| # taz.de -- Medien und Krisen: Apocalypse – not now | |
| > Medien zeigen die Welt oft noch schlimmer, als sie wirklich ist. Welche | |
| > Mechanismen dahinterstecken und wir mit ihnen umgehen können. | |
| Bild: Erstmal abkühlen, bevor die Welt untergeht, Italien während einer Hitze… | |
| Klima, Krieg, der Aufstieg des Rechtsextremismus – vielen Menschen werden | |
| die schlechten Nachrichten zu viel. Sie verlieren den Mut und den Glauben | |
| an eine gestaltbare Zukunft. Das liegt nicht nur an der Krisenballung | |
| selbst, sondern auch daran, wie wir von den Krisen erfahren. | |
| Journalistische Medien spitzen katastrophische Nachrichten noch weiter zu, | |
| und Social-Media-Algorithmen spielen diese immer wieder aus. Statt | |
| informiert fühlen Menschen sich immer öfter überwältigt und entmutigt. Doch | |
| es gibt Ideen, wie sich dies ändern ließe | |
| ## 1. Entdramatisieren statt zuspitzen | |
| [1][Eine Hitzewelle] trieb die Temperatur im Juni 2022 in Südfrankreich auf | |
| 34 Grad – viel zu warm für die Jahreszeit. Dies ließe sich so schreiben, | |
| ohne die Dramatik der Krise kleinzureden. Der Spiegel aber titelte: „In | |
| Bordeaux sind die Schienen 53 Grad heiß“. In der Überschrift stand die | |
| Temperatur des in der Sonne natürlich stark aufgeheizten Metalls – die | |
| Schockwirkung war größer. | |
| Während der Hitzewelle in Indien kurz zuvor schrieben Medien von über „60 | |
| Grad Bodentemperatur“. Die Zahl fand über Twitter ihren Weg in die ganze | |
| Welt. Die aufgeheizte, vertrocknete Erde ist als Vergleichsmaßstab für | |
| Temperaturen eine völlig unübliche Größe. Tatsächlich lag die | |
| Tageshöchsttemperatur während der Hitzewelle im Mai 2022 in Delhi bei 45,0 | |
| Grad. Doch die schockierenden 60 Grad hielten sich in den Schlagzeilen. | |
| Zehn Tage später sagte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne): „60 | |
| Grad Bodentemperatur (…) Das sind doch apokalyptische Zustände.“ | |
| Und als sich die Ozeane 2020 im Schnitt um 0,075 Grad erwärmten, zogen | |
| viele Medien einen Vergleich heran: Die den Ozeanen in 25 Jahren durch den | |
| Klimawandel zusätzlich zugeführte Wärme entspreche der Energie von 3,6 | |
| Milliarden Hiroshima-Bomben. Den Vergleich hatte eine Forscher:in in | |
| einem Interview mit CNN angestellt. In ihrer Studie findet er sich nicht. | |
| Die sich häufenden Extremwetterereignisse sind existenziell bedrohlich. | |
| Gleichzeitig werden sie oft noch dramatischer dargestellt. Das gilt nicht | |
| nur fürs Klima, sondern auch für andere Krisen. Überall ist plötzlich von | |
| Kipppunkten die Rede. Und das macht den Leuten noch mehr Angst. | |
| „Verdammt, die Welt geht wirklich unter“, titelte T-Online im Juli 2019. | |
| Der Autor Raphael Thelen ist mittlerweile bei der Letzten Generation. Die | |
| Aussage ist so nicht haltbar. Und Medienorganisationen wie das | |
| International Journalism Network warnen vor solchen Headlines: „Minimieren | |
| Sie apokalyptische Botschaften, die zu Öko-Angst und Öko-Lähmung führen | |
| können.“ Im Journalismus [2][ist es üblich zuzuspitzen]. Wenn aber die | |
| Fakten schon hochdramatisch sind, entstehen auf diese Weise Depressionen | |
| und Verdrängung. | |
| Dabei geht es auch anders. Während der Guardian mit Verweis auf einen | |
| Bericht der Internationalen Energie-Agentur IAE im Oktober 2022 schrieb: | |
| „Große Studien warnen, dass die Welt kurz vor einem unumkehrbaren | |
| Klimazusammenbruch steht“, stellte der US-Klimaforscher Zeke Hausfather aus | |
| dem gleichen Bericht zwei ganz anders klingende Umstände heraus: Zum ersten | |
