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# taz.de -- Arbeitskampf in den USA: Der Zorn des neuen Proletariats
> Sie sind jung, fleißig, selbstbewusst – und wollen sich nicht länger
> ausbeuten lassen. Jetzt streiten Starbucks-Beschäftigte US-weit für ihre
> Rechte.
Bild: Mit bunten Buttons zeigen Menschen US-weit ihre Solidarität mit den Kaff…
Der Eingang zur Starbucks-Filiale auf der Commonwealth Avenue in Boston ist
verbarrikadiert. Seit fast zwei Monaten wird hier gestreikt, rund um die
Uhr. An der gläsernen Front kleben Plakate mit Forderungen und Parolen, auf
einem Tisch liegen Spiele und Pappteller, daneben steht eine Thermoskanne.
Ein Stück Karton weist auf Telefonnummern einer Bereitschaftshilfe hin. Es
ist ein gleißend heller Septembertag, drei Streikende sitzen unter einem
Sonnenzelt. Alle zwei Stunden wechseln die Angestellten sich ab. Der
Filialleitung werfen sie unlautere Beschäftigungspraktiken vor.
Und sie sind nicht allein: Seit einigen Monaten gründen sich in den
Vereinigten Staaten mit rasantem Tempo neue Gewerkschaften – ausgerechnet
in dem Land, in dem Entlassungen unter dem Begriff „hire and fire“ zur
Normalität gehören. Starbucks ist mit fast 400.000 Angestellten der größte
Kaffeehauskonzern der Welt. 15.000 Läden werden allein in den USA
betrieben. Mittlerweile sind die Angestellten des Kaffeegiganten bei
Gewerkschaftsgründungen besonders umtriebig. [1][Aus gutem Grund].
Lange galt das Unternehmen in der Öffentlichkeit als progressiver
Arbeitgeber. Starbucks legt Wert auf ein familiär wirkendes Betriebsklima.
So werden die Angestellten „Partner“ genannt und das Einarbeiten
„Weiterbildung“. Der Konzern [2][versteht sich als queer- und
trans*freundlich], Geschäftsführer Howard Schultz hat in der
Vergangenheit stets lautstark die Demokratische Partei unterstützt.
In den Filialen wird der Kundenkontakt [3][von sogenannten Baristas]
getragen, die in Schichtarbeit Getränke und kleine Gerichte zubereiten.
Aufsteigen kann man zum Baristaausbilder und zur Schichtleitung. Die
jeweiligen Filialleitungen – die meist keine Erfahrung mit der Arbeit vor
Ort in den Läden haben – treffen die Personalentscheidungen und erstellen
die Dienstpläne.
Die Arbeitszeiten, die in einer Filiale anfallen, verwaltet ein
firmeneigener Algorithmus, das Stundenbudget wird auf Basis vergangener
Umsätze berechnet. Häufig geschieht es, dass Baristas zu Stoßzeiten wegen
niedriger Personalzuteilung nicht alle Bestellungen bedienen können. Die
Folge: Die Umsätze sinken – was zu einer noch dünneren Personaldecke in der
nächsten Schicht führt, ein Phänomen, das manche Angestellte als „cycle of
doom“ bezeichnen, als „Kreislauf des Untergangs“.
Starbucks bietet seinen Beschäftigten Zusatzleistungen, etwa eine
Krankenversicherung, keine Selbstverständlichkeit in den USA. Auch die
Gebühren für ein Onlinestudium an der Arizona State University werden vom
Konzern übernommen. Wer in den Genuss dieser Extras kommen will, muss
mindestens 20 Arbeitsstunden pro Woche leisten. Das Problem: Eine
Mindestarbeitszeit ist in den meisten Bundesstaaten nicht gesetzlich
zugesichert.
