# taz.de -- Gewerkschaften in den USA: Weil sie die Macht haben | |
> Lange lagen die US-Gewerkschaften darnieder. Doch nun könnte es im Sommer | |
> große Streiks geben. Woher kommt die neue Lust am Arbeitskampf? | |
Bild: Vincent Perrone (vorne, mit Brille) vertritt über 8.000 UPS-Mitarbeiter:… | |
Eine Masse brauner Uniformen, viele müde Augen. Rund 80 Menschen haben sich | |
an einer etwas trostlosen Ecke in Canarsie, einem Industrieviertel im | |
Südosten Brooklyns, versammelt. Punkt 8 Uhr ein lauter Pfiff. Um Vincent | |
Perrone bildet sich ein Kreis. | |
„Guys and girls“, sagt er, „ich möchte allen hier eine Frage stellen: Wer | |
hat die Macht?“ | |
„Wir haben die Macht“, rufen einige zurück. | |
„Und warum haben wir die Macht?“, fragt Perrone weiter. | |
Gar nicht so einfach, wie man an den Gesichtsausdrücken erkennt. „Weil wir | |
in der Mehrheit sind“, sagt ein Mann nach kurzer Pause. Perrone nickt. | |
„Euer Boss bespitzelt uns gerade von seinem Fenster aus, weil er sich | |
Sorgen macht, was hier vor sich geht“, sagt Perrone und zeigt auf das | |
langgezogene, flache Gebäude auf der anderen Straßenseite, ein Zentrum des | |
Paketzulieferers United Parcel Service, kurz UPS. Dort drüben, in der | |
zweiten Etage, wo die Büros des Management sind, da sitzen die Gegner, wie | |
Perrone im Laufe seiner Ansprache immer wieder betonen wird. Es ist | |
allerdings das erste und letzte Mal in seiner Ansprache, dass er sie als | |
„Bosse“ bezeichnet. Ab jetzt hagelt es nur noch Beleidigungen. | |
Der 58-jährige Perrone ist Vorsitzender des Ortsverbands Local 804 der | |
International Brotherhood of Teamsters – mit 1,3 Millionen Mitgliedern eine | |
der größten US-Gewerkschaften. Er vertritt über 8.000 UPS-Mitarbeiter:innen | |
in New York, eine mächtige Position also. Als Perrone, der bis vor fünf | |
Jahren selbst noch Fahrer bei UPS war, 2018 zur Gewerkschaftswahl antrat, | |
versprach er einen Neuanfang: weg von der Kultur der Vetternwirtschaft und | |
Selbstbereicherung, die bei den Teamsters so lange herrschte; hin zu einer | |
Gewerkschaft, die sich mit aller nötigen Militanz für die | |
Arbeiter:innen einsetzt. Perrone will den Klassenkampf zurückbringen, | |
zumindest ein bisschen. | |
Doch davon sind noch nicht alle überzeugt. | |
„Warum sind wir hier?“, will eine junge Schwarze Frau mit orangefarbener | |
Cappy wissen. Sie wirkt skeptisch, wie einige der Anwesenden, die von der | |
Gewerkschaft zu oft enttäuscht wurden. Die meisten von ihnen arbeiten als | |
Fahrer, manche als Belader der Trucks. Gleich müssen sie rüber zum | |
UPS-Gebäude, dann beginnt ihre Schicht. | |
Perrone erklärt, dass in wenigen Monaten, am 31. Juli, der seit 2018 | |
gültige Vertrag zwischen Teamsters und UPS auslaufen wird. Die | |
Verhandlungen für einen neuen Vertrag seien im Gang, sagt er, die Situation | |
angespannt. Zu den Kernforderungen der Gewerkschaft gehören eine | |
Gehaltserhöhung für alle Beschäftigten, ein Ende des Zwei-Klassen-Systems | |
zwischen Festangestellten und Teilzeitkräften, mehr Krankengeld, zwei | |
weitere bezahlte Feiertage, ein Verbot von Überwachungskameras in den | |
Fahrzeugen, sowie generell ein besserer Arbeitsschutz. „Wir wollen den | |
Anteil, der euch zusteht“, sagt Perrone und verweist auf den Rekordumsatz | |
von rund 100 Milliarden US-Dollar, den UPS im vergangenen Jahr gemacht hat. | |
Dann erinnert Perrone an die Anfänge der Pandemie, als den | |
Paketzusteller:innen das Prädikat „essential“ verpasst wurde: | |
systemrelevant. „Sie haben euch gesagt, dass ihr die Wirtschaft am Laufen | |
