# taz.de -- Bundesumweltministerin Steffi Lemke: „Ich bin dort verwurzelt“ | |
> Steffi Lemke ist die einzige Grüne mit DDR-Hintergrund im Kabinett. Über | |
> den Hass auf ihre Partei und die Frage, ob sie eine Entschuldigung von | |
> Markus Söder will. | |
Bild: „Sagen Sie mal ein Beispiel.“ – „Natürlich nicht.“ Steffi Lemk… | |
wochentaz: Frau Lemke, bezeichnen Sie sich als ostdeutsch? | |
Steffi Lemke: Ich habe eine ostdeutsche Biografie. Ich bin in der | |
ehemaligen DDR geboren und tief durch die friedliche Revolution geprägt. | |
Aber ich würde mich heute in allererster Linie als Umweltministerin | |
bezeichnen. | |
Ist ostdeutsch für Sie noch eine wichtige Kategorie? | |
Für meinen Geschmack schauen wir zu getrennt auf West- und Ostdeutschland. | |
Die ostdeutschen Wahlen sind in diesem Jahr angeblich diejenigen, wo es | |
sich entscheidet. Aber die Frage von Populismus oder Rechtsextremismus | |
stellt sich weit über Ostdeutschland hinaus. | |
Viele Menschen, die nach der Wende geboren worden sind, bezeichnen sich | |
trotzdem als ostdeutsch. Woran liegt das? | |
Mein Sohn ist in Dessau groß geworden und würde sich nicht als Ostdeutscher | |
bezeichnen. Aber viele, die den größten Teil des Lebens in den 90er- und | |
Nullerjahren in den neuen Bundesländern verbracht haben, werden sich | |
vielleicht noch eher ostdeutsch nennen. Aber in den jüngeren Generationen | |
verliert sich das. | |
Es gibt immer noch relevante ökonomische Unterschiede zwischen Ost und | |
West: bei Lohnniveau, Rente, Vermögen. Wenn 90 Prozent des Wohneigentums in | |
Leipzig Westdeutschen gehört, ist etwas schief gelaufen. | |
Natürlich, da ist vieles schief gelaufen. So, wie die deutsch-deutsche | |
Vereinigung stattgefunden hat, darf sich ein Transformationsprozess nicht | |
wiederholen. Für viele, die später geboren sind oder nicht aus dem Osten | |
kommen, ist es extrem schwer nachvollziehbar, was sich dort nach der Wende | |
abgespielt hat. In den Neunzigern ist aus meiner Generation die Mehrheit in | |
die alten Bundesländer abgewandert. Dass die Jungen, Flexiblen, die, die | |
mit Mut in die Welt aufbrechen, flächendeckend weggehen, während zu Hause | |
die Industrie abgewickelt wird, hat viele Menschen damals schier | |
verzweifeln lassen. Die Euphorie der Wende ist in sich zusammengebrochen. | |
Das erklärt, glaube ich, auch zum Teil die Instabilität des politischen | |
Systems in Ostdeutschland. | |
Sie wohnen noch immer in Dessau. Wollten Sie nie weg? | |
Ich pendele seit langem zwischen Dessau und Berlin. Ich wollte nie weg, ich | |
bin dort verwurzelt. | |
Die Grünen gelten als Westpartei, sind im Osten unbeliebt, Robert Habeck | |
und Annalena Baerbock sind für manche [1][Hassfiguren.] Woran liegt das? | |
Solchen Hass habe ich bereits in den 90er Jahren erlebt. Der ist nie weg | |
gewesen. Die Bürgerrechtsparteien sind damals für die | |
Massenarbeitslosigkeit und die Abwicklung der Industrie mitverantwortlich | |
gemacht worden, weil wir die friedliche Revolution vorangetrieben haben. | |
Und heute? | |
Heute werden die Grünen wohl wahrgenommen als die, die manchmal nerven, die | |
zu viel wollen. Die darauf drängen, dass die Klimakrise weiter bekämpft | |
wird, obwohl viele nach Corona, Krieg und Inflation einfach ihre Ruhe haben | |
wollen. | |
Sie schaffen es nicht, die Leute mitzunehmen. | |
Wir müssen stärker in den Blick nehmen, dass nicht alle Menschen dieses | |
Veränderungstempo teilen, es mitgehen können oder wollen, auch wenn die | |
Klimakrise und die anderen Krisen das eigentlich erfordern. | |
Das heißt, um mal mit dem Heizungsgesetz das prägnanteste Beispiel zu | |
nehmen: Robert Habeck wollte zu schnell zu viel. | |
