| # taz.de -- Sobo Swobodniks Film „Geschlechterkampf“: Dasein ohne faule Kom… | |
| > Punch auf Punch: In „Geschlechterkampf“ durchquert Hauptdarstellerin | |
| > Margarita Breitkreiz in einem atemlosen Rausch geschlechtliche Abgründe. | |
| Bild: Bereit zum Angriff, hier mit Buch: Margarita Breitkreiz in „Geschlechte… | |
| Ein Film unter Hochspannung. Gleich zu Beginn von „Geschlechterkampf – Das | |
| Ende des Patriarchats“ greift Sobo Swobodnik auf ein Motiv zurück, das | |
| bereits in „Der Konzertdealer“ (2017) zur Anwendung kam: das Boxen. Drosch | |
| da Scumeck Sabottka auf die Kamera ein, ist es nun Margarita Breitkreiz. In | |
| einem Monolog beschreibt sie sich als eine, „die im Kampf Erfüllung | |
| findet“, die sich erst spüren würde, wenn die Haut aufplatzt und das Blut | |
| rinnt und auf die Brust tropft. Ihr Blick: aggressiv. | |
| Alles klar, denkt man, ist präpariert, jetzt geht’s also zur Sache. | |
| „Einerseits …“, schließt der Prolog. Und schon schießt einen Swobodnik … | |
| die Berliner Nacht. Die Stadt wird man fortan nicht mehr verlassen, auch | |
| Margarita Breitkreiz’ Seite nicht. Sie trägt den Film, erzählt eine, ihre, | |
| unser aller Geschichte, bei der es sich gleichsam um ein gewaltiges | |
| Textkonvolut handelt. Entstanden ist Letzteres in Zusammenarbeit mit dem | |
| Regisseur. Der wiederum präsentiert sich seit Ende der Neunziger als | |
| ungemein produktiv. Theaterstücke, Romane, und, wofür man ihn am wohl am | |
| besten kennt, Filme werden ohne Unterlass und im jährlichen Rhythmus | |
| veröffentlicht. | |
| Dabei scheint seit der Kooperation mit Breitkreiz ein besonderer Druck auf | |
| dem Kessel zu sein. Nahmen sich frühere Werke wie „SEXarbeiterin“ (2016) | |
| mit und über Lena Morgenroth noch eine Menge Zeit, Alltägliches | |
| darzustellen – ziemlich oft sah man Morgenroth in den Berliner U- und | |
| S-Bahnen gondeln, auf dem Weg zur Arbeit oder wieder zurück, manchmal auch | |
| bei der Buchhaltung oder beim Reinigen einer Dusche –, wirkt | |
| „Geschlechterkampf“ performativer, theoretischer. | |
| Im Grunde hat Swobodnik den Pfad seiner traditionelleren Porträts seit | |
| seinem Vorgänger „Klassenkampf“ (2021) verlassen. Hier schlüpfte Breitkre… | |
| in eine Art Swobodnik-Alter-Ego und maß, ebenfalls in monologisierender | |
| Form, Fragen zu Klassismus und Herkunft aus, insbesondere eben Swobodniks | |
| eigener. Sie brach sich die Zunge bei der Aussprache eines Örtchens, | |
| irgendwo auf der Schwäbischen Alb, zerschlug gerahmte Familienbilder und | |
| durfte rechtzeitig und endlich nach Berlin. Hier verwandelte sie sich | |
| ebenfalls in [1][Didier Eribon] (auf einem Laufband) und [2][Annie Ernaux], | |
| die ihren eigenen Standpunkt zum Thema Klassenfragen preisgaben. | |
| Vieles, was bereits in „Klassenkampf“ ausprobiert wurde, ist in | |
| „Geschlechterkampf“ nun ausgearbeiteter. Insgesamt ist es ein leuchtender, | |
| bunter Film geworden, was möglicherweise auch daran liegt, dass Swobodnik | |
| erstmals mit Frieder Schlaichs und Irene von Albertis Filmgalerie 451 im | |
| Hintergrund arbeitete. So ist Breitkreiz nicht mehr für die regelmäßigen | |
| Rollenwechsel und Gäste verantwortlich, sondern begegnet auf ihrem Tage und | |
| Nächte überdauernden Streifzug durch Berlin realen Köpfen. | |
| ## Eine Schauspielerin, die ihr erotisches Kapital verspielt hat | |
| Mit der [3][Autorin Teresa Bücker] schippert sie über den Landwehrkanal und | |
| hört sich deren breit angelegte Auffassung von Feminismus an, von | |
| [4][Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray] lässt sie sich den intersektionalen | |
| Feminismus erklären. Zwischendrin gibt es zahlreiche Intermezzi und | |
| Zwischenspiele, die wiederum mehr mit Margarita Breitkreiz als mit Sobo | |