haltet“, sagt er, und nun ja, in diesem Sommer könnte es tatsächlich dazu | |
kommen, dass „die Wirtschaft dieses Landes stillsteht“. Es ist keine leere | |
Drohung. Es ist der Plan, der seit Monaten intensiv vorbereitet wird. Der | |
Grund, warum Versammlungen wie diese an vielen Orten der USA derzeit | |
stattfinden. Sollte UPS den Forderungen der Teamsters nicht nachkommen, | |
will die Gewerkschaft ihre 350.000 UPS-Mitglieder zur Arbeitsniederlegung | |
aufrufen. Damit könnte es zum größten Streik kommen, den das Land im 21. | |
Jahrhundert erlebt hat. | |
## *** | |
Es gab mal eine Zeit, da waren Gewerkschaften in den USA eine Macht. Lang | |
ist es her, New-Deal-Ära, als man den Einfluss sozialistischer und | |
kommunistischer Bewegungen noch spürte, als große Streiks zur Tagesordnung | |
gehörten und 35 Prozent aller Beschäftigten gewerkschaftlich vertreten | |
waren. Mitte der 50er wurde dieser Höchststand erreicht, dann ging es | |
langsam bergab. Die Marker dieses Niedergangs sind bekannt, vom Red Scare, | |
der Roten Angst, als zu Beginn des Kalten Kriegs Joseph McCarthy Jagd auf | |
alles Linke machte, über die Umbrüche der deindustrialisierten Arbeitswelt | |
bis zur systematischen Niederschlagung betrieblicher | |
Organisierungsversuche, was man in den USA „union busting“ nennt. | |
Nach Jahrzehnten der neoliberalen Regierung – und vielen Fehlern aufseiten | |
der Linken und Gewerkschaften – sind heute nur noch zehn Prozent aller | |
Beschäftigten in den USA Mitglied einer Gewerkschaft: ein historisches | |
Tief. | |
Die Arbeiter:innenbewegung in den USA ist am Boden. Doch seit | |
einigen Jahren kann man zunehmend Zuckungen wahrnehmen, manchmal sogar | |
Tritte und Schläge nach oben. Bei Amazon, Starbucks, Google und anderen | |
gigantischen Unternehmen haben sich zum ersten Mal überhaupt Gewerkschaften | |
formiert. Auch die Zahl der Streiks ist zuletzt gestiegen, vor allem im | |
Gesundheitsbereich und in der Bildung. Es gibt neue Inkubatoren wie das | |
Emergency Workplace Organizing Committee, in denen Beschäftigte Starthilfe | |
für ihre Arbeitskämpfe bekommen; neue Medien wie „More Perfect Union“, die | |
detailliert aus der Gewerkschaftswelt berichten. | |
Die Pandemie war eine Art Weckruf, wie der „Labor Notes“-Journalist Luis | |
Feliz Leon erklärt, viele Arbeiter:innen „spüren nicht nur in ihren | |
Knochen, dass sie mehr verdienen. Sie fordern auch mehr.“ Ganz | |
grundsätzlich kann man festhalten, dass in der US-Bevölkerung das Verlangen | |
nach ökonomischer Demokratie wächst. Laut Umfragen sagen rund 70 Prozent | |
der Amerikaner:innen, dass sie Gewerkschaften grundsätzlich unterstützen – | |
eine vergleichbar hohe Zustimmung gab es zuletzt in den 60er Jahren. | |
Viele der aktuellen Arbeitsaufstände laufen im „Do it yourself“-Modus. Weil | |
die etablierten Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten so zahnlos | |
waren, die Apparate so verkrustet und die Bedingungen so feindlich, haben | |
sich viele Organisationen von Grund auf neu geformt. Die jungen | |
Graswurzelgewerkschaften sind agiler und konfrontativer als die alten | |
Apparate, zum Teil auch chaotischer und kopfloser. Fehlende Größe und | |
Erfahrung sind befreiend und beschwerend zugleich. | |
Bestes Beispiel ist die Amazon Labor Union (ALU), von den zwei | |
Amazon-Arbeitern Chris Smalls und Derrick Palmer im April 2021 gegründet. | |
Der ALU gelang es trotz extremer Gegenwehr vonseiten Amazons, die Mehrheit | |
der Beschäftigten eines Warenlagers in Staten Island, New York, davon zu | |
überzeugen, dass eine Gewerkschaft bessere Bezahlung und sicherere | |