Beim Heizungsgesetz hat es handwerkliche Fehler gegeben. Es ist relevant | |
verändert und damit auch im Zeithorizont angepasst worden, ja. | |
Trifft Sie der Hass auf die Grünen auch persönlich? | |
Ja, aber das Problem betrifft vor allem die Menschen, die sich ehrenamtlich | |
engagieren. Im bayerischen Landtagswahlkampf kam es mehrmals zu | |
Beschimpfungen bis hin zu tätlichen Angriffen auf Stände. Ich schaue auf | |
die Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern und bin wirklich sehr, | |
sehr besorgt, dass der Hass auf die Grünen gezielt weiter geschürt wird. | |
Ich persönlich aber habe in den vergangenen Tagen viel Unterstützung | |
erfahren. | |
Dank Markus Söder, der Sie mit [2][Margot Honecker] verglichen hat? | |
Ja, tatsächlich. Das war eine geschichtsvergessene Entgleisung. Und dass | |
Herr Söder als Ministerpräsident mit diesem Vergleich ein Mitglied der | |
Bundesregierung diffamiert, ist ein schädlicher Umgang im demokratischen | |
Diskurs. | |
Erwarten Sie eine Entschuldigung? | |
Von Herrn Söder erwarte ich keine Entschuldigung. Mir wäre auch tausend Mal | |
lieber, dass er begreift, was es für ein Problem ist, wenn er als | |
Ministerpräsident dazu beiträgt, die demokratischen Institutionen zu | |
delegitimieren und zu verunglimpfen. | |
Sie haben betont, wie stark Sie die friedliche Revolution geprägt hat. | |
Heute steht die FDP für Freiheit und die Leute sehen die Grünen als | |
Verbotspartei. | |
Freiheit ist für mich persönlich wie für unsere Demokratie zentral. Ich | |
habe wie Tausende andere auch viel aufs Spiel gesetzt, als ich 1989 gegen | |
staatliche Bevormundung auf die Straße gegangen bin. | |
Das beantwortet aber die Frage nach der Wahrnehmung der Grünen nicht. | |
Dass wir als Verbotspartei wahrgenommen werden, hat zum einen damit zu tun, | |
dass wir Probleme, die der Markt nicht regelt, regeln wollen. Dazu braucht | |
es Gesetze, die manchmal mit Verboten gleichgesetzt werden. Und zum anderen | |
erwecken wir manchmal den Eindruck, es immer besser zu wissen. Bei manchen | |
Grünen ist ja tatsächlich eine oberlehrerhafte Attitüde zu verzeichnen. | |
Sagen Sie mal ein Beispiel. | |
Natürlich nicht. | |
Im vergangenen Jahr hat Ihre Partei in Leipzig die 30jährige Vereinigung | |
von Grünen und Bündnis 90 gefeiert und Sie haben dort gesagt: „Ich habe zum | |
ersten Mal das Gefühl, auf so einer Feier zu sein, die relevant und | |
politisch gewollt ist.“ Das heißt: Solche Feiern musste man machen, wollte | |
man aber nicht. | |
Der Westen hat sich, nicht nur bei den Grünen, lange Zeit für den Osten | |
nicht wirklich interessiert. Es gab sehr viel Unverständnis. Der Wille, das | |
andere Land zu erkunden, fehlte. Ich hatte als Generalsekretärin häufig | |
solche Veranstaltungen zu organisieren und weiß, wie mühsam das war. | |
Sind die Grünen mitverantwortlich für die hohen Zustimmungswerte für die | |
AfD? | |
Natürlich sind wir als Bestandteil der Ampel mitverantwortlich für die | |
Stimmung in unserem Land. Wir dürfen trotzdem nicht den Fehler machen, | |
Populismus oder Rechtsextremismus einer einzelnen Partei oder gar einem | |
einzelnen Gesetz zuzuschreiben. Damit würden wir die Gefahr des | |
Rechtsextremismus verharmlosen. | |
Studien zeigen, dass weniger als die Hälfte der Ostdeutschen mit der | |
Demokratie im Alltag zufrieden sind. Gibt es dort ein relevantes Problem | |
mit der Demokratie? | |
Das Verhältnis zum Staat ist für viele Menschen in Ostdeutschland noch | |
durch die DDR geprägt. Sehr viele sahen den Staat distanziert bis | |
ablehnend. Was daran lag, dass staatliche Institutionen nicht für die | |
Menschen gearbeitet haben. | |