| Swobodnik zu tun haben, denn „Geschlechterkampt“ lotet auf der | |
| Haupterzählebene vor allem ihre eigene, bisweilen trostlose Situation aus: | |
| die einer 42-jährigen Schauspielerin, die in den Augen der Gesellschaft ihr | |
| erotisches Kapital verspielt hat. | |
| Ein Umstand, der sie geradewegs zur Agentur für Arbeit katapultiert. Hier | |
| staubt ein Sachbearbeiter vor sich hin (Lars Rudolph), der ihr erst ein | |
| Engagement im Stadttheater Bremerhaven versucht schmackhaft zu machen und | |
| anschließend, nach erheblichem Widerstand seiner Klientin, eine | |
| Interview-Umschulung aus dem Ärmel schüttelt. Berufsperspektive: | |
| Callcenter. Das Aufeinandertreffen beider Welten – hier brodelnde | |
| Castorf-Veteranin, da ignoranter Maßnahmen-Anpreiser, ist so grandios wie | |
| ausweglos. | |
| Letztlich landet Breitkreiz eben doch im Büro eines schmierigen Managers | |
| (Alexander Scheer), wird aufgrund ihres russischen Akzents aber alsbald der | |
| Räumlichkeiten verwiesen. Eine, die nicht einmal vernünftig Deutsch | |
| beherrsche, könne man hier nicht gebrauchen. Breitkreiz reagiert mit einer | |
| Kopfnuss. Passt. | |
| Ohnehin steckt eine große Wut in diesen neunzig Minuten, von der nicht nur | |
| jene haltlose Schauspielerin erfasst ist, sondern zum Beispiel auch Artemis | |
| Chalkidou im Gewand einer Späti-Verkäuferin oder Kathrin Angerer und Inga | |
| Busch, die in einer Bar sitzend über die bedauerlichen und doch machtvollen | |
| Anwandlungen männlicher Befindlichkeit sinnieren. Gerade Angerers | |
| Ausführungen sind bitterböse und bisweilen treffend. | |
| Tatsächlich ist Breitkreiz’ Trip ein ziemlich atemloser Rausch durch | |
| geschlechtliche Abgründe. Da hilft es auch nicht, dass Daniel Zillmann als | |
| Buffalo Bill ihre Fährte aufgenommen hat und sie in das von ihm gepriesene | |
| brandenburgische Biesenthal verschleppen will. Fantasie und Hoffnung eines | |
| seinerseits Geplagten: das Heil im regionalen Sojabohnenanbau finden und | |
| den Strapazen der Großstadt den Rücken kehren. | |
| ## Angriff als beste Form der Verteidigung | |
| „Geschlechterkampf“ lässt einem wenig Zeit zum Verschnaufen, die anfängli… | |
| angekündigte Taktik des Angriffs als beste Form der Verteidigung wird | |
| konsequent praktiziert. Sprach Sobo Swobodnik im Zuge eines Interviews zu | |
| „SEXarbeiterin“ noch vom Prinzip einer „verdichteten Wirklichkeit“, mit… | |
| dessen er an seine Dokumentarfilme herantrete, verdichtet sich nun wirklich | |
| alles, Zitat, Selbstgespräch, Kapitelstruktur samt greller Zwischentitel | |
| („Es ist alles kompliziert man muss es versuchen zu vereinfachen“, „Unsere | |
| Doppelbelastung heißt Kapitalismus und Patriarchat“, „Stadt als Beute“). | |
| Atemlos folgt Punch auf Punch, manchmal trifft es Breitkreiz selbst, dann | |
| wieder wird ausgeteilt. Sie wettert: „Ja, am Leben. Dass ich nicht lache. | |
| Das klingt wie Hohn. Wie Spott von einem Toten. Was ist das für ein Leben? | |
| Prekär, marginalisiert, von der Hand in den Mund, ohne Aussicht auf | |
| Zukunft? Ist das überhaupt Leben? Es fühlt sich nicht so an.“ | |
| Im Getriebensein destilliert sich Swobodniks Wandeln auf den Seitenpfaden, | |
| zu denen er sich seit jeher hingezogen fühlt. Hier begegnet er | |
| Wahrhaftigkeit, Protest und Aufbegehren, luzidem Trotz. Seine Helden sind | |
| all jene, auf die die Mehrheit verächtlich blickt, deren Freiheit sie in | |
| heimlichen Momenten aber auch neidet. Jemand wie [5][Hermes Phettberg, den | |
| Swobodnik in seinem „Der Papst ist kein Jeansboy“ (2011)] zu fassen suchte | |
| oder die Musiker in „Unplugged: Leben Guaia Guaia“ (2013) durchbrechen | |
| Schranken von Klasse und manchmal auch Geschlecht, indem sie auf eine Art | |