## Das freundliche Image täuscht
Vor allem wegen der großzügig wirkenden vertraglichen Extras galt Starbucks
lange als Bastion gegen eine gewerkschaftliche Selbstorganisation der
Mitarbeitenden. Dem netten Image standen aber stets herbe Vorwürfe
gegenüber: die Macht des Unternehmens über die Ausbildung und die
Krankenversicherung seiner Angestellten; die Überlastung von Baristas; die
Missachtung von Beschwerden aus der Belegschaft.
Am 9. Dezember 2021 beschlossen die Angestellten eines Cafés in Buffalo,
sich zu organisieren. Seither haben fast 400 weitere Starbucks-Läden über
die Gründung einer eigenen Arbeitnehmer*innenvertretung abgestimmt.
Die Betriebsräte bei Starbucks sind, wie allgemein in den USA, sehr autonom
– sie bezeichnen sich selbst als „union“, jede Filiale muss einzeln über
ihren Tarifvertrag verhandeln. Das ist eine der Bedingungen, die die
Konzernleitung stellte, um sich auf den Vorstoß einzulassen. Immer wieder
kam es zu Verzögerungen, doch nun, im Oktober 2022, beginnen endlich die
Tarifvertragsverhandlungen in über 230 Starbucks-Filialen. Es ist der Start
für die zweite, entscheidende Phase in der Geschichte dieser so jungen und
so kampflustigen Bewegung.
Große, etablierte Gewerkschaften gelten in den USA als eingerostete, träge
Apparate und werden oft als irrelevant betrachtet, angesichts des
Niedergangs der verarbeitenden Industrie. Eine komplizierte Geschichte von
Korruption und Rassismus – oft wurden schwarze, aus den Südstaaten
migrierte Arbeiter*innen als Streikbrecher angeworben – machte das
Image nicht besser. Entscheidend für die Verdrängung der Gewerkschaften
waren auch der Lobbyismus der Arbeitgeber, der stets auf offene politische
Türen stieß, und die Zersplitterung und Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes.
Die Eckpunkte gewerkschaftlicher Organisation in den Vereinigten Staaten
sind bald ein Jahrhundert alt: 1935 wurden sie im sogenannten Wagner Act
abgesteckt. Mit ihm wurde auch das National Labor Relations Board (NLRB)
gegründet, das bis heute über die Einhaltung der entsprechenden Gesetze
wacht. Um eine Gewerkschaft zu gründen, müssen mindestens 30 Prozent eines
sogenannten „bargaining units“, also eines Betriebs – in diesem Fall einer
Filiale – eine Abstimmung unter den Mitarbeitenden einfordern. Wenn bei
einer solchen geheimen Abstimmung mehr als die Hälfte der
Mitarbeiter*innen zustimmt, ist der Arbeitgeber verpflichtet, über
einen Tarifvertrag zu verhandeln. Von den Beschäftigten gewählte
Vertreter*innen, sogenannte „stewards“, sollen anschließend die Einhaltung
des Vertrags überwachen.
Versuche der Verzögerung und der Sabotage dieses komplizierten Prozesses
müssen von den Gewerkschaften beim NLRB angezeigt werden. Allerdings
herrscht auch dort Personalmangel, weshalb die Auseinandersetzungen sich
oft in die Länge ziehen. Die junge, sich gerade erst entfaltende Bewegung
der Starbucks Workers United verfügt bislang über keine finanziellen
Mittel, einzelne Filialen vernetzen sich untereinander und mit anderen
Gewerkschaften über soziale Medien. Lose sind die Starbucks Workers an die
weit größere Gewerkschaft Workers United angebunden, die wiederum einem
Dachverband angehört. Im Gegensatz zu traditionsreichen größeren
Gewerkschaften sind die neuen Bewegungen stark von der Basis getragen,
viele Mitglieder gehören gesellschaftlichen Minderheiten an.
