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# taz.de -- Minderjährige Geflüchtete: Brüderchen und Schwesterchen
> In ihrem Film „Tori & Lokita“ erzählen Jean-Pierre und Luc Dardenne von
> sehr jungen Geflüchteten. Deren Geschichte entfaltet eine unerwartete
> Energie.
Bild: Tori (Pablo Schils) und Lokita (Joely Mbundu) entwickeln in der Not ersta…
Am Beginn des Liedes „Alla fiera dell’est“ von Angelo Branduardi steht ei…
kleine Maus, die ein Vater für wenig Geld auf einem Markt ersteht. Sie löst
eine Kettenreaktion aus, die weit größere Tiere involviert: zunächst eine
Katze, dann einen Hund, letztlich sogar einen Stier. Sie alle lassen Zeile
um Zeile ihr Leben. Doch immer wieder setzt die länger werdende Erzählung
bei der kleinen Maus neu an. Tori (Pablo Schils) und Lokita (Joely Mbundu)
geben das Stück in einer belgischen Pizzeria zum Besten, verdienen sich mit
dem Auftritt ein paar Euro dazu.
Es ist ein bewegender Moment, bald ertönt das Duett bei eingehendem Anruf
auch aus Lokitas Telefon. „Alla fiera dell’est“ ist der emotionale Kern
des neuen Films der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die seit über
dreißig Jahren mit ihrer unverkennbaren Art des sozial engagierten Kinos
befasst sind. Dabei bewegen sich die beiden in einem ganz eigenen,
obsessiven Referenzsystem, das stets nach den Schwachstellen einer
Gesellschaft sucht, um inmitten ihres Waberns und Marodierens Heldinnen und
Helden zu installieren.
Es ist ihrer markanten Figurenzeichnung zu verdanken, dass jene Personen
sich unweigerlich ins Gedächtnis einbrennen, wenn man einmal Bekanntschaft
mit ihnen gemacht hat: Da wäre etwa die junge, aufbegehrende Waffelbäckerin
Rosetta im gleichnamigen Film von 1999, der den Dardennes ihre erste
Goldene Palme in Cannes beschert hat. Teenager Igor aus „La Promesse“
(1996), der eigentlich Mechaniker werden will, aber stattdessen mit seinem
Vater eine heruntergekommene Unterkunft für illegal Eingewanderte
unterhält.
Da ist [1][Ahmed, ein sich radikalisierender Muslim, der einen
Messeranschlag auf seine liberale Lehrerin verübt („Le jeune Ahmed“,
2019)]. Oder die Ärztin Jenny Davin, die sich für den Tod einer lange
unbekannt bleibenden schwarzen Frau verantwortlich fühlt und mittels
kriminalistischer Bemühungen den eigenen Schuldkomplex zu überwinden sucht
([2][„Das unbekannte Mädchen“, 2016]).
## Perspektive zweier aus Afrika Geflohener
Mit „Tori & Lokita“ setzen die Regisseure all jene Linien fort, die sie in
den vergangenen Jahrzehnten etabliert haben. Und dennoch unterscheidet sich
ihr neuester Film fundamental: Es ist das erste Mal, dass Luc und
Jean-Pierre Dardenne dezidiert die Perspektive zweier aus Afrika Geflohener
einnehmen – traten diese in der Vergangenheit doch vor allem als Opfer,
Nebenfiguren, Handlungskatalysatoren in Erscheinung.
Und auch das Tempo hat sich verändert, und mit ihm vielleicht das ganze
Genre: Entklappten sich die Dramen der Dardennes üblicherweise
gesprächslastig und nicht selten auch in detektivischer Manier, erinnert
„Tori & Lokita“ in seiner Dynamik nun stark an einen Abenteuerfilm, an ein
Jump-’n’-Run-Game durch ein ziemlich übles Belgien, das von bedrohlichen
Aktivitäten durchtränkt ist und sein mutiges Gespann ständig auf Trab hält.
Doch wer sind diese beiden überhaupt? Es ist eine Leerstelle, mit der
dramaturgisch von Anfang an operiert wird. Gleich die erste Filmszene zeigt
Lokita bei einem Interview, das eigentlich ein Verhör ist. Lokita und Tori
geben sich als Geschwister aus, im Bestreben, dass Lokita als Verwandte
Toris gleichsam berechtigt sein wird, einen Aufenthaltsstatus zu erlangen.
Der Elfjährige wurde als sogenanntes Hexenkind verfolgt, Lokita, sechzehn
Jahre alt, sagt, sie habe ihn in einem Waisenhaus in Benin aufgespürt.
Tatsächlich sind sich beide aber wohl erst während der gemeinsamen Flucht
nach Europa begegnet, eine tiefe Freundschaft von geschwisterlicher
Dimension ist entstanden, das Lied „Alla fiera dell’est“ – ein aufgelad…
Mitbringsel aus Sizilien.
