalt] ist einer ihrer
Favoriten. Die Bruchkanten für ihre Nistkolonien finden sie in Tagebauen.
Dörfler hat ein ganzes Buch, „Nestwärme“, über Vögel geschrieben, über…
Verhalten, ihre Lebensweise, es stand lange auf Bestsellerlisten. Gerühmt
wird Dörflers Beobachtungsgabe, und das betrifft nicht nur die Vogelwelt.
Dörfler kennt auch die Grünen in allen Ausprägungen – die vielen, die den
kräftigen Westzweig bilden, die eigensinnigen Bürgerrechtler vom Schlage
einer Vera Lengsfeld oder eines Werner Schulz, und die eher wenigen Grünen,
die aus der DDR kommen, kennt Dörfler natürlich auch. Und er kennt auch den
Menschenschlag, der es der Öko-Partei so schwer macht, mit ihren Ideen
durchzudringen. Dörfler versucht das selbst seit vierzig Jahren.
## Ein Buch gegen die Umweltpolitik der DDR
1986 hat Dörfler zusammen mit seiner Frau Marianne in der DDR das Buch
„Zurück zur Natur?“ veröffentlicht – eine Sensation, da es erstmals die
gewaltigen ökologischen Probleme des Arbeiter- und Bauernstaates
thematisierte und sich heute noch liest wie ein Leitfaden für den
ökologischen Umbau. Erstaunlicherweise im staatlichen Urania-Verlag
erschienen, waren die 15.000 Exemplare binnen dreier Tage verkauft. Populär
war die Einsicht, dass es für das menschliche Handeln planetare Grenzen
gibt, dennoch nicht.
Paul Dörfler hat 1989 die Grüne Partei in der DDR mitgegründet, er war in
der letzten Volkskammer Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Energie
und Reaktorsicherheit und war nach dem 3. Oktober 1990 Abgeordneter der
Grünen in Bonner Bundestag.
Dörfler, ein promovierter Chemiker, war einer der profiliertesten
Umweltexperten, als die SED angesichts der ökologischen Katastrophe, in die
die DDR schlitterte, Umweltdaten noch als Staatsgeheimnis betrachtet hat.
Umweltschützer galten schnell als Staatsfeinde, weil sie die
Fortschrittsgeschichte des Sozialismus in Frage stellten, der
Gesellschaftsordnung, die angetreten war, die gesamte Menschheit zu
beglücken.
Damit war es 1990 vorbei, mit Umweltthemen allerdings auch. Mit dem
„Aufschwung Ost“, dem milliardenschweren Konjunkturhammer der
Kohl-Regierung, [10][waren ökologische Fragen schnell wieder vom Tisch].
Was zählte, waren Autobahnen, Wasserstraßen, Gewerbegebiete – kurzum:
Fortschritt, diesmal im Gewand der Marktwirtschaft.
„Wir haben als Grüne gefragt, hat das Sinn? Ist das nachhaltig?“ erinnert
sich Dörfler. So sollte die weitgehend naturbelassene Elbe als Trasse für
Schubverbände vertieft werden, obwohl sie schon damals nicht mehr genügend
Wasser führte.
## Die Sündenböcke der 90er
Dazu kamen Reizworte von den Grünen wie: Weniger Auto, mehr Bahn! „Wir
waren Staatsfeinde, und wir wurden Wirtschaftsfeinde“, fasst Dörfler
zusammen. „Und als sich die ‚blühenden Landschaften‘ nicht einstellen
wollten, waren wir die Sündenböcke.“ Das wirkt nach. Mit so einer Fama im
Rücken ist [11][Robert Habeck als Wirtschaftsminister ein passendes
Feindbild], besonders bei der Generation 50 plus im Osten.
Vorsichtig nennt Dörfler diese Gruppe „die Sesshaften“. Das Gegenstück si…
die Mobilen, die nach 1990 den Osten verließen und im Westen ihre Chance
suchten. Menschen, die sich wahrscheinlich eher für grüne Themen
interessieren, vermutet Dörfler. Wenn sie Grün wählen, dann heute in
Baden-Württemberg oder Bayern.
Überhaupt könne man in dünn besiedelten Regionen auch ganz gut ohne grüne
Vorstellungen leben. Verkehrslärm? Abgase? Feinstaub? Wenn man nicht gerade
eine Schweinemastanlage vor der Nase hat, könne man Umweltprobleme einfach
ignorieren.
