| # taz.de -- Bund-Länder-Treffen zu Asylpolitik: Geiz statt Reiz | |
| > Die Länder und der Bund haben sich im Streit über Migrationspolitik | |
| > geeinigt. Ihre Beschlüsse sollen vor allem Kosten sparen und Flüchtende | |
| > abschrecken. | |
| Bild: Rostock, März 2022: Ein junger Mann mit einem Kleinkind wartet an der Me… | |
| Berlin taz | Weit nach 2 Uhr war es am Dienstagmorgen, als Bundeskanzler | |
| Olaf Scholz mit den beiden Ministerpräsidenten Boris Rhein und Stefan Weil | |
| vor die Presse trat. Stundenlang hatten sich die Verhandlungen der | |
| Ministerpräsidentenkonferenz hingezogen. Nun aber liegt eine Einigung auf | |
| dem Tisch: Mehr Geld für die Kommunen zur Unterbringung und Versorgung | |
| Geflüchteter – und deutliche Kürzungen und noch mehr Restriktion für | |
| Geflüchtete. | |
| Es sei ein „sehr historischer Moment“, konstatierte Scholz zufrieden. | |
| Konkret vereinbart haben Bund und Länder eine Reform der | |
| Flüchtlingsfinanzierung: [1][Statt starrer Pauschalbeträge sollen die | |
| Länder vom Bund ab dem kommenden Jahr eine Pro-Kopf-Pauschale von 7.500 | |
| Euro jährlich bekommen]. Dieses „atmende System“ passt sich also der | |
| tatsächlichen Zahl ankommender Asylsuchender an. Gefordert hatten Länder | |
| und Kommunen eine Pro-Kopf-Pauschale von 10.500 Euro, der Bund hatte | |
| eigentlich nur rund 5.000 Euro geben wollen. | |
| Um die [2][Kommunen] weiter zu entlasten, soll gespart werden – und zwar | |
| bei den Geflüchteten selbst. Asylbewerber*innen und Geduldete bekommen | |
| in Deutschland nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ohnehin schon rund 18 | |
| Prozent weniger Sozialhilfe als Deutsche. Auch die Gesundheitsversorgung | |
| ist deutlich eingeschränkt. Erst nach 18 Monaten werden die Leistungen | |
| weitestgehend angeglichen. Dieser Zeitraum soll nun von anderthalb auf drei | |
| Jahre ausgeweitet werden. Auch anerkannte Schutzsuchende und | |
| Ukrainer*innen sollen gekürzte Leistungen bekommen, wenn sie in | |
| Gemeinschaftsunterkünften leben, in denen etwa die Verpflegung gestellt | |
| wird. | |
| Kommen sollen auch die von Union und FDP lautstark geforderten bundesweit | |
| einheitlichen „Bezahlkarten“ statt Bargeld für Menschen im Asylverfahren | |
| oder Geduldete. Eine Arbeitsgruppe soll bis Ende Januar 2024 ein Modell für | |
| ein solches Bezahlsystem erarbeiten. | |
| ## Asylverfahren in Drittstaaten | |
| Asylverfahren sollen schneller, die umstrittene Reform des europäischen | |
| Asylrechts soll vorangetrieben und es soll mehr abgeschoben werden. Die | |
| deutschen Grenzen zu Österreich, [3][Polen], Tschechien und der Schweiz | |
| würden über „lange Zeit hinweg“ weiter kontrolliert werden, sagt Scholz, … | |
| liebsten schon auf dem Gebiet der Nachbarstaaten selbst. Die | |
| Digitalisierung in den Ausländerbehörden soll vorankommen, ebenso wie | |
| Migrationsabkommen mit den Herkunftsstaaten und die bereits angeschobene | |
| Aufweichung bei Arbeitsverboten. | |
| Der Beginn der Verhandlungen mit Scholz hatte sich am Montag enorm | |
| verzögert, weil die Ministerpräsident*innen untereinander in einem | |
| Punkt nicht einig wurden: bei der Auslagerung von Asylverfahren in | |
| Drittstaaten. Die unionsgeführten Länder beharrten auf diesem Punkt, | |
| unterstützt von Baden-Württembergs grünem Ministerpräsidenten Winfried | |
| Kretschmann. Auch die FDP ist dafür, ebenso wie einige wenige | |
| SPD-Bundestagsabgeordnete. Im MPK-Beschluss heißt es nun etwas weicher – | |