Es ist eine dieser Diskrepanzen, aus der sich die Tragik von „Tori &
Lokita“ speist: Steht für die eng aneinander gebundenen Minderjährigen die
Intensität und somit die Relevanz ihrer Beziehung zu keinem Zeitpunkt
infrage, birst ihr Band vor dem Gesetz. Dabei geschieht angesichts des
feindlichen Umfelds das so Erwartbare wie Herzzerreißende: Lokita und Tori
halten nur noch stärker zusammen.
## Einsame Protagonisten
Nie zuvor habe es in ihren Filme einsamere Protagonisten gegeben, berichten
die Regisseure in Interviews, genauso ist von einer gewissen
Märchenhaftigkeit die Rede. Und tatsächlich hat man es in „Tori & Lokita“
metaphorisch auch mit ausgesetzten Kindern zu tun, die sich in einem
finsteren Wald einen Ausweg bahnen. Das Ziel lautet: Lokita darf in Belgien
bleiben, wird Haushaltshelferin und lebt mit Tori zusammen.
Gegenwärtig gilt es jedoch, die immensen Kosten der Schlepper zu
begleichen, die beiden immerzu in ihren Autos auflauern und ihnen jegliches
Bargeld abnehmen. Um diese Summen aufzutreiben – und gelegentlich etwas
Geld nach Hause zu schicken –, verdingen sich Lokita und Tori in besagter
Pizzeria nicht nur mit Gesangseinlagen: Koch Bentim (Alban Ukaj) handelt
außerdem mit Drogen und spannt die Minderjährigen in sein Business ein.
Freitagnacht klingeln sie an Haustüren und besuchen einschlägige Clubs, als
Bezahlung erhalten sie fünfzig Euro und ein paar alte Foccacias.
Die Hoffnung auf ein Bleiberecht Lokitas besteht da noch. Erst als dieses
in unmögliche Ferne rückt, zieht sie mit der Aussicht, nach drei Monaten
mit Papieren entlohnt zu werden, in eine abgelegene Cannabisplantage, haust
bei 30 Grad in einem winzigen Kellerverschlag, das durch zahlreiche Gebläse
nur mit Kopfhörern und Ohrstöpseln auszuhalten ist.
Dieser trostlose, klaustrophobische und gleichzeitig sagenhafte Ort gerät
zum Handlungszentrum von „Tori & Lokita“. Ein von gigantischen
Lüftungsschläuchen durchbohrtes Labyrinth, in dem sich die silbrigen Röhren
wie dicke Würmer durch die Mauern fressen. Ein Verlies, zu dem Tori sich
auf wahnwitzige Weise Zugang verschafft.
Er wird damit Teil einer ganzen Reihe überaus fähiger junger Menschen,
denen sich die Dardennes stets mit besonderer Aufmerksamkeit, und wohl auch
Hoffnung, gewidmet haben. Igor (Jérémie Renier) aus „La Promesse“ vermoch…
es mit großer Geistesgegenwart und motorischem Geschick, seinen Vater
auszubremsen und damit einer Frau zur Flucht zu verhelfen. Auch für kleine
Reparaturarbeiten stand er stets zur Verfügung.
Tori und Lokita aber übertreffen sie alle. Manchmal macht es den Anschein,
als entfesselte die Fixierung auf das gemeinsame Durchkommen, gepaart mit
der unerschütterlichen Zuneigung füreinander, gar übermenschliche Kräfte.
Tori und Lokita werden dann wirklich zu so etwas wie Hänsel und Gretel,
Brüderchen und Schwesterchen.
Die Dardennes wiederum kehren mit ihnen zu einem Kino der Widerständigen
zurück, verlassen den Pfad der von Schuld Geplagten und in den Abgrund
Taumelnden. Hier verlaufen die Grenzen zwischen Recht und Unrecht wieder
ganz klar, beziehen die Brüder eindeutig Position. Die Rasanz und Kompetenz
von Lokita und Tori generieren sich nicht aus Verzweiflung oder Hass,
Zustände, für die beide gar keine Zeit aufbringen können. Vielmehr sind sie
beseelt von einer Vision, nämlich der einer guten Zukunft.
Ihr Antrieb ist ein positiver. Er macht sie – beinahe – unbesiegbar. Und er
sorgt dafür, dass dieser Film, der nunmehr zwölfte der Dardennes, eine
Energie entwickelt, die es in ihrem Kino lange nicht mehr gab. Tori und
Lokita werden einen so schnell nicht verlassen. Genauso wenig wie die
Melodie von „Alla fiera dell’est“.
24 Oct 2023
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## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Spielfilm
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