# taz.de -- Negative Nachrichten: Jagd nach der nächsten Katastrophe | |
> Der mögliche Kollaps des Golfstroms war im Februar eine große Nachricht. | |
> Eine neue Studie weckt daran Zweifel – doch in den Medien kommt sie kaum | |
> vor. | |
Bild: Ein Schneesturm in New York City im Jahr 2003 | |
Dramatischer geht es kaum: In Europa drohe ein „Temperatursturz von minus | |
30 Grad in weniger als einem Jahrhundert“, war im Februar in | |
Medienberichten zu lesen. Zuerst berichtete CNN, im deutschsprachigen Raum | |
griffen unter anderem Spiegel, Focus, RND, T-Online, Tagesspiegel, taz, | |
sowie aus Österreich Heute, profil, Standard und Express diese Zahl auf. | |
Teils hieß es gar – wie beim MDR – „auf der ganzen Nordhalbkugel könnte… | |
im Durchschnitt bis zu 30 Grad kälter werden“. Natürlich machte die Meldung | |
auch in den sozialen Medien die Runde, angeschoben unter anderem von einem | |
Tweet des Gesundheitsministers Karl Lauterbach. | |
Vor den fatalen Folgen eines Kollaps’ des Golfstroms wird – völlig zurecht | |
– seit Jahren gewarnt. Vereinfacht gesagt droht durch die [1][Erhitzung der | |
Meere] eine Abschwächung oder ein Abreißen der Ozeanströmung, die warmes | |
Wasser in den Nordatlantik bringt. Die Folge könnte tatsächlich eine | |
drastische Abkühlung in Europa sein. | |
Im Februar dieses Jahres erschien dann die bisher umfassendste | |
Simulationsstudie zum Thema. Sie wurde von Wissenschaftlern der Universität | |
Utrecht verfasst und erschien im renommierten Magazin Science. Diese Studie | |
war es, auf die sich die genannten Medienberichte bezogen. | |
Was aber in so gut wie keinem davon stand: Die minus 30 Grad gelten nur für | |
eine Zeit von etwa 1.800 Jahren nach Beginn der Modellrechnung. Zudem | |
prognostizierte die Studie den extremen Temperatursturz lediglich für den | |
Monat Februar, und nur für die Nordmeerregion zwischen Bergen in Norwegen | |
und Island. Für den Rest Europas sahen die Prognosen deutlich moderater | |
aus, für Wien etwa minus 8 Grad im Februar und minus 1 Grad im August. Auch | |
das könnte gefährliche Folgen haben. Doch eben bei Weitem nicht so starke | |
wie der Extremwert, der in der Berichterstattung so prominent | |
herausgestellt wurde, und das meist ohne Einordnung. | |
## Kein Einzelfall | |
Der Fall ist symptomatisch für [2][die mediale Neigung, katastrophisch | |
zuzuspitzen]. Die zieht sich durch fast alle Themen, doch sie wirkt sich | |
umso problematischer aus, je schlimmer die zugrundeliegenden Fakten an sich | |
sind. Und beim Klima ist zweifellos alles ziemlich schlimm. | |
Die Folgen solch medialer Zuspitzerei? Viele, die [3][vor dem Klimawandel | |
Angst haben], bekommen noch mehr Panik. Nach den Minus-30-Grad-Meldungen | |
sorgten sich im Internet Menschen darüber, in Europa bald zu verhungern, | |
oder zu „Klimaflüchtlingen“ zu werden, die das eiskalte Europa nicht mehr | |
verlassen können, weil wärmere Weltregionen ihnen die Grenzen verschließen. | |
Gleichzeitig glaubten viele, die den Klimawandel anzweifeln, noch stärker | |
daran, belogen zu werden. Ihr Tenor: Weil die Menschen noch nicht genug | |
Angst vor dem Hitzetod hätten, komme die grün-rote Klimalobby nun mit | |
einem neuen Schauermärchen um die Ecke, um ihre politische Agenda leichter | |
durchdrücken zu können. „Gestern war man sich zu 125 Prozent sicher dass es | |
das hottest year ever war – und nun steht der Kältetod unmittelbar bevor“, | |
schrieb etwa ein User auf Twitter. „Dieser Klima Fear Porn interessiert nur | |
noch ein paar irre Luisas.“ So befeuert eine katastrophisierende | |
Berichterstattung eine sich weiter polarisierende Wahrnehmung. | |
Anfang September kam nun eine neue Studie zum Golfstrom heraus. Geschrieben | |
haben sie Forscher:innen der Universität Miami, publiziert wurde sie in | |
Nature, neben Science die weltweit angesehenste Zeitschrift für | |
Naturwissenschaften. Die Verfasser:innen stellen hier – wieder | |
vereinfacht gesagt – fest, dass eine Änderung des Erdmagnetfelds in einem | |
wichtigen Element des Golfstrom, dem sogenannten Floridastrom, bisher nicht | |
berücksichtigt worden war. | |
Die entsprechende Korrektur zeige, dass der Floridastrom „bemerkenswert | |
stabil“ geblieben sei. Die daraus folgenden Schätzungen zur künftigen | |
Entwicklung des Golfstroms insgesamt „ergeben einen deutlich schwächeren | |
negativen Trend“ als die Berechnungen mit den unkorrigierten | |