| und im Einklang mit dem Koalitionsvertrag: die Bundesregierung werde das | |
| Vorhaben „prüfen“. | |
| In der Vorwoche hatten Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) | |
| Asylverfahren in Drittstaaten noch eine Absage erteilt. Vieles, was gerade | |
| öffentlich diskutiert werde, sei unter anderem mit EU-Recht „nicht | |
| vereinbar“ und auch „praktisch sehr schwierig“, sagte Scholz nun. Die | |
| Debatte aber liege „in der Luft, und es wäre doch ganz absurd, sich damit | |
| nicht zu befassen“. | |
| Vorbild sind etwa Pläne Großbritanniens, [4][Asylverfahren in Ruanda | |
| durchführen zu lassen]. Bremen, Niedersachsen und Thüringen wiesen in einer | |
| Protokollerklärung darauf hin, dass Asylverfahren außerhalb der EU aus | |
| ihrer Sicht nur in Ländern infrage kommen, in die Schutzsuchende sich | |
| „freiwillig begeben haben“. Man könne sich „schwer vorstellen“, dass | |
| Menschen „gegen ihren Willen in irgendeinen Teil der Welt verbracht“ | |
| würden, erklärte Niedersachsens Regierungschef Stefan Weil am | |
| Dienstagmorgen. Doch auch bei Transitstaaten müsse erst ein Land gefunden | |
| werden, das dazu bereit sei. Die Beschlüsse sind den Forderungen der Union | |
| weit entgegengekommen. So hat Scholz kurzerhand ein Versprechen aus dem | |
| Koalitionsvertrag einkassiert: Es soll nun doch keinerlei Verbesserungen | |
| bei der Familienzusammenführung für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz | |
| geben. Doch CDU und CSU sind offenbar keineswegs zum Burgfrieden bereit. | |
| Das Beschlossene sei nur „ein Schritt in die richtige Richtung“, dem | |
| weitere folgen müssten, erklärte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein. | |
| „Wir müssen die irreguläre Migration stoppen.“ In einer Protokollerkläru… | |
| der Freistaaten Bayern und Sachsen heißt es, die Maßnahmen seien bloßes | |
| „Klein-Klein“. Stattdessen brauche es unter anderem eine | |
| „Integrationsobergrenze“, das Grundrecht auf Asyl müsse überdacht und | |
| Sonderaufnahmeprogramme – wie das für Afghanistan – müssten eingestellt | |
| werden. | |
| Dass ihre eigenen Ministerpräsidenten mit am Verhandlungstisch saßen, war | |
| für die Union kein Hindernis, die Einigung bereits wenige Stunden später | |
| fundamental auseinanderzunehmen. „Die MPK hat kein ausreichendes Ergebnis | |
| gebracht“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Dienstag in | |
| Berlin. Er kritisierte die Einigung bei der Finanzierung als „ernüchternd“, | |
| begrüßte es aber grundsätzlich, dass Bund und Länder hier eine gemeinsame | |
| Position gefunden hätten. | |
| Auch CDU-Parteichef Friedrich Merz gehen die Ergebnisse nicht weit genug. | |
| Schnell gehen soll es trotzdem: „Ich erwarte von der Bundesregierung, dass | |
| diese Beschlüsse noch vor dem Jahresende im Bundestag beschlossen werden“, | |
| so Merz. Eine zumindest punktuelle Zusammenarbeit mit der | |
| Regierungskoalition kündigte der Parlamentarische Geschäftsführer der | |
| Unionsfraktion, Thorsten Frei, an: Die Ausweitung der | |
| Asylbewerberleistungen werde man „im Bundestag unterstützen“, so Frei. | |
| Die FDP ist zufrieden mit dem MPK-Beschluss. Ihr Erster Parlamentarischer | |
| Geschäftsführer Johannes Vogel sprach von „mehr Realpolitik“ bei der | |
| Regelung von Migration. In einem Hintergrundpapier aus Kreisen des | |
| FDP-geführten Finanzministeriums wurde nicht an Eigenlob gespart. | |
| „Geldleistungen dürfen nicht als Pull-Faktor wirken“, heißt es in dem | |
| Papier, das der taz vorliegt. „Deshalb ist es ein großer Erfolg, dass die | |