| Mal überhaupt sah die IAE ein Plateau bei der Nachfrage nach fossilen | |
| Brennstoffen. Der überfällige Peak sei für 2025 in Sicht. Und: „Politische | |
| und technologische Fortschritte seit 2015 haben den erwarteten | |
| Temperaturanstieg bis zum Jahr 2100 um 1 °C gesenkt.“ Hausfathers | |
| Darstellung ist keineswegs eine Entwarnung. Aber sie macht Hoffnung, ohne | |
| Fakten zu verleugnen. | |
| ## 2. Medien und ihr Hang zur Hysterie | |
| Für die Medien ist es nicht immer leicht, Hoffnung zu verbreiten. Bei ihnen | |
| treffen verschiedene Kommunikationsformen aufeinander, schreibt die | |
| Übermedien-Kolumnistin Samira El Ouassil. [3][Die „medienlogische“ | |
| Kommunikation würde „reichweitenorientiert (und oftmals auch ökonomisch | |
| motiviert)“ kommunizieren]: Medien spitzen zu, damit die Geschichten | |
| gelesen und die Zeitungen verkauft werden. Droht Gefahr, trete die | |
| „Risikokommunikation“ hinzu, um zu mobilisieren. Medien versuchten damit, | |
| „negative Auswirkungen auf die Bevölkerung zu minimieren“ – etwa während | |
| Corona oder beim Klima. El Ouassil spricht von einer „Kippstelle zwischen | |
| Informieren und Auffordern“. | |
| Der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer hat an der Universität in | |
| Frankfurt (Oder) Mediendynamiken bei Migrationsthemen untersucht. Sobald | |
| eine größere Zeitung auf ein zugkräftiges Thema anspringe, kämen andere in | |
| Zugzwang, sagt er. „Wir haben das auf Redaktionssitzungen beobachtet: Man | |
| kann dann nicht mehr nicht darüber berichten, und man kann nicht das | |
| Gleiche berichten.“ | |
| Das Mindeste sei eine „zusätzliche Facette“. Es sei sehr verführerisch, | |
| dass diese aus einer Dramatisierung bestehe. Unter keinen Umständen wollten | |
| Journalist:innen den Anschein erwecken, Sachverhalte zu verharmlosen. | |
| Also werde „immer noch eins drauf dramatisiert“, sagt Schiffauer. In dieser | |
| Logik gefangen, steigerten sich Medien in etwas hinein, was er | |
| „strukturelle Hysterie“ nennt. | |
| Denn alarmistische Töne finden leichter Gehör. Sie werden schneller | |
| verbreitet als ruhige, sachliche Berichte, die auf Fortschritte oder | |
| Handlungsmöglichkeiten hinweisen. „Aufregung, Skandalisierung und Drama | |
| haben sehr stark zugenommen“, schreibt der Kommunikationswissenschaftler | |
| Lutz Hagen. | |
| Dafür sei vor allem in den Printmedien eine [4][massive finanzielle Krise] | |
| mitverantwortlich. Die Zahl der Leser:innen habe sich in den vergangenen | |
| 25 Jahren fast halbiert. Durchsetzen könnten Medien sich am zuverlässigsten | |
| mit „Nachrichtenfaktoren wie Konflikt, Dramatisierung, Negativismus“. Denn | |
| Menschen seien evolutionär so angelegt, dass sie auf diese Reize | |
| automatisch reagieren. Die Verschiebung ins Internet machte Zeitungen | |
| zusätzlich reißerischer, [5][Clickbait nahm zu]. | |
| Wer allerdings den Medien nur vorwirft, Panik zu schüren, macht es sich zu | |
| leicht. Ihr Auftrag ist, Gefahren aufzudecken, zu zeigen, was falsch läuft. | |
| Und würden Medien nicht auf das Schlimme blicken – sie würden sich selbst | |
| überflüssig machen. Eine Klimaberichterstattung, die die dramatischen | |
| Nachrichten über die politischen Versäumnisse nicht in den Mittelpunkt | |
| stellt, wäre verfehlt. Mit der Erfüllung ihres Auftrages aber schaffen | |
| Medien kein maßstabsgerechtes Abbild der Welt, sondern fördern auch eine | |
| negativ verzerrte Weltwahrnehmung. | |
| ## 3. Algorithmen lieben den Weltuntergang | |
| Wer die Klimakrise abtut oder verdrängt, bezieht seine Nachrichten oft aus | |