Arbeitsbedingungen erreichen kann. Der Wahlerfolg nach einem Jahr | |
leidenschaftlicher Organisierung im April 2022 war historisch, weil es in | |
den USA bis dahin keinen einzigen Amazon-Standort mit gewerkschaftlicher | |
Vertretung gab. | |
Heute, wieder ein Jahr später, ist von der Euphorie allerdings nicht mehr | |
viel übrig. Die ALU ist weit von einem Tarifvertrag entfernt, was in den | |
USA zwar normal ist, wenn sich neue Gewerkschaften bilden, und primär daran | |
liegt, dass Amazon den Präzedenzfall weiter um jeden Preis verhindern will. | |
Der Frust bei den Beschäftigten und ALU-Mitgliedern über die Stagnation ist | |
jedoch spürbar gestiegen. Die New York Times berichtete kürzlich über | |
Konflikte innerhalb der Gruppe. Gründer Smalls wird vorgeworfen, Egotrips | |
zu fahren und beratungsresistent zu sein. Auf das Angebot der Teamsters, | |
bei der Amazon-Organisierung zu helfen, habe die ALU nicht mal reagiert, | |
wie Perrone gegenüber der taz sagt. Die ALU hat seit dem Erfolg in Staten | |
Island zudem bittere Wahlniederlagen erlitten: In zwei Warenlagern sprach | |
sich die Mehrheit der Belegschaft gegen eine gewerkschaftliche Vertretung | |
aus. | |
So bahnbrechend und inspirierend der Aufstieg der Amazon Labor Union war, | |
so deutlich stößt die Organisation nun an ihre Grenzen. [1][Eine | |
strukturelle Erschöpfung spüren derzeit auch die Mitglieder von Starbucks | |
Workers United], die zwar seit Dezember 2021 phänomenale 300 Standorte der | |
Kaffeekette gewerkschaftlich organisiert, aber ebenfalls noch keinen | |
Tarifvertrag erreicht haben. Die zwei derzeit prominentesten | |
Graswurzelgewerkschaften der USA haben das gleiche Problem: Es fehlt an | |
Ressourcen und Druckmitteln gegenüber den Unternehmen. Diese werden von der | |
Politik nämlich kaum daran gestört, die gewerkschaftliche Organisierung zu | |
unterdrücken. Die Behörde, die die zahlreichen Verstöße von Amazon und | |
Starbucks gegen das Arbeitsrecht verfolgen soll, das National Labor | |
Relations Board, ist dramatisch unterbesetzt. Im Kongress verhindern die | |
Republikaner derweil, dass neue Gesetze zum Arbeitsschutz erlassen werden. | |
Was also tun? | |
Einerseits ist da all die Energie von unten, der Frust über das ökonomische | |
System, das Potenzial der jungen, neuen Linken. Und andererseits sind die | |
politischen Bedingungen für kollektive Organisierung so katastrophal, dass | |
die Energie zu verpuffen droht, wenn nicht bald substanzielle Erfolge | |
errungen werden. An genau dieser Stelle kommen die etablierten | |
Gewerkschaften ins Spiel, Teamsters ganz vorne. Sie haben nämlich genau | |
das, was den Graswurzelkollektiven fehlt: die Größe und nötige | |
Infrastruktur für einen Massenstreik. | |
## *** | |
Vincent Perrone trägt Sonnenbrille, trotz Wolkendecke in Brooklyn. Ein | |
stämmiger Mann mit kurzen grau-silbernen Haaren – auf den ersten Blick | |
könnte er, wie er da so breitbeinig steht und virtuos flucht, eine Figur | |
aus [2][Martin Scorseses „The Irishman]“ sein. Der episch lange Blockbuster | |
erzählt von den Verflechtungen zwischen Teamsters und Mafia, insbesondere | |
vom berüchtigten Gewerkschaftschef Jimmy Hoffa, der zwischen 1957 und 1971 | |
mit Gangstermethoden herrschte und den Teamsters einen Ruf verpasste, der | |
ihnen bis heute nachhängt. „Wie die Reichen und Mächtigen in den letzten | |
Tagen des Römischen Reichs oder der ehemaligen UdSSR wurden auch die | |
letzten Herrscher der Teamsters im Laufe der Zeit immer dümmer und | |