| aussteigen, die keine Weltabkehr ist, sondern furchtloses Dasein ohne faule | |
| Kompromisse. | |
| Dass Swobodniks Mission des Sichtbarmachens von Lebensalternativen jetzt | |
| seit zwei Filmen ins Kämpferische kippt, einen Gang hochfährt und Krawall | |
| will, ist erfrischend und schlüssig. Schließlich handelt | |
| „Geschlechterkampf“ nicht zuletzt auch von Berlin, ein Ort, der für den | |
| Regisseur bald dreißig Jahre lang Schutzzone für bedrohte Existenzen war. | |
| Nun klopft das Geld an die Tür, das Alte soll raus, man könne natürlich | |
| zurück, für 6.000 Euro den Quadratmeter. | |
| Tatsächlich sind Kapitalismus und Patriarchat auch in „Geschlechterkampf“ | |
| eng verzahnt und Margarita Breitkreiz droht auf allen erdenklichen Ebenen | |
| der Rausschmiss. Ihre mit Theorie unterfütterte Wehrhaftigkeit und | |
| Bereitschaft zum Gegenangriff wirkt dabei so hoffnungslos wie vorbildhaft. | |
| Sobo Swobodnik bricht die Situation indes im Titel seines 2022 | |
| erschienenen Romans auf einen Begriff herunter: „Fucktown“. | |
| 2 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neues-Buch-von-Didier-Eribon/!5451640 | |
| [2] /Literaturnobelpreis-fuer-Annie-Ernaux/!5882551 | |
| [3] /Teresa-Buecker-ueber-Arbeit-und-Freizeit/!5935548 | |
| [4] /Reyhan-ahin-ueber-Wissenschaft/!5011343 | |
| [5] /Portraetfilm-ueber-Hermes-Phettberg/!5208360 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
| ## TAGS | |
| Feminismus | |
| Berliner Volksbühne | |
| Dokumentarfilm | |
| Berlin im Film | |
| Rezension | |
| Nachruf | |
| wochentaz | |
| Filmgeschichte | |
| Migration | |
| Dokumentarfilm | |
| Französischer Film | |
| Theater | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Österreich | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Der Wiener Exzentriker Hermes Phettberg: Jeansboys können nicht sterben | |
| Wie schade es um ihn ist. Eine Liebesbekundung an Hermes Phettberg | |
| anlässlich seines Begräbnisses auf dem Wiener Zentralfriedhof. | |
| Kapitalismuskritik: Klasse gegen Egoismus | |
| Der Kabarettist Jean-Philippe Kindler plädiert in „Scheiß auf Selflove, gib | |
| mir Klassenkampf“ für eine radikale Repolitisierung. | |
| Kinotipp der Woche: Ständig neuer Krach | |
| Mit scharfen Blick auf absurde Verhältnisse schuf Vĕra Chytilová Filme | |
| voller Satire und Sprengkraft. Die Reihe „Die Sprengmeisterin“ würdigt ihr | |
| Werk. | |
| Minderjährige Geflüchtete: Brüderchen und Schwesterchen | |
| In ihrem Film „Tori & Lokita“ erzählen Jean-Pierre und Luc Dardenne von | |
| sehr jungen Geflüchteten. Deren Geschichte entfaltet eine unerwartete | |
| Energie. | |
| Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“: Im Kampf mit sich selbst | |
| Der Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“ folgt einem Jugendlichen aus | |
| Berlin-Marzahn. Von der Kindheit geht es in der Jugend in den Knast. | |
| „Im Herzen jung“ im Kino: Zu verlieren gibt es immer was | |
| Die Romanze „Im Herzen jung“ folgt Hauptdarstellerin Fanny Ardant mit | |
| genauem Blick in die Verzweigungen einer Liebe zu einem jüngeren Mann. | |
| Frank Castorf inszeniert Erich Kästner: Wer seine Seele verkauft | |
| Frank Castorfs Inszenierung von Erich Kästners „Fabian“ am Berliner | |
| Ensemble ist düster. Genauer: eine dunkle Version der wilden Zwanziger. | |
| Dokumentarfilm über den NSU: Momente der Fassungslosigkeit | |
| Sobo Swobodnik bleibt mit „6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage. Die Morde des | |
| NSU“ nüchtern. So driftet er nicht ins Spekulative oder Emotionale ab. | |
| Hermes Phettberg über das Alleinsein: „Alle waren weg, nur ich war da“ | |
| Vor seinen Schlaganfällen war Phettberg ein Superstar – und er ist es noch | |
| immer. Ein Gespräch, das zu einem Theaterstück für vier Personen wurde. |