| Quellen, die genau dies erleichtern. Wer sie fürchtet und das Ende kommen | |
| sieht, sucht unentwegt nach Bestätigung dafür – und findet sie vor allem im | |
| eigenen Social-Media-Feed, der in Zeiten objektiver Krisen einen nicht | |
| enden wollenden Strom schlechter Nachrichten zu bieten hat. Und wer davon | |
| nicht lassen kann, [6][betreibt Doomscrolling] – den endlosen Konsum | |
| negativer Nachrichten in sozialen Medien, der eine Untergangsstimmung | |
| erzeugt. | |
| Menschen seien heute „so dicht dran an nahezu allen Krisenherden der Welt | |
| wie nie zuvor“, schreibt der Journalist Torsten Harmsen. Die Flut von | |
| Nachrichten über alle möglichen Kanäle erzeuge den Eindruck, in der Welt | |
| gäbe es „nur noch Kriege, Morde, Naturkatastrophen, Anschläge und | |
| Krankheiten“. Wo früher das verheerende Erdbeben, das 1755 Lissabon | |
| zerstörte, die Menschen über Jahrzehnte beschäftigt habe und sich in Texten | |
| von Voltaire, Kant und Goethe sowie in der Musik niedergeschlagen hat, wird | |
| heute „die eine Katastrophennachricht von der nächsten überlagert. Und es | |
| ist eine normale und gesunde Reaktion, dabei Beunruhigung und Angst zu | |
| spüren.“ | |
| Sich abzugrenzen, um Überforderung zu vermeiden, ist heute schwieriger denn | |
| je. Bis vor wenigen Jahren erfuhren Menschen über die Welt vor allem das, | |
| was eine relativ kleine Gruppe von Journalist:innen als berichtenswert | |
| einstufte. Heute stehen diese Medienhäuser in den sozialen Medien neben | |
| einer unendlichen Zahl von Blogger:innen, Aktivist:innen, Privatleuten, | |
| NGOs, Unternehmen, staatlichen Stellen. Nutzer:innen können folgen, wem | |
| sie wollen – und entscheiden so viel stärker selbst, was sie zu lesen | |
| angeboten bekommen. Das Maß, in dem sie auf diese Weise ihr Bild von der | |
| Welt steuern können, ist historisch völlig neu. | |
| Und es gibt dabei eine klare Präferenz, welches Bild von der Welt gezeigt | |
| werden soll: Denn Menschen haben eine evolutionsbedingte Neigung, schlimme | |
| Nachrichten bevorzugt wahrzunehmen – ein als „Negativity Bias“ bekanntes | |
| Phänomen. Die in Amsterdam forschende Kommunikationswissenschaftlerin | |
| Corinna Oschatz beschreibt es als die Neigung, „sich stärker mit negativen | |
| Informationen auseinanderzusetzen, sie stärker zu beachten, sie mehr zu | |
| nutzen“. | |
| Dadurch würden sie „relevanter fürs Denken und fürs Handeln als positive | |
| Informationen“. Das Gehirn nimmt sie schneller und intensiver wahr, | |
| verarbeitet sie besser. Und wenn vor allem negative Nachrichten | |
| „wahrgenommen werden und zu stärkeren Reaktionen führen, gibt es natürlich | |
| einen Anreiz, solche negativen Nachrichten zu formulieren“. | |
| Aber die 24-Stunden-Berichterstattung über katastrophale Ereignisse könne | |
| schwerwiegende Auswirkungen auf das psychische und physische Wohlbefinden | |
| der Rezipient:innen haben, sagt Bryan McLaughlin, | |
| Kommunikationswissenschaftler an der Texas Tech University. „Die | |
| Beobachtung dieser Ereignisse in den Nachrichten kann bei manchen Menschen | |
| einen ständigen Alarmzustand auslösen, der die Welt als einen dunklen und | |
| gefährlichen Ort erscheinen lässt.“ Es könne sich ein Teufelskreis | |
| entwickeln, in dem Menschen, anstatt abzuschalten, sich immer mehr in die | |
| Nachrichten hineinziehen ließen. | |
| McLaughlins 2022 veröffentlichte Studie ergab, dass rund einer von sieben | |
| Befragten ein „hohes Maß an problematischem Nachrichtenkonsum“ habe. 74 | |
| Prozent aller Menschen mit einem solchen Nachrichtenkonsum fühlten sich | |