## Die Konzerne schlagen mit Anwälten zurück
Ihnen gegenüber stehen die Starbucks-Anwälte von Littler Mendelson, einer
Kanzlei, die sich auf „union busting“ spezialisiert hat, auf die
Zerschlagung jeglichen gewerkschaflichen Engagments. Die Rechtsprofis
fechten Abstimmungsergebnisse und Entlassungsklagen an, verzögern mit
legalen Kniffen Abstimmungen und Verhandlungen. Konzerne wie Starbucks
lassen sich solcherlei Unterstützung einiges kosten: Für einzelne
Gerichtstage stellen diese Kanzleien mitunter mehrere hunderttausend Dollar
in Rechnung. Im Internet kursieren Handbücher zur
„Gewerkschaftsvermeidung“. Bei Starbucks wurde im September ein Extrakonto
nur für Angestellte ohne Gewerkschaftsbindung angekündigt.
Howard Schultz, der langjährige CEO von Starbucks, hat in Reden und
Interviews mehrfach betont, eine Gewerkschaft nicht als Teil des
Unternehmens akzeptieren zu können. Mehr als 100 Mitarbeiter*innen
wurden [4][im Zusammenhang mit der neuen Gewerkschaftsbewegung] schon
gefeuert, in vielen Filialen wurde das Personal ausgetauscht, einige
Baristas sind im Begriff, ihre Krankenversicherung zu verlieren, weil ihnen
nicht ausreichend Arbeitsstunden zugeteilt werden.
Jahrzehntelang haben Beschäftigte in den USA stagnierende Löhne und
schwindende soziale Mobilität mehr oder minder klaglos hingenommen. Doch
die öffentliche Meinung hat sich unter dem Eindruck der Finanzkrise
gewandelt. Jetzt [5][tritt eine neue, noch ganz junge Generation von
Arbeitnehmer*innen an] – und diese hat sich nicht zuletzt [6][durch
die Black-Lives-Matter-Proteste stark politisiert].
Zurück zur Starbucks-Filiale in Boston, in der seit zwei Monaten gestreikt
wird. An der nahe gelegenen Universität ist heute der erste Vorlesungstag
nach den Semesterferien. Immer wieder kommen Studierende mit Kaffeedurst
vorbei, doch statt eines Latte Macchiato bekommen sie hier nun Infomaterial
zum Arbeitskampf in die Hände gedrückt. Manche gehen gleich weiter, zum
nächsten Starbucks-Laden, nur fünf Minuten entfernt. Andere aber werden
neugierig, bleiben stehen – und beginnen angeregte politische Diskussionen,
untereinander und mit den aufgebrachten Baristas.
## „Wir sind immer unterbesetzt und überarbeitet“
Gabrielle ist mit ihrer Schicht durch, die grüne Barista-Schürze trägt sie
noch bei sich. Es ist ein träger Nachmittag in einem Vorort von Salt Lake
City. Nur am Drive-in stauen sich die Autos: Der Reihe nach bestellen
Kund*innen am Mikrofon, bekommen Kaffee durch das Fenster gereicht und
fahren weiter.
„Für viele in meinem Alter ist die Arbeit hier eine Zwischenstation, ein
Nebenjob. Ich habe nicht viele Wahlmöglichkeiten in meinem Leben. Da ist
das Starbucks-Studienprogramm, zusammen mit der Krankenversicherung ein
echter Rettungsanker. Dafür bin ich sehr dankbar,“ erzählt Gabrielle.
Die Mutter von zwei Kindern spricht überlegt, sie macht Pausen zwischen den
Sätzen. Auf die Frage, wieso sie der Gewerkschaftsbildung zugestimmt hat,
zögert Gabrielle kurz: „Als die Pandemie sich zurückzog, schien alles zur
Normalität zurückzukehren – nur Starbucks kam nicht aus dem Krisenmodus.
Die Personalsituation ist verrückt, wir sind immer unterbesetzt und
überarbeitet, besonders morgens. Dann kam die Scheidung von meinem Mann.