Dabei profitiert auch das Dörfchen Steckby von urgrünen Konzepten wie
nachhaltigem Tourismus. Der Elbe-Radweg, ein 1.280 Kilometer langes Band
entlang der Elbe von ihrer Quelle im Riesengebirge bis nach Cuxhaven, führt
direkt an Dörflers Haus vorbei. St. Nikolai mitten im Ort wurde zur
Radfahrerkirche erhoben und Pensionen werben mit der naturbelassenen
Flusslandschaft, mit Fischadlern, Störchen und Bibern.
## Eine Mehrheit, die den Klimawandel komplett ignoriert
Dörfler, der Umweltpionier, hielt es nicht lange im Bundestag aus. Er trat
zur Wahl im Dezember 1990 nicht wieder an. Dörfler hat gelitten, er zählt
auf: die endlosen Sitzungen, die klimatisierten Räume, das künstliche
Licht, falsche Ernährung und kein Draht mehr zur Natur. „Irgendwann nimmt
dein Körper die Form eines Stuhls an.“
Allerdings war Dörfler auch politisch ernüchtert. Er packt einen
Tausend-Seiten-Wälzer auf den Tisch, ein geradezu historisches Konvolut vom
Oktober 1990 zum Thema „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“,
[12][verfasst von der gleichnamigen Enquete-Kommission des Bundestages],
sein Appell: Sofort den Klimawandel bekämpfen, den CO2-Ausstoß verringern
und die Energiewende anpacken! „Die Mehrheit hat das komplett ignoriert.“
Dörfler ist Autor geworden. Mit seiner jüngsten Veröffentlichung „Aufs
Land“ schließt sich der Kreis, der 1986 in der DDR mit „Zurück zur Natur?…
begann. Es ist ein Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben auf dem Land,
für ein Ende von Konsumzwang und Fremdbestimmung. Vor allem aber wirbt es
für eine Versöhnung zwischen den urbanen Zentren und der Peripherie –
vielleicht ist auch das ein versteckter Wink an die Grünen.
Dörfler ist 73 Jahre alt. Er wirkt wie ein weißhaariger Naturbursche. Zum
Abschied zückt er ein Taschenmesser und schneidet eine Zucchini ab. Der
Abstand zum politischen Geschäft hat ihm sichtlich gutgetan.
## Die Ur-Grünen in Ostdeutschland
Das kann man von Lukas Beckmann auch sagen. Beckmann, ebenfalls 73, hat
sich für die Grünen zuvor jahrzehntelang krumm gemacht. Er hat die Partei
mitgegründet und -aufgebaut. Er war Bundesgeschäftsführer,
Vorstandssprecher und Fraktionsgeschäftsführer, um nur einige Ämter zu
nennen, jetzt schließt er das Herrenhaus von Zernikow in Brandenburg auf.
2017 hat sich Lukas Beckmann mit seiner Frau hier niedergelassen. Er und
Ingrid Hüchtker gehören damit zu den Ost-Grünen, zwei von etwa 10.000
Mitgliedern, die die Partei in den ostdeutschen Flächenländern hat.
Neben Beckmann und seiner Frau, die sich in der hiesigen Gemeindevertretung
engagiert, haben sich zwei Kommunalpolitiker eingefunden, Uwe Mietrasch und
Reiner Merker, beide Endvierziger, die sich hier in Brandenburg wacker für
grüne Ideen schlagen. Beckmanns Ankunft hat den Grünen zwischen Oranienburg
und Rheinsberg einen Neuanfang beschert.
Lukas Beckmann inspiriert und motiviert wie vor Jahrzehnten. Und kaum einer
überblickt die Geschichte der Grünen so wie der Bauernsohn aus der
Grafschaft Bentheim ganz im Westen. 1979 – Habeck war ein Kind, Baerbock
noch gar nicht geboren – da hat Beckmann mit Petra Kelly, Joseph Beuys und
Rudi Dutschke Europa-Wahlkampf betrieben.
Nach 1990 hat er die Vereinigung der Grünen mit Bündnis 90 vorangetrieben.
Er kannte DDR-Bürgerrechtler und Oppositionelle der Charta 77 aus der CSSR,
Paul Dörfler hat bei ihm in Bonn übernachtet. Kurzum – Beckmann hat alles
getan, damit die Bündnisgrünen zu einer länderübergreifenden, europäischen
Kraft werden.
## Gendern im Osten
Und jetzt sagt Reiner Merker, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kreistag
von Oberhavel: „Es gibt keine Partei im Parteienspektrum, die so sehr
Westpartei ist wie die Grünen.“
Merker führt das gleich aus. Es seien nicht nur ganz oft die Zugezogenen,
die sich politisch engagieren, sie kommen eben oft auch aus dem Westen.
