# taz.de -- Dokumentarfilm über den NSU: Momente der Fassungslosigkeit | |
> Sobo Swobodnik bleibt mit „6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage. Die Morde des | |
> NSU“ nüchtern. So driftet er nicht ins Spekulative oder Emotionale ab. | |
Bild: Erinnerung an Enver Şimşek | |
Auf den ersten Blick scheint einiges unklar: ausschnitthaft sehen wir | |
lediglich Äste, Pfützen und laublose Bäume, erkennen ein Waldstück an einer | |
Landstraße, erkennen aber nicht, warum dieser Ort für einen Film über die | |
Opfer des NSU relevant sein sollte. Die Bilder sind ohne Menschen und ohne | |
Farbe. Eine Einblendung, es ist die erste von zehn, gibt einen Namen und | |
Ort bekannt: Enver Şimşek, Nürnberg-Langwasser. Dazu gibt es | |
eingesprochenen Text. Mal sind es Zeugenaussagen, mal Aussagen der | |
Kriminalpolizei, oft sind es zitierte Medienberichte oder Worte von | |
Hinterbliebenen. | |
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, … | |
Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, | |
Michèle Kiesewetter. Die zehn Namen der zehn Opfer, die in den Jahren 2000 | |
bis 2006 vom Nationalsozialistischen Untergrund in der Bundesrepublik unter | |
größtenteils bis heute nicht geklärten Umständen ermordet werden konnten, | |
erscheinen in Sobo Swobodniks neuestem Dokumentarfilm als Kapitel einer | |
chronologischen Nacherzählung. Das Konzept des Films zieht sich bis zum | |
Ende durch: Wir sehen Orte, aber fast keine Menschen, bekommen keine Bilder | |
der Opfer, keine der Täter*innen zu sehen, hören stattdessen Fragmente | |
einer Berichterstattung. | |
Die Methode, in Form von filmischen Kapiteln und den Schauplätzen der | |
Verbrechen die NSU-Morde noch einmal aufzurollen, ist zum einen | |
naheliegend, zum anderen ein Konzept, das in der Rezeption des Films Fragen | |
aufwirft. Es sind einerseits die bereits häufig gestellte Fragen, die den | |
NSU, seine Organisation und seine Strategie betreffen: Warum wurden gerade | |
diese Menschen ermordet? Warum gerade an diesen Orten, die sich quer über | |
die Republik verteilen? Wie konnte jahrelang ungehindert rassistisch | |
motiviert gemordet werden? Welche Rolle spielten Verfassungsschutz, | |
Behörden und Polizei dabei? Soweit, so erschreckend. | |
Anderseits stellen sich viele Fragen an den Film selbst: Welchen Mehrwert | |
hat es, ausschließlich die vom NSU gewählten Tatorte als Bilder für einen | |
Film zu wählen? Welchen Effekt hat es auf das Publikum, anhand von | |
menschenleeren Orten menschliche Tragödien zu erzählen? Welche Medien | |
werden wann zitiert und welche nicht? Zu welchem Bild setzt sich die | |
Selektion der eingesprochenen Kommentare in unseren Köpfen zusammen? | |
## Nüchterne Bildpolitik | |
Lässt man sich auf die Erzählweise des Films ein, verdichten sich die | |
Momente der Fassungslosigkeit, ohne dass Swobodnik dabei ins Spekulative | |
oder emotional Manipulative abdriften würden. Dass er uns auch nichts Neues | |
erzählt, ist gewissermaßen Programm, denn sein Film operiert eher durch | |
Archivarbeit denn als detektivische Suche. Nur ein relativ penetranter | |
Soundtrack, droht stellenweise seine nüchterne Bildpolitik zu torpedieren. | |
Guckt man im Vergleich zu Swobodniks ohne Förderung entstandenem Film noch | |
einmal in die Fernseharchive zum NSU-Komplex, so lassen sich anhand von „6 | |
Jahre, 7 Monate und 16 Tage“ auf einer dritten Ebene noch einmal | |
grundlegende Fragen zum dokumentarischen filmischen Arbeiten stellen. | |
Welchen Mehrwert haben im Umkehrschluss die Bilder und Biografien der | |
angeblich nur drei deutschen Täter*innen? Helfen uns die Affekte, die beim | |
Beobachten der Hinterbliebenen vor einer Fernsehkamera entstehen, um ein | |
besseres Bild vom beispiellosen, jahrelangen Behördenversagen zu bekommen? | |
Sollte man also bestimmte Bilder aussparen, um sich ein Bild machen zu | |
können, wie es Swobodniks Film es uns nahezulegen scheint? | |
„6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage“ funktioniert auf vielen Ebenen als | |
konzeptuelle Arbeit, die vor allem Fragen stellt. Dass durch organisierten | |
rechtsextremen Terrorismus (migrantische) Menschenleben zerstört wurden, | |
dass die Rolle des deutschen Verfassungsschutzes im Rahmen der NSU-Morde | |
fragwürdig ist, dass Spuren nicht gesichert wurden und Beweismaterial | |
verschwand, dass Politik, Behörden und Medien die rassistische Motivation | |
der Taten jahrelang ignoriert haben, dass stattdessen durch rassistisch | |
geprägte Sonderkommissionen die Opfer zu Täter*innen gemacht wurden und | |
ihre Familien zu Verdächtigen – all das wird im Film dann eben doch sehr | |
klar. | |
17 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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