Meine Kinder hatten sich mit Corona angesteckt, ich musste drei Wochen zu
Hause bleiben, bekam aber nur fünf Krankheitstage bezahlt und hätte also
fast die Ansprüche auf meine Krankenversicherung verloren. Ich war
frustriert und ängstlich zugleich. Durch die Gewerkschaft ist mir klar
geworden, dass ich nicht einfach darauf warten kann, dass die Filialleitung
oder die Firma meine Arbeitsbedingungen verbessern.“
## „Schon mit 17 wurde ich für Doppelschichten eingeteilt, als
Minderjährige“
Hätte ich gewusst, dass es Gewerkschaften gibt, wäre ich schon an meinem
zweiten Arbeitstag beigetreten.“ Laila sitzt am Rand des Demonstrationszugs
am New Yorker Times Square und ist sichtlich erschöpft. Zwei Flüge hat die
19-Jährige hinter sich, um bei diesem Labor Day am 5. September dabei zu
sein. Auch sie hat vor der Menge eine kleine Rede gehalten, und die
Demoroute war weit: von der Zweitwohnung des scheidenden Starbucks-CEOs
Howard Schultz zogen die Protestierenden zur Zweitwohnung von Jeff Bezos,
CEO von Amazon, insgesamt einmal quer durch Manhattan.
Lailas Hände mit den roten Klebenägeln werden unruhig, wenn sie über ihre
Arbeitsbedingungen spricht: „Als ich mit 17 bei Starbucks anfing, wurde
gegen alle Regeln der Beschäftigung von Minderjährigen verstoßen, an
manchen Tagen waren es zwei Schichten hintereinander, neben der Schule. Mit
der Pandemie wurde es schlimmer. Ich blieb dabei, weil ich nicht
verschuldet studieren wollte.“ Als dann ein Krankenhausaufenthalt die
Finanzierung ihres Studiums durch ihren Arbeitgeber infrage stellte, wandte
sich Laila an einen älteren Kollegen: „Ich war wirklich verzweifelt und
sagte Bill, dass ich hinschmeißen würde. Da fragte er mich, ob ich
stattdessen versuchen wolle, eine Gewerkschaft zu gründen. So haben wir
angefangen, mit unseren Kolleg*innen zu sprechen.“
Nach nur zwei Tagen, am 22. Januar 2022, hatten 12 der 19 Angestellten der
Filiale im Norden von Phoenix ihr Interesse bekundet – damit war dann
bereits die dritte Starbucks-Filiale im Bundesstaat Arizona auf dem Weg der
Gewerkschaftsgründung.
Prompt setzten die Repressionsmaßnahmen ein: Am folgenden Montag wurde
Laila zum ersten Mal in mehr als zwei Jahren Beschäftigung schriftlich
verwarnt. Über Monate wechselten sich Vorladungen zu Vorgesetzten und
Verwarnungen ab. Laila begann, Teile der Gespräche als Beweismaterial
mitzuschneiden. Kurz vor der offiziellen Abstimmung zur
Gewerkschaftsgründung wurde sie entlassen. Nun bemüht sie sich, ihr Studium
dennoch abzuschließen, spricht immer wieder bei Veranstaltungen von
Starbucks Workers United und hat eine weitere, eigene Organisation
gegründet, die Restaurantarbeiter*innen vertritt. „Früher war ich
sehr schüchtern, konnte mich kaum mit Leuten unterhalten und schon gar
nicht vor Publikum sprechen. Ironischerweise habe ich das bei der Arbeit am
Starbucks-Drive-in gelernt.“
## „Der halbe Laden war kurz davor, hinzuschmeißen“
Es ist ein heißer und trockener Tag in Phoenix. Bill, der seine junge
Kollegin Laila vor knapp einem Jahr zur Gewerkschaft gebracht hat, wohnt
nur ein paar Straßen von seinem ehemaligen Arbeitsplatz entfernt. Bills
Hunde hecheln pausenlos, ein Wasserzerstäuber soll die 44 Grad
Außentemperatur erträglicher machen. Bei Starbucks hatte Bill im Mai 2020
angefangen, nachdem seine eigene Veranstaltungsfirma wegen der Pandemie
dicht machen musste. Er betont, wie schwer es sei, sich im schnellen
Arbeitsumfeld der Kette zurechtzufinden: „Ich höre schlecht, hatte damals
aber noch kein Hörgerät, und es gab Personalmangel bei einer Schicht. Also
stand ich selbst am Drive-in-Mikrofon und wurde immer gestresster und
gestresster. Aber über die Zeit fand ich Spaß an der Arbeit und wurde immer
besser.“
Was eine berufliche Übergangslösung sein sollte, wurde zu einer kleinen
Karriere: Laila und Bill bewarben sich beide auf Schichtleitungstellen.