korrupter“, schreibt der ehemalige UPS-Fahrer Joe Allen in seinem Buch „The | |
Package King“ über Hoffa und dessen Nachfolger. | |
„Die Zeiten haben sich verändert“, sagt Perrone an diesem Morgen zu den | |
UPS-Arbeiter:innen, „ihr müsst uns vertrauen, auch wenn das hart ist“. Er | |
bezieht sich damit allerdings weniger auf die Mafiosi-Jahre des 20. | |
Jahrhunderts, sondern vielmehr auf die Zeit von 1998 bis 2022, als Hoffas | |
Sohn James an der Spitze der Gewerkschaft stand: kein korrupter Autokrat | |
wie sein Vater, sondern ein konservativer Bürokrat, der zu oft die | |
Interessen der Beschäftigten verriet. Bei den letzten Verhandlungen mit UPS | |
im Jahr 2018 setzte Hoffa Junior gegen den Willen der Mitgliedermehrheit | |
einen Vertrag voller Zugeständnisse durch. | |
Seit März 2022 nun ist Sean O’Brien Präsident der Teamsters – auf ihm | |
liegen die Hoffnungen der Linken. In einer inzwischen legendären Rede bei | |
der „Labor Notes“-Konferenz im Sommer 2022 versprach der 51-jährige | |
O’Brien, „das Syndikat der Wirtschaftskriminalität, bekannt als Corporate | |
America“, zu bekämpfen. Mit Aussicht auf einen möglichen UPS-Streik | |
kündigte er an, „das Unternehmen in die Knie zu zwingen“. Spätestens in | |
diesem Moment wurde allen klar, dass bei der Gewerkschaft ein neues | |
Zeitalter der Militanz angebrochen ist. Auch die Zahl der Mitglieder ist im | |
vergangenen Jahr rasant gewachsen. | |
Warum die Militanz nötig ist, erklärt Perrone anhand seiner eigenen | |
Arbeitserfahrungen bei UPS. 1994 fing er dort als Fahrer an und machte sich | |
schnell beim Management unbeliebt, indem er sich lautstark für die Rechte | |
der Beschäftigten einsetzte. 1997 nahm er am bis dato letzten UPS-Streik | |
teil, der 15 Tage andauerte, das Unternehmen 620 Millionen Dollar kostete | |
und den Arbeiter:innen signifikante Gehaltssteigerungen brachte. 2014 | |
riss sich Perrone beim Heben eines Paketes einen Schultermuskel. Drei Jahre | |
später fiel im Laderaum seines Lasters ein schweres Paket auf sein Knie. | |
Perrone musste pausieren und wurde kurz darauf gefeuert, wie er sagt. „Wenn | |
sie dich durch eine Sackkarre ersetzen könnten, würden sie es sofort | |
machen.“ | |
Besonders im Sommer sei die Arbeit bei UPS extrem erschöpfend, sagt er. Im | |
Juni 2022 starb ein Fahrer in Kalifornien ein paar Tage nach seinem 24. | |
Geburtstag an einem Hitzeschlag. Auch deshalb fordern die Teamsters | |
Klimaanlagen für alle Fahrzeuge. | |
Perrone geht einen Schritt vor, einen zurück. Man spürt, dass er eine | |
Balance versucht: Er will bei den Leuten, die da um ihn herum im Kreis | |
stehen, Vertrauen aufbauen – und sie zugleich in die Pflicht nehmen. „Wer | |
meckert, muss auch mitmachen“, sagt er und fragt in die Runde, wer schon | |
einen Streikfonds eingerichtet hat, also Geld spart, damit man im Fall | |
einer Arbeitsniederlegung über die Runden kommt. Fünf Hände gehen hoch. | |
„Nicht genug!“, sagt Perrone. Finanzielle Unterstützung gebe es von der | |
Gewerkschaft dieses Mal von Tag eins an, verspricht er. Und besonders hart | |
werde man für die Teilzeitkräfte kämpfen. Die verdienen in New York nämlich | |
nur mickrige 15,50 Dollar pro Stunde. | |
Als Perrone an seinen Vize Chris Williamson übergibt, braucht der nur ein | |
paar Sätze, um in voller Rage zu sein. „Tut mir einen Gefallen“, ruft er, | |
„nehmt euren Frust und tragt ihn zu den Bastarden da drüben!“ Williamson, | |
der lange Zeit selbst Teilzeitarbeiter bei UPS war, schreit und flucht und | |
spuckt. Spätestens jetzt sind sie alle hier wach. | |
## *** | |
Die Teamsters sind nicht das einzige Gewerkschaftsschiff, das sich derzeit | |