| „ziemlich oft“ oder „sehr oft“ psychisch krank. | |
| An der Universität Essex hat die Verhaltenspsychologin Kathryn Buchanan | |
| diese Mechanismen in Experimenten erforscht. Wer sich häufiger schlechten | |
| Nachrichten aussetzt, leidet mit höherer Wahrscheinlichkeit unter | |
| „Hoffnungslosigkeit, Kummer, Angst und Depression“, fand Buchanan heraus. | |
| Und „der Algorithmus erkennt, womit man sich beschäftigt, und je mehr man | |
| sich mit den negativen Aspekten eines Themas befasst, desto mehr kriegt man | |
| davon“. Ein Kreislauf, in dem letztlich das Denken und [7][die Weltsicht | |
| Algorithmen-gesteuert] auf feste Bahnen verengt werden. | |
| ## 4. Wissen macht demokratisch | |
| Eine Folge des negativen Nachrichtenstrudels sei „erlernte Hilflosigkeit“, | |
| sagt Verhaltenspsychologin Kathryn Buchanan – die aufgrund negativer | |
| Erfahrung entwickelte Überzeugung, die eigene Lebenssituation nicht mehr | |
| verändern zu können. „An dem Punkt, an dem wir glauben, dass wir nichts | |
| dagegen tun können, hören wir auf, uns zu engagieren. Wir hören auf, gute | |
| Bürger zu sein. Wir sind nicht mehr daran interessiert, zu wählen. Wir | |
| haben kein Interesse mehr daran, zu einer Welt beizutragen, die irreparabel | |
| scheint, weil das keinen Unterschied mehr machen würde. Und dann schalten | |
| wir ab.“ | |
| Das Abschalten ist dabei wörtlich zu nehmen. Der jüngste Reuters Digital | |
| News Report von 2022 ergab, dass rund 38 Prozent der Befragten Nachrichten | |
| „oft oder manchmal“ meiden. Fünf Jahre zuvor waren es erst 29 Prozent. In | |
| der Reuters-Folgestudie von 2023, für die 303 Medien-Führungskräfte in 53 | |
| Ländern befragt wurden, ist die „Vermeidung von Nachrichten“ ihre | |
| Hauptsorge. | |
| Die Überforderung durch schlechte Nachrichten sei der Grund dafür, sagt die | |
| Psychologin Buchanan. Menschen könnten mit dem Ausmaß schlechter | |
| Botschaften nicht umgehen – und würden ihren Medienkonsum [8][deshalb aktiv | |
| einschränken] oder ganz vermeiden. Doch wer das tue, lebe fortan in einem | |
| „Vakuum ohne Informationen und ohne Bewusstsein für die wichtigen Dinge, | |
| die in der Welt passieren.“ | |
| Eine „politische Apathie“ und die Abkehr von „positivem sozialem und | |
| umweltorientiertem Handeln“ seien die Folgen. Nachrichten über Katastrophen | |
| lassen unser Gehirn anspringen. Je schlimmer sie sind, desto mehr. Falsch | |
| ist das nicht. Die Katastrophen sind real, die Krisen objektiv bedrohlich, | |
| der Mensch sollte sich ihnen nicht entziehen. Was aber, wenn Überforderung | |
| einsetzt und genau das doch geschieht? | |
| Wer keine Nachrichten mehr lesen wolle und „nicht jünger als sechs Jahre, | |
| entmündigt oder depressiv“ sei, sei „borniert“, sagt der | |
| Spiegel-Nachrichtenchef Stefan Weigel. „Sonst fallen mir keine Gründe ein, | |
| die dafür sprächen, das Weltgeschehen zu ignorieren – nur weil es ihnen | |
| nicht gefällt, zu komplex oder zu anstrengend ist.“ Nachrichtlich | |
| wenigstens halbwegs auf dem Laufenden zu sein, sei das Mindeste, was man | |
| von Bürger:innen einer Demokratie verlangen könne, so Weigels | |
| Überzeugung. | |
| Doch viele Konsument:innen sehen das heute anders. | |
| Angst sei eine heikle Sache, heißt es im Handbuch „Über Klima sprechen“. | |
| „Manche setzen gezielt auf Horrorvisionen, um die Menschen aufzurütteln.“ | |
| Doch wer über angsteinflößende Dinge spreche, [9][solle auch Lösungen | |
| anbieten] – sonst fühle sich das Publikum überfordert. | |
| ## 5. Soziale Medien brauchen Regeln | |