„Hier wurde mir erst wirklich bewusst, unter welchem Personaldruck wir
arbeiteten. Ich wurde schlecht für die neue Rolle angelernt und sah überall
nur noch Ungleichbehandlungen. Also sprach ich mit den Mitarbeiter*innen,
schrieb eine E-Mail, wir redeten auf Zoom. Bald stellte sich heraus, dass
der halbe Laden drauf und dran war, hinzuschmeißen.“
Die ersten Pläne für eine Gewerkschaftsgründung stießen auf große Resonanz
in der Belegschaft – und sogleich bekam auch Bill Repressionen zu spüren:
„Dann ging der Druck erst richtig los. Ständig hatten wir uns über
Personalmangel beschwert, doch in der Woche vor unserer Gründungsabstimmung
wurden plötzlich sieben neue Leute angestellt. Sie waren alle nicht in
unserem Laden angelernt worden, um den Kontakt kleinzuhalten. Und nach
unserer Abstimmung wurden sie sofort wieder abgezogen.“ Unentschlossene
Baristas mussten zu Einzelgesprächen mit Vorgesetzten antreten, ihnen wurde
der Entzug der Zusatzleistungen angedroht. Wer die Gewerkschaftsgründung
befürwortete, wurde gekündigt – wie Laila traf es auch Bill.
Seine frühere Filiale betreffend ist Bill pessimistisch: „Mittlerweile
haben sie dort im Personal fast alle Leute ausgetauscht.“ Beeindruckt hat
ihn jedoch die Welle von Solidarität aus der sonst eher konservativen
Bevölkerung in Arizona: Ringsum haben Beschäftigte anderer gewerkschaftlich
organisierter Branchen, etwa Restaurant- und Hotelkräfte, solidarisch
Gelder zur Verfügung gestellt. Damit können beispielsweise Lohnausfälle bei
Streiks ausgeglichen oder Übergangsgelder für gefeuerte Beschäftigte
finanziert werden.
Bill klingt euphorisch, wenn er die Neuartigkeit dieser Bewegung betont:
„Das ist alles von Arbeiter*innen selbst getragen, so gab es das in den
Vereinigten Staaten noch nie! Alle, die auf Stundenbasis bezahlt werden,
rufen wir auf, sich zu organisieren. Ob demokratisch oder republikanisch.
Das ist keine Frage der politischen Orientierung für mich.“
Heute arbeitet er in einem anderen Café und als Aushilfslehrer und baut
zusammen mit Laila die Arbeitnehmer*innenvertretung aus. „Wir haben
Kontakt zu Uber-Fahrern, zur Cannabisindustrie, zu Restaurants. Wir
versuchen, allen zu vermitteln, dass es nichts hilft, sich mit dem Chef
einzeln zum Plausch zu treffen – es ist an der Zeit, sich zu organisieren.“
## „Die Leute haben auch gearbeitet, wenn sie Corona-positiv waren, es gab
Druck“
Viele meiner Kolleg*innen sind nicht wirklich politisch, aber kommen aus
prekären Gegenden wie Compton – die leben einfach hier, haben Armut,
Polizeigewalt, Rassismus erlebt. Und das Gefühl, alleingelassen zu werden.