| von Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundesjustizminister Marco | |
| Buschmann vorgeschlagene Einschränkung beim Asylbewerberleistungsgesetz | |
| beschlossen worden ist.“ Nach Berechnungen des Finanzministeriums würden | |
| Länder und Kommunen dadurch 1 Milliarde Euro pro Jahr einsparen. | |
| Die SPD-Bundestagsabgeordneten diskutierten die Beschlüsse am | |
| Dienstagnachmittag mit Olaf Scholz auf ihrer Fraktionssitzung. | |
| Fraktionschef Rolf Mützenich bezeichnete sie vorab als gut und wegweisend. | |
| Asylverfahren in sichere Drittstaaten auszulagern halten viele in der SPD | |
| jedoch für Unfug. „Rechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsmonitoring | |
| werden dadurch erschwert“, meinte etwa Hakan Demir. Andere glauben, dass | |
| man mit dem Prüfauftrag dem Koalitionsvertrag Genüge getan und das Thema | |
| zugleich politisch begraben habe. | |
| Demir kritisierte das fehlende Bekenntnis zum Familiennachzug. „Wir wollen | |
| nicht, dass Menschen auf Schleuser zurückgreifen oder Familien | |
| auseinandergerissen werden, weil der Nachzug rechtlich erschwert wird.“ | |
| Die Sprecherin der AG Migration, Rasha Nasr, lobte die Lösungen im Bereich | |
| der Finanzierung. Sie kritisierte aber, dass es wieder mal fast nur ums | |
| Geld gegangen sei. „Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deshalb ist es | |
| mehr als ernüchternd, dass man sich in der MPK nur in einem Punkt mit der | |
| Integration zu uns geflüchteter Menschen auseinandergesetzt hat.“ | |
| ## Dissens bei Grünen | |
| Bei den Grünen ist die Stimmung durchwachsen. Parteichef Omid Nouripour | |
| betonte, es gebe nun „deutlich mehr Planungssicherheit und deutlich mehr | |
| Geld“ für die Kommunen. Das sei „ein großer Schritt nach vorne“, sagte … | |
| in der ARD. Nun gelte es, „Ruhe“ in die Debatte zu bringen. Das findet auch | |
| Fraktionschefin Katharina Dröge. Asylverfahren in Drittstaaten zu prüfen | |
| stehe bereits im Koalitionsvertrag, so Dröge. Aber: „Wir Grünen haben da | |
| eine sehr klare Haltung zu.“ Soll heißen: Die Grünen (außer in | |
| Baden-Württemberg) lehnen das eigentlich ab. | |
| Den Bundestagsabgeordneten Kassem Taher Saleh, der selbst als Geflüchteter | |
| aus dem Irak nach Deutschland kam, ärgern besonders die Bezahlkarten. | |
| „Populistisches Blendwerk“ sei das, sagte Saleh der taz. „Die Bezahlkarten | |
| führen dazu, dass ohnehin prekär lebende Geflüchtete noch stärker in die | |
| Armutsfalle gedrängt werden.“ Mit der Karte könne man nur Neuware kaufen, | |
| nicht aber billigere Secondhand-Produkte. | |
| Die Grüne Jugend, ohnehin wegen migrationspolitischen Zugeständnissen der | |
| eigenen Partei auf der Zinne, ist „wütend“: „Die finanzielle Unterstütz… | |
| für die Kommunen reicht nicht aus, die Verschärfungen sind unnötig und | |
| unmenschlich“, sagte Katharina Stolla, eine der beiden Vorsitzenden, der | |
| taz. „Asylverfahren in Drittstaaten durchzuführen ist außerdem weder | |
| realistisch noch mit dem Grundrecht auf Asyl vereinbar.“ Dass Kretschmann | |
| und andere grün mitregierte Länder das mittragen, sei „falsch“. | |
| Die fluchtpolitische Sprecherin der Linkspartei, Clara Bünger, nennt die | |
| Beschlüsse einen „Horrorkatalog“. Dass Scholz diesen das „Ergebnis einer | |
| historisch guten Zusammenarbeit“ nenne, sei bezeichnend: „Es ist längst | |
| Konsens aller Parteien von Grünen bis AfD, Geflüchtete zu bekämpfen, statt | |
| die Kommunen zu befähigen, Schutzsuchende angemessen aufzunehmen und zu | |