Das empfinden manche jetzt wieder so. | |
Dieser Parallele widerspreche ich entschieden. Es ist ein fundamentaler | |
Unterschied, in einer Diktatur mit Stasisystem zu leben, oder in einer | |
Demokratie, in der vielleicht nicht alles so funktioniert wie es sollte. | |
Das wird von Rechtsextremisten ausgenutzt, die sich vor allem in den neuen | |
Bundesländern angesiedelt haben. | |
Sind die Ostdeutschen anfälliger für die autoritäre Verführung? | |
Diese These, dass die Ostdeutschen anfälliger sind, weil sie angeblich als | |
Untertan erzogen wurden, fand ich schon immer falsch. Träfe das zu, hätte | |
es keine Friedliche Revolution gegeben. Da haben Hunderttausende über | |
Wochen für Freiheit und Demokratie demonstriert. | |
Aber die AfD hat im Osten doppelt so hohe Zustimmungswerte wie im Westen. | |
Das ist aber nicht neu. Die DVU mit ihrem westdeutschen rechtsextremen | |
Verleger Gerhard Frey an der Spitze hatte schon 1998 in Sachsen-Anhalt bei | |
der Landtagswahl 12,9 Prozent. | |
Der Politik hat darauf keine adäquate Antwort gefunden. | |
Es ist ein schwerer Fehler gewesen, dass die Politik Rechtsextremismus in | |
den 90ern, den sogenannten Baseballschlägerjahren, nicht entschieden genug | |
bekämpft hat. Da wurde viel zu lange weg geschaut. Dadurch bekamen | |
Rechtsextreme den Eindruck, sie kommen ungeschoren davon. | |
Können [3][Demos gegen Rechtsextremismus] daran etwas ändern? | |
Es ist zum ersten Mal wieder sichtbar geworden, dass hunderttausende | |
Menschen für Demokratie, für Freiheit und Rechtsstaat eintreten. Auch in | |
kleinen und mittleren Städten gehen Menschen auf die Straße. In Bitterfeld | |
oder Apolda erfordert das vielleicht auch mehr Mut als in Köln oder Berlin. | |
Aber wirken diese Demos über den Tag hinaus? | |
Sie zeigen, dass die Rechtsextremen nicht die Mitte der Gesellschaft | |
repräsentieren. Es gibt Gegenwehr, die lange gefehlt hat. Es ist wahnsinnig | |
wichtig, die Strukturen der Zivilgesellschaft zu stärken, gerade in den | |
Regionen, wo sie dabei sind zu zerbröseln. | |
Das sollte eigentlich mit dem [4][Demokratiefördergesetz] passieren, aber | |
die FDP blockiert. | |
Es ist ein wirklich ein Problem, dass versucht wird, dieses Gesetz zu | |
diffamieren. Ich war gerade bei der Freiwilligenagentur in Halle, die | |
dringend darauf wartet und genau diese zivilen Strukturen auch im | |
ländlichen Raum unterstützt, die wir so dringend brauchen. Politik muss | |
sich schützend vor das stellen, was Zivilgesellschaft erst ermöglicht. | |
Viele Politiker*innen gehen auf die Demos, manche sprechen dort. | |
Drohen die Proteste durch die Politik vereinnahmt zu werden? | |
Ich demonstriere seit vielen Jahren gegen Rechtsextremismus, es wäre | |
absurd, das jetzt zu lassen. Ich habe in Dessau gesprochen, weil ich vom | |
Veranstalter darum gebeten wurde. | |
Vom Verhalten der CDU wird bei den Landtagswahlen viel abhängen. Wie | |
blicken Sie auf die CDU in Ostdeutschland? | |
Wenn der Kompass glasklar sagt, dass mit rechtsextremen Parteien keine | |
Kooperation möglich ist, dann ist das gut. Die CDU ist in Ostdeutschland in | |
einer extrem schwierigen Situation, und das sage ich nicht mit Häme. Für | |
alle demokratischen Parteien gilt es in diesem Jahr, Wähler und Wählerinnen | |
für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat zu gewinnen. Ein Sieg | |
rechtsextremer Parteien würde die Zivilgesellschaft demolieren. Ich weiß, | |
wie es sich anfühlt, wenn man tatsächlich nicht sagen kann, was man denkt. | |
Die Wahlen in diesem Jahr sind auch ein Kampf um die Demokratie. | |
25 Feb 2024 | |
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