Als in Buffalo die allererste Starbucks-Gewerkschaft entstand, wusste ich
sofort, dass das auch hier passieren muss. Ich konnte so nicht mehr leben,
niemand von uns kann so leben, mit einem miserablen und prekären Job, in
dem wir ständig unterbesetzt sind. Also war es höchste Zeit, etwas zu tun.“
Tylers düstere Stimmung passt nicht recht in diesen sonnigen Nachmittag in
Long Beach, Kalifornien. Er spricht von Boni für Filialleitungen, die sein
Gehalt übersteigen. Davon, dass von den rund 10.000 Dollar Umsatz, die jede
Woche im Laden generiert werden, bei den Baristas kaum etwas ankommt,
während ein einzelner Konzerngeschäftsführer jährlich um die 20 Millionen
Dollar kassiert.
Der 26-Jährige hat viele Kontakte, kennt Aktivist*innen der Bewegung
überall im Land, zählt wohl zu denen, die man in den USA „online people“
nennt: ein Mensch, der sich viel im Netz austauscht. Er spricht von
Freund*innen bei den Gewerkschaften von Amazon, dem Telefoniegiganten
Verizon und der Restaurantkette Chipotle, alle hat er auf Twitter
kennengelernt. „Natürlich gibt es nicht den einen Grund dafür, dass sich
diese Gewerkschaften so rasend schnell verbreiten. Aber die Erfahrung der
Pandemie, die viele Zeit im Internet – das hat schon etwas verändert bei
den Leuten“, glaubt er.
„Als die Unternehmen nach den schlimmen Corona-Wellen so schnell versucht
haben, wieder auf Normalbetrieb zu schalten, sind viele nicht mitgegangen.
Unser Café war nie geschlossen. Im Mai 2020 gab es einen
Drei-Dollar-Stundenbonus für diejenigen, die trotz der Pandemie
weiterarbeiteten, aber der war nach zehn Wochen auch wieder weg. Die
Haltung von oben war: Wenn ihr nicht arbeiten wollt, dann geht doch! Die,
die geblieben sind, mussten Mehrarbeit leisten. Es gab zehn Tage bezahlte
Krankschreibung, weil das staatlich festgeschrieben war. Leute haben
gearbeitet, auch wenn sie positiv auf Corona getestet waren, mit Maske
eben. Da haben sich einige irgendwann doch dagegengestellt.“
In Tylers Wahrnehmung liegen die Ursprünge für die Frustration aber noch
weit vor der Pandemie: „Gerade in dieser Generation, wo so viele Leute
sehen, dass ein Universitätsabschluss sie nirgendwohin bringen wird und
dass die Welt auf eine riesige Klimakrise zuläuft, ist das Narrativ des
amerikanischen Traums ziemlich ausgeleiert. In dieser gesellschaftlichen
Stimmung bin ich in den Arbeitsmarkt eingetreten, mit 19. Ich wurde bei der
Arbeit niedergemacht und wusste dabei genau, dass ich finanziell auf keinen
grünen Zweig kommen würde.“
Anderen in seiner Altersgruppe gehe es ähnlich: „Eine Zeit lang war es um
mich herum Mode, ständig den Job hinzuwerfen und woanders anzufangen. Aber
was bringt es, vom Regen in die Traufe zu wechseln? Man muss etwas
verändern.“ Dass diese Veränderung sich nun gerade bei Starbucks Bahn
bricht, wundert ihn nicht: „Diesem Unternehmen ist die eigene
Personalpolitik von Diversität und Inklusion auf die Füße gefallen. Bei uns
gibt es dazu einen Running Gag: Wie konnte Starbucks keine
Gewerkschaftsbewegung erwarten, wenn alle Leute, die sie einstellen, queer
und links sind?“
## „Niemand hatte Ahnung. Das Wichtigste mussten wir uns selbst beibringen“
Das große amerikanische Ding ist wirklich, dass die Trennung zwischen
Arbeit und Privatleben eine so geringe Rolle spielt. Arbeitgeber behaupten,
dass alle Familie und Freunde seien, und dann versuchen sie, dich
auszunutzen“, sagt Kit. „Aber ich bin nicht deine Familie, und ich bin auch
nicht deine Freundin, das hier ist meine Arbeit. Wenn es ein Problem gibt,
muss man das angehen, und da hilft übertriebene Höflichkeit nicht.“
Am Arbeitsplatz von Kit und ihrer alleinerziehenden Kollegin Gabrielle in
Salt Lake City sind die Starbucks Workers United sofort sichtbar, auf
ausliegenden Flyern und Ansteckern. „Ein Faktor ist sicher, dass wir hier
unsere Rechte kennen und Verstöße dagegen immer sehr bestimmt und sofort
angesprochen haben. So vieles hier war anfangs improvisiert.