nach links bewegt. Auch bei den United Auto Workers (UAW) haben die | |
Mitglieder kürzlich eine neue Spitze bestimmt, die einen deutlichen Bruch | |
mit der alten – und massiv korrupten – Politik bedeutet. Bei der | |
Mitgliederversammlung in Detroit im März machte der frisch gewählte | |
Präsident Shawn Fain klar, was auf Firmen wie Ford, General Motors und | |
Stellantis, deren Beschäftigte die UAW vertritt, zukommen könnte: „Wir sind | |
hier, um gemeinsam gegen unseren einzig wahren Feind zu kämpfen – die | |
milliardenschweren Konzerne und Arbeitgeber, die sich weigern, unseren | |
Mitgliedern ihren gerechten Anteil zu geben“, sagte er. | |
Wie auch bei den Teamsters ist der Wandel bei den United Auto Workers nicht | |
über Nacht gekommen. Innerhalb beider Gewerkschaften haben Reformgruppen | |
über lange Zeit durch intensive Organisierung den Grundstein dafür gelegt. | |
Immer wichtiger ist in den vergangenen Jahren eine Praxis geworden, die | |
lange Zeit vergessen schien: Linke Aktivist:innen suchen sich derzeit | |
Jobs in bestimmten Branchen, um dort die politische Organisierung | |
voranzutreiben. „Salting“ nennt sich das in Fällen, wo es noch gar keine | |
Gewerkschaft gibt; „industrializing“, wenn eine bestehende Gewerkschaft von | |
innen radikalisiert werden soll. Beides wurde in diesem Ausmaß zuletzt in | |
den 70er Jahren versucht. | |
Insbesondere die Erfolge der neuen Starbucks-Gewerkschaft gehen darauf | |
zurück, wie das Magazin Bloomberg Businessweek kürzlich berichtete. | |
Mindestens zehn Undercover-Aktivist:innen hätten demnach bei | |
Starbucks-Filialen in Buffalo, New York, einen Job gesucht, um beim | |
Organizing zu helfen. Im Herbst 2021 stimmte dort der allererste Standort | |
in den USA für eine Gewerkschaft ab. | |
„Salting“ und „industrializing“ sind auch deshalb wichtig, weil sie auf… | |
Problem reagieren: die Distanz zwischen der neuen Linken und der alten | |
Gewerkschaftswelt. Bereits seit einigen Jahren rufen die Democratic | |
Socialists of America aus diesem Grund ihre Mitglieder – überwiegend junge | |
Großstädter mit Uni-Abschluss – dazu auf, entsprechende Jobs anzutreten. | |
Aktivist:innen sollen sich fern ihrer Bubbles nützlich machen und bei | |
Arbeitskämpfen mitwirken. Ein eigenes Training zum effektiven „salting“ | |
bietet derweil die in Maryland ansässige Inside Organizer School an. | |
Mehrere Male im Jahr kommen hier Gewerkschaftsaktivist:innen | |
zusammen, um Strategien zu besprechen. Laut Perrone spielt das Thema auch | |
bei den Teamsters eine immer stärkere Rolle. Im Detail wollen allerdings | |
die wenigsten darüber sprechen. Sie wissen, dass die Unternehmen diese | |
Praktiken besonders genau verfolgen. | |
Die exzessiven Repressionen sind und bleiben die größte Herausforderung, | |
vor denen die US-Arbeiter:innenbewegung steht. Insbesondere neue | |
Gewerkschaften müssen einen „Spagat zwischen zwischen Community-Aufbau und | |
Geheimhaltung“ hinlegen, sagt Organizerin Maeg Yosef, die für den | |
Lebensmittelhändler Trader Joe’s in der Kleinstadt Hadley in Massachusetts | |
arbeitet. Yosef gehörte Anfang 2022 zu einem kleinen Kreis von | |
Angestellten, die den Plan einer gewerkschaftlichen Vertretung schmiedeten. | |
Für die Gruppe galt es einerseits, über so viele persönliche Gespräche wie | |
möglich Vertrauen unter Kolleg:innen aufzubauen, andererseits mussten | |
sie penibel darauf achten, dem Unternehmen so wenig Angriffsfläche wie | |
möglich zu geben. | |
Der Spagat gelang. Im Juli stimmte die Belegschaft in Hadley für eine | |