| versorgen“, so Bünger. | |
| Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnete die Beschlüsse als | |
| „beschämend“. Es gebe keine Belege dafür, dass gekürzte Leistungen Mensc… | |
| von der Flucht nach Deutschland abhalten würden. Vielmehr würden Menschen | |
| dadurch „gedemütigt und entwürdigt“ und Integration werde massiv behinder… | |
| Der Deutsche Städtetag begrüßte die Einführung des „atmenden Systems“ �… | |
| bezweifelte aber, dass die 7.500 Euro pro Kopf ausreichen. Auch gelte sie | |
| nur für neu Ankommende. „Die dringend notwendigen Integrationsleistungen | |
| vor Ort, gerade für bereits hier lebende Geflüchtete, sind weiter nicht | |
| berücksichtigt.“ | |
| 7 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bund-Laender-Kompromiss-zu-Asylpolitik/!5971716 | |
| [2] /Vor-dem-Bund-Laender-Gipfel-zu-Migration/!5968246 | |
| [3] /Grenzkontrollen-zu-Polen/!5964090 | |
| [4] /Britisches-Gericht-kippt-Deal/!5944255 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
| Cem-Odos Güler | |
| Anna Lehmann | |
| Jasmin Kalarickal | |
| Sabine am Orde | |
| ## TAGS | |
| Ampel-Koalition | |
| Migration | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Asylsuchende | |
| Asylpolitik | |
| GNS | |
| Arbeitsmigration | |
| Deutscher Städtetag | |
| Kolumne Provinzhauptstadt | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Landtagswahl in Hessen | |
| Migration | |
| Olaf Scholz | |
| Migration | |
| Migration | |
| Migration | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Deutscher Städtetag: Klare Perspektiven gefordert | |
| Kommunen fordern parteiübergreifend finanzielle Unterstützung und die | |
| Umsetzung wichtiger Gesetzesvorhaben noch vor der Neuwahl. | |
| Umgang mit Geflüchteten: Toxische Prophezeiungen | |
| Wenn eine neue Flüchtlingsunterkunft entsteht, dann möchten Anwohner, dass | |
| Familien mit Kindern einziehen. Statt dessen kommen junge Männer. Und nun? | |
| Angriffe auf Geflüchtete: Schon jetzt mehr als im Vorjahr | |
| Die Zahl der Übergriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte ist im Jahr | |
| 2023 deutlich gestiegen. Die meisten Täter kommen wohl aus der rechten | |
| Szene. | |
| CDU beendet Schwarz-Grün in Hessen: Rhein schmeißt Grüne raus | |
| Ministerpräsident Rhein (CDU) setzt auf die SPD als Juniorpartner. Der | |
| Grund: Große Schnittmengen bei den Themen Sicherheitspolitik und Migration. | |
| Debatte der Grünen um Migration: Zwischen Humanität und Ordnung | |
| Die grüne Spitze bringt einen Dringlichkeitsantrag zur Migration für den | |
| Parteitag ein. Die Debatte birgt Sprengkraft, ist aber unvermeidbar. | |
| Infrastruktur in Deutschland: Von Plänen und Beschleunigungen | |
| Dass es mit Stromtrassen und Handymasten schneller gehen soll, gefällt der | |
| Union. Doch da endet schon ihr Lob für die Ministerpräsidentenkonferenz. | |
| Ergebnisse des Bund-Länder-Gipfels: Magisches Denken | |
| Von der Union vor sich hergetrieben, haben sich Bund und Länder auf neue | |
| Regeln für Migrant:innen geeinigt. Ein Ende der Debatte ist nicht in | |
| Sicht. | |
| Vor dem Bund-Länder-Gipfel zu Migration: Frust auf dem Dorfe | |
| In Tegernsee leben 200 Geflüchtete notdürftig in einer Turnhalle. Die | |
| Kommune fühlt sich von der Bundespolitik im Stich gelassen. | |
| Verschärfte Abschieberegeln: Neue deutsche Härte | |
| Die Bundesregierung heizt die Diskussion mit verschärften Abschieberegeln | |
| weiter auf – und erntet Kritik. Doch was genau wurde beschlossen? |