Kolleg*innen kamen zu mir mit Fragen, und alles, was ich sagen konnte,
war:,Keine Ahnung, ich hab doch nicht Jura studiert, ich arbeite hier bloß,
wie ihr.' Und weil niemand eine Ahnung hatte, mussten wir uns das
Wichtigste eben selbst beibringen.“ Kit überlegt kurz, dann grinst sie.
„Vielleicht bin ich auch einfach streitlustig und habe keine Angst vor
Konfrontationen.“
Kit spricht leise, klingt aber sehr bestimmt dabei. Die Hauptarbeit fällt
für sie am Drive-in an: Ein Bildschirm listet Bestellungen auf, in roten
und grünen Ziffern wird die Bearbeitungszeit sekundengenau gemessen. Kit
und Gabrielle wechseln sich bei den Schichten ab. Vor dreieinhalb Jahren
hat sie bei Starbucks angefangen, auch wegen der Krankenversicherung, die
geschlechtsangleichende Operationen abdeckt. „Viele andere Arbeitgeber
haben Angebote, die eine günstigere und bessere medizinische Versorgung
gewährleisten – aber eben nicht diese Operation, weil sie sie als
kosmetischen Eingriff ansehen. Ich kenne viele trans Leute, die explizit
deshalb hier arbeiten. Auch sind Cafés generell liberalere Orte, das gilt
besonders hier im konservativen Utah.Viele queere Leute finden deshalb eine
Heimat in dieser Branche.“
Sie selbst hat die Arbeit in der Gastronomie aber nicht nur aus rein
pragmatischen Gründen gewählt: „Ich mag diesen Beruf wirklich gern: Ich mag
es, mit unseren Kund*innen zu quatschen, und bin eine
Kaffee-Enthusiastin. Wenn Geld nicht das Problem wäre, könnte ich mir das
für eine wirklich lange Zeit vorstellen.“ Ihre Zukunft, meint Kit, hänge
aber entscheidend an der Gewerkschaft: „Da ist viel Hoffnung im Spiel. In
unserem Bundesstaat gibt es bis heute nur zwei gewerkschaftlich
organisierte Starbucks-Filialen. In letzter Zeit aber, seitdem wir
Tarifverhandlungen vorbereiten können, haben wir insgesamt einen Gang
zugelegt. Das fühlt sich gut an. Wir haben wirklich versucht, Starbucks an
den Verhandlungstisch zu bekommen, und haben uns viel mehr untereinander
abgesprochen. Im späten Oktober beginnt nun unsere erste
Verhandlungsrunde.“
Diese betrifft nicht nur ihre Filiale allein: „Wenn die Gewerkschaften bei
Starbucks und Amazon Erfolg haben, kann das etwas sehr Großes lostreten.
Niemand versteht das besser als die, denen diese Unternehmen gehören, und
man spürt, dass sie bereit sind, weit zu gehen, um die Entwicklung
aufzuhalten. Wenn die Gewerkschaften bei Starbucks und Amazon scheitern,
dann wird es für lange Zeit nichts Vergleichbares geben. Es steht also viel
auf dem Spiel. Wir werden bald sehen, ob man optimistisch sein kann.“
22 Oct 2022
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Matthias Weigand
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