| Die Psychologin Kathryn Buchanan plädiert für ein Gleichgewicht in der | |
| Berichterstattung. „Es ist wichtig zu sagen: Das ist das Problem.“ Aber man | |
| sollte keine „Tragödienpornos“ machen, „sondern sagen: Hier ist, was wir | |
| dagegen tun könnten.“ | |
| Für klassische Medien mag das gangbar sein. Es gibt sinnvolle, gut | |
| durchdachte Handreichungen [10][für die Klimaberichterstattung] wie das | |
| Klimafakten-Handbuch, die genau darauf abzielen. Denkbar ist, dass Teile | |
| davon auch branchenweit akzeptiert werden, wie es ethische Medienstandards | |
| auch für andere Fragen gibt, etwa im Pressekodex. Doch wie will man | |
| Gleichgewicht im völlig amorphen System der sozialen Medien herstellen? | |
| Um eine Vorstellung davon zu entwickeln, hilft ein Blick auf die Geschichte | |
| des Buchdrucks seit der Zeit der Reformation, sagt Jürgen Renn, Direktor am | |
| Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Die durch den | |
| Buchdruck im 16. Jahrhundert plötzlich massenweise verbreiteten | |
| Flugschriften schürten unablässig Endzeiterwartungen. | |
| Jeder Komet, der gesichtet wurde, galt als Vorzeichen – und seine | |
| Entdeckung wurde in immer neuen Flugschriften inklusive dunkler Verheißung | |
| kundgetan. Es dauerte Jahrzehnte, teils Jahrhunderte, bis sich in dieser | |
| Papierwelt Strukturen herausbildeten, die das Wissen jenseits dieser | |
| Pamphlete stabilisierten. Genauso können heute alle in sozialen Medien | |
| schreiben, dass es in Indien 60 Grad heiß ist. | |
| Es gebe in den sozialen Medien oft „keine Möglichkeit zu unterscheiden: Das | |
| ist eine verlässliche Quelle, und das ist nur eine Meinung, die von vielen | |
| geteilt wird“, sagt der Historiker Renn. In der Wissenschaft habe sich die | |
| Peer Review als Begutachtungssystem für Fachzeitschriften herausgebildet: | |
| Arbeiten werden von mehreren Kolleg:innen mit ähnlichen Kompetenzen | |
| bewertet. Dieses Vorgehen sei nicht ideal, aber habe eine gewisse | |
| Selbstkontrolle geschaffen. | |
| „In den sozialen Medien leben wir noch in einer wilden Zeit, die das alles | |
| noch nicht hat.“ Auch deshalb würden diese erwiesenermaßen zur | |
| Polarisierung beitragen, [11][Echokammern und Blasen] hervorbringen. Renn | |
| plädiert dafür, das Potenzial der sozialen Medien „noch mal ganz anders zu | |
| nutzen“. Die Gesellschaft müsse die neuen Medien so gestalten, dass das, | |
| „was wir verbindlich wissen, eine größere Rolle spielen kann“. Denn dass | |
| Facebook, Twitter, Instagram oder TikTok so sind, wie sie sind, sei kein | |
| Naturgesetz. „Das ist so gemacht, und dahinter stecken ökonomische | |
| Interessen.“ | |
| Das gelte es zu ändern – und so zu organisieren, dass Wissen eine viel | |
| zentralere Rolle spiele. Renn denkt etwa an ein öffentlich-rechtliches | |
| Internet. „Europa könnte viel mehr machen, um sicherzustellen, dass unsere | |
| demokratischen Gesellschaften auch über das geteilte Wissen verfügen, das | |
| sie zum Handeln in dieser komplexen Situation brauchen.“ | |
| Eine solche Netz- und Medieninfrastruktur, demokratisch kontrolliert, dem | |
| Renditezwang entzogen und dafür dem Kampf gegen Fake News verpflichtet, | |
| könnte ein Ort sein, an dem es leichter wird zu erfahren, was ist – dies | |
| ist heute erschreckend genug. Mit der Zumutung der Wirklichkeit muss man | |
| leben. Mit einem wettbewerbsgetriebenen Alarmismus, der sich verschärfende | |
| Krisen noch weiter anspitzt, und Social-Media-Echokammern, die Fatalismus | |
| zementieren, nicht. | |
| 15 Oct 2023 | |
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