Floridastrom-Transporten. Soll heißen: Womöglich schwächt sich der | |
Golfstrom sehr viel weniger ab, als angenommen. | |
In Klimaskeptikerkreisen wurde die neue Studie aus Miami begeistert | |
herumgereicht. Die ganze Golfstromverlangsamung sei „nur ein Messfehler“ | |
gewesen, hieß es da. In großen Medien hingegen findet sich zu der Studie – | |
nichts. Dabei wüsste man doch gern, wie es kommt, dass ein solch starker | |
Effekt bisher offenbar übersehen wurde. Oder was das für die | |
Klimaentwicklung bedeuten könnte. | |
Anfrage bei Jochem Marotzke, Direktor des Hamburger Max-Planck-Instituts | |
für Meteorologie. Marotzke ist auf dem Gebiet einer der meistzitierten | |
Wissenschaftler, er wird auch in der Utrechter Studie vom Februar zweimal | |
zitiert. Die neue Untersuchung aus Miami habe „Hand und Fuß, und die | |
Schlussfolgerungen sind robust“, sagt Marotzke. Der Golfstromstransport | |
habe „nicht abgenommen“. Diese Korrektur sei nicht durch einen „Messfehler | |
per se“ notwendig geworden, „sondern durch einen Fehler in der Analyse“. | |
Die Änderung des Erdmagnetfelds sei nicht berücksichtigt worden, das wäre | |
jetzt der Fall. Marotzkes Fazit: „Alles sehr überzeugend.“ | |
Das klingt nach einer potentiell guten Nachricht. Aber solche haben es | |
schwer. Weit schwerer, als Schocker wie die „minus 30 Grad“. Und das ist | |
ein Problem. | |
Eine der Ursachen dafür liegt im Auftrag der journalistischen Medien. Sie | |
sind dazu da, Risiken und Gefahren aufzudecken, zu zeigen, was falsch | |
läuft. Gute Nachrichten haben wenig Priorität und werden darum kaum | |
transportiert. | |
## Negatives verkauft sich besser | |
Zudem sind Medienmärkte und die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft immer | |
härter umkämpft. Und durchsetzen im Kampf um Aufmerksamkeit könnten Medien | |
sich am zuverlässigsten mit „Nachrichtenfaktoren wie Konflikt, | |
Dramatisierung, Negativismus“, wie die Kommunikationswissenschaftler Lutz | |
Hagen schreibt. Alarmistische Töne finden leichter Gehör, sie werden | |
schneller verbreitet als ruhige und sachliche Berichte, die auf mögliche | |
Verbesserungen, Fortschritte oder Handlungsmöglichkeiten hinweisen. | |
Dass es Kollapsphänomene geben könne, sei klar, sagt Jürgen Renn, Direktor | |
am Jenaer Max-Planck-Institut für Geoanthropologie. Kipppunkte, die Klima- | |
und Erdsystemforscher:innen ausgemacht haben, könnten „alle möglichen | |
kaskadenartigen Dominoeffekte im ganzen Erdsystem“ haben, sagt Renn. „Das | |
sind ja nichtlineare, hochkomplexe Systeme.“ Doch eben deshalb verbiete es | |
sich zu sagen: „Wir wissen gerade, wie es ausgeht, nämlich: Kollaps.“ Das | |
sei ein „unzulässiger Kurzschluss“. | |
Medien gehen mit diesem Problem nicht sensibel genug um. Gefahren werden | |
weiter dramatisiert, was Hoffnung macht, fällt oft unter den Tisch. | |
„Minimieren Sie apokalyptische Botschaften, die zu Öko-Angst und | |
Öko-Lähmung führen können“, schreibt hingegen das International Journalism | |
Network in einer Handreichung zur Berichterstattung über die Klimakrise. | |
Die Naturwissenschaft vermag – fraglos exakter als je zuvor –, | |
[4][Aussagen über die Zukunft zu treffen]. Ihre Vorhersagen scheinen in | |
ihrer rationalen Autorität unerbittlich. Doch so umfangreich das | |
gesammelte Wissen heute auch sein mag – nicht alles tritt genau so ein, | |
wie vorhergesagt. So hat etwa kaum jemand so klar auf die existenziellen | |
ökologischen Risiken hingewiesen wie der Club of Rome. Und doch hat er die | |
Entwicklung nicht kommen sehen, dass nur kurze Zeit später erneuerbare | |
Energien in Massen verfügbar sein würde. | |
An der Notwendigkeit, auf Grundlage des aktuellen Wissensstandes gegen die | |
Klimakrise vorzugehen, ändert das nichts. Doch wer von Klimaangst geplagt | |
ist, kann sich so oft kaum noch vorstellen, dass sich manche Dinge auch | |
wieder zum Besseren wenden können. Und wem der Glauben daran fehlt, dem | |
fehlt auch schnell die Kraft, sich für Verbesserungen einzusetzen. | |
So kann es helfen, sich die begrenzte Aussagekraft düsterer Prognosen immer | |
mal wieder vor Augen zu führen. Um sich von ihnen nicht lähmen zu lassen, | |
und um Vertrauen in den Selbsterhaltungstrieb der Menschheit zu bewahren. | |
29 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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