gewerkschaftliche Vertretung – als erster Standort in den USA überhaupt. | |
Trader Joe’s United hat seither Filialen in verschiedenen Bundesstaaten | |
erfolgreich organisiert. | |
Während überall neue Gewerkschaften sprießen, steht in diesem Sommer jedoch | |
im Mittelpunkt, was bei den Teamsters passiert. Sollte UPS auf die | |
Forderungen eingehen, hätte die Gewerkschaft ihre Macht demonstriert. | |
Sollte es zu einem Streik kommen, wäre das ein noch größeres Fanal. | |
Ziel sei es, wie Teamsters-Präsident Sean O’Brien angekündigt hat, mit | |
einem starken Vertrag ein branchenübergreifendes Zeichen zu setzen. | |
Insbesondere den über eine Million Beschäftigten von Amazon solle gezeigt | |
werden, „was man bekommt, wenn man der besten Organisation der Welt | |
beitritt“. | |
Große Worte, denen nun Taten folgen müssen. Je mehr die Teamsters in diesem | |
Sommer rausholen, desto stärker ist ihre Position – und damit auch ihre | |
Glaubwürdigkeit gegenüber den jungen Graswurzelgewerkschaften wie der | |
Amazon Labor Union. Treiben sie dann auch noch die Demokratisierung der | |
eigenen Strukturen weiter voran, könnten die alte Gewerkschaftswelt und die | |
neue Linke tatsächlich ein wenig zusammenrücken. | |
Das wäre ziemlich viel. | |
1 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Arbeitskampf-in-den-USA/!5887462 | |
[2] /Neuer-Scorsese-Film-The-Irishman/!5638284 | |
## AUTOREN | |
Lukas Hermsmeier | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
IG | |
USA | |
Amazon | |
Arbeitskampf | |
Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
GNS | |
Gewerkschaft | |
wochentaz | |
USA | |
USA | |
Gewerkschaft | |
Hollywood | |
Los Angeles | |
Deutsche Bahn | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
USA | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mercedes-Beschäftigte in Alabama: Wahl über Gewerkschaftsbeitritt | |
In den USA können Beschäftigte eines Mercedes-Werks über den Beitritt zur | |
Gewerkschaft UAW abstimmen. Das wäre nicht der erste Erfolg der UAW. | |
Gewerkschaften in den USA: VW-Arbeitende organisieren sich | |
Mehrheitsvotum für eine Belegschaftsvertretung in Chattanooga: Erstmals | |
seit den 40er Jahren halten Gewerkschaften Einzug in eine Autofabrik im | |
Süden. | |
Union Busting bei Metallbetrieb: Ende einer Schlammschlacht | |
Das Unternehmen AMF Bruns baut Fahrzeuge behindertengerecht um. Doch geht | |
es auch mit erfundenen Vorwürfen gegen Betriebsräte vor, beklagt IG Metall. | |
Drehbuchstreik in Hollywood: Eine linke Vision | |
Monatelang haben Autor:innen in Hollywood gestreikt – mit Erfolg. Ihr | |
Arbeitskampf steht für einen US-amerikanischen Zeitgeist. | |
50.000 Obdachlose in Los Angeles: Armselige Skyline | |
In der US-Metropole Los Angeles leben etwa 50.000 Menschen auf der Straße. | |
Bürgermeisterin Karen Bass will das ändern. Wie kann das gelingen? | |
Tarifkonflikt bei der Bahn: EVG droht mit langen Streiks | |
Im Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn ist keine Einigung in Sicht. Die | |
Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft droht nun, den Bahnverkehr „wochenlang“ | |
lahmzulegen. | |
Kita-Streik in Jena: Streiken ist kein Kinderspiel | |
Kitaerzieher:innen sehen sich als Idealist:innen, denen es nur um die | |
Kinder geht. Wie schafft man es, dass sie für eigene Interessen einstehen? | |
Arbeitskampf in den USA: Der Zorn des neuen Proletariats | |
Sie sind jung, fleißig, selbstbewusst – und wollen sich nicht länger | |
ausbeuten lassen. Jetzt streiten Starbucks-Beschäftigte US-weit für ihre | |
Rechte. |