Merker selbst stammt aus Thüringen und sein Nachbar Uwe Mietrasch wuchs in
Schwedt an der Oder auf. Aber sonst? Seine Fraktion hat sieben Mitglieder,
sagt Merker, nur zwei davon sind aus Ostdeutschland, einer von ihnen ist
nach 1990 geboren.
Merker, Landwirt und Obstbaumspezialist, ist der einzige hier, der die
Sprache mit ihren versteckten Anspielungen, die die DDR geprägt hat,
versteht. Die Sprache grüner Programmatik hingegen ist
westdeutsch-akademisch. „Nehmen wir das Gendern“, sagt Merker. Es stamme
aus dem feministischen Diskurs und sei ein folgerichtiger Schritt, die
Gesellschaft zu sensibilisieren – für Westdeutschland.
[13][In Ostdeutschland mit der Erinnerung von der Gleichberechtigung der
Frau], ob propagiert oder tatsächlich gelebt, halten viele eine
geschlechtergerechte Sprache für gegenstandslos. Ihr Argument: Wir hatten
das doch schon. „Dann ist es nicht verständlich, wenn da die Grünen sich
für dieses Thema stark machen.“ Natürlich wird in Merkers Fraktion trotzdem
bei Vorlagen und Reden gegendert – als einzige Fraktion im Kreistag.
Für Ingrid Hüchtker, die 2002 nach einer fulminanten Rede des früheren
Bürgerrechtlers Werner Schulz bei den Grünen eintrat, ein gutes Beispiel,
„wie sehr sich der westdeutsche Feminismus und der ostdeutsche
missverstehen“. Überhaupt, sagt Hüchtker, seien die Grünen in der
Lokalpolitik, aber auch in Verwaltung und Wirtschaft schlecht verankert.
„Die meisten Menschen haben gar keinen Kontakt zu Grünen. Deswegen kann man
das so füllen mit irgendwas.“ [14][Im Zweifelsfall auch mit Hass].
Hüchtker, die in Berlin als Lehrerin arbeitet und neben dem Engagement in
der Gemeindevertretung auch Sprecherin des Ortsverbandes Gransee ist,
stammt aus Münster.
## Die Grünen, eine geschichtslose Partei
[15][Reiner Merker erinnert daran, dass es schon einmal die Grünen in der
Region gab, stark geprägt von Leuten von Bündnis 90]. „Die sind aber alle
ausgetreten.“ – „Was war der Grund?“, fragt Beckmann. „Die
‚Kriegstreiberei‘ der Grünen“, sagt Uwe Mietrasch, „der Jugoslawienkri…
Und später auch Hartz IV. Der Ingenieur war Geschäftsführer von Stadtwerken
in der Region. Jetzt ist Mietrasch selbstständig, hat Zeit für Familie,
Haus und Hof – und für Politik. Er ist für die Grünen in der
Stadtverordnetenversammlung Gransee, Parteimitglied ist er allerdings
nicht.
Lukas Beckmann überlegt. Er sieht vor allem kulturelle Entfremdungen durch
Sprache zwischen Stadt und Land. Es gehe um mehr als Gendern. „Eine Partei,
die immer jugendlicher daherkommt, hat es schwer, Menschen zu überzeugen,
die schon große Transformationen durchlebt haben.“
Ost und West hätten sich zwar vermischt, eines aber sei geblieben. „Die
Grünen sind im öffentlichen Bewusstsein in Ostdeutschland im Kern immer
noch die Westgrünen“, präzisiert er. „Viele Ostdeutsche verzeihen uns
Geschichtslosigkeit nicht. Wir haben zwar für Europa geworben, bis 1989
endete es aber für viele im Westen an der Elbe. [16][Alles, was östlich
war, hat leider zu wenige interessiert].“
Für Beckmann sind Parteien ein zentrales Mittel, Demokratie zu leben und
Freiheit zu ermöglichen. Bei den Grünen aber kommt eine Besonderheit hinzu.
„Du kannst mitfahren, aber die Grünen wissen genau, wo es lang geht“, sagt
er. „Und das ist einfach nicht sehr einladend. Wir isolieren uns dadurch
selbst und ziehen kulturelle Grenzen ein.“
Anruf in Görlitz. „Alles ruhig“, sagt Monique Hänel entspannt, zur Zeit
keine Beschimpfungen, keine Angriffe. Eine gute Nachricht, nicht nur für
die Grünen.
25 Nov 2023
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[14] /Politischer-Diskurs/!5906370
[15] /30-Jahre-Buendnis-90/Die-Gruenen/!5932563
[16] /Baerbock-und-Habeck-im-Osten/!5944802
## AUTOREN
Thomas Gerlach
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