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# taz.de -- Kita-Streik in Jena: Streiken ist kein Kinderspiel
> Kitaerzieher:innen sehen sich als Idealist:innen, denen es nur um
> die Kinder geht. Wie schafft man es, dass sie für eigene Interessen
> einstehen?
Um zwölf Uhr wird es ernst an diesem 24. Februar. Dann sollen 15
Erzieher:innen den Raum im obersten Stock eines Tagungshauses in Jena
verlassen, in die Kindergärten der Stadt fahren und die Kolleg:innen
dort fragen, ob sie in knapp zwei Wochen mit ihnen zusammen morgens nicht
zur Arbeit gehen, sondern streiken.
B. steht ganz hinten im Raum, fast an der Wand, da wo die Februarsonne
durchs Fenster ein helles Viereck aufs Parkett zeichnet. Sie zieht den Kopf
zwischen die Schultern und sagt: „Mir ist schlecht. Gleich muss ich die
richtigen Sätze sagen und mein Kopf ist völlig leer.“ „Wollt ihr vorher
noch etwas essen?“, fragt die Gewerkschaftssekretärin. Es ist 11:36 Uhr, 24
Minuten bis zur Abfahrt. B. rollt mit den Augen und seufzt. „Ich kann
nichts essen“, sagt sie. „Ich muss auf die Toilette.“
Für den 8. März, den Internationalen Frauentag, hat [1][die Gewerkschaft
Verdi in ganz Deutschland zu Warnstreiks aufgerufen]. Vor allem
Erzieher:innen aus Kindertagesstätten oder, wie sie in Thüringen
heißen, Kindergärten, gehen auf die Straße. Verdi will damit den Druck
erhöhen auf die Arbeitgeber:innen, die in der Vereinigung der kommunalen
Arbeitgeberverbände zusammengeschlossenen Städte und Gemeinden.
„Ruft auf.“ – „Druck erhöhen.“ Diese oft gelesenen Formulierungen ma…
das Ritualhafte eines Arbeitskampfes deutlich. Wenn über Streiks
geschrieben wird, klingt das oft so, als müssten sie in den
Gewerkschaftshäusern nur einen Hebel umlegen, eine Maschine anwerfen und
schon stellen sich Demonstrant:innen mit bemalten Bettlaken und Fahnen
auf die Straße.
Doch in der Wirklichkeit müssen Menschen wie B. dafür ihre Schüchternheit
überwinden, die Scheu, sich bei ihren Chef:innen unbeliebt zu machen und
bei Kolleg:innen auch. Es ist ja so: Wenn eine Gewerkschaft streikt und
die Arbeitgeber:innen am Ende mehr Geld rausrücken, bekommen das alle.
Nicht nur die Mitglieder, nicht nur die, die in der Märzkälte durch den
Regen gelatscht sind.
Wie kriegt eine Gewerkschaft also Menschen dazu, zu streiken?
In Jena beginnt die Vorbereitung auf den Warnstreik einen Monat vorher mit
einer Therapiesitzung. Jedenfalls fühlt sich das, was am 9. Februar in dem
Keller des Tagungshauses passiert, ein bisschen so an. B. sitzt mit 14
Frauen, 3 Männern und einem blonden kleinen Mädchen in einem Oval aus
Stühlen. Die meisten sind Erzieher:innen in Kindergärten wie B. Und sie
sind ehrenamtlich bei Verdi.
## Aktive sollen andere zum Streik animieren
Sie sind entscheidend dafür, ob der Warnstreik ein Erfolg wird oder nicht.
Sagt [2][Katja Barthold], eine von zwei hauptamtlichen Gewerkschafterinnen,
die im Stuhlkreis steht. Sie nennt die Menschen, die heute hier sind,
„Aktive“, Schlüsselfiguren, die andere in ihren Betrieben zum Streiken
animieren sollen. Barthold ist die Frau, die B. und ihre Kolleg:innen
dann in knapp zwei Wochen in die Jenaer Kindergärten schicken wird. Die
dafür sorgt, dass B. Angst kriegt.
„Wie geht es Euch denn?“, fragt Katja Barthold die Menschen, die vor ihr
sitzen. Dann wirft sie einen graugrünen Ball. Die Person, die ihn fängt,
soll antworten und den Ball weitergeben. Der Ball landet bei B. Sie trägt
ihre braunen Haare im Pagenschnitt, ihr Gesicht hat etwas Ernstes, auch
wenn sie lächelt. Sie wäre eigentlich mit ihrer besten Freundin K. hier,
aber die liegt mit Corona im Bett. B. schweigt kurz, dann sagt sie: „Mir
geht es gut. Ich möchte eigentlich eher für bessere Bedingungen kämpfen als
für mehr Geld.“ Danach gibt sie den Ball weiter.
Sie schlafe seit der letzten Dienstbesprechung nicht mehr gut, sagt eine
andere Kollegin. Sie möchte in ihrem Kindergarten nicht als Unruhestifterin
gelten und hätte lieber mehr Personal als mehr Gehalt. Ein Mann in der
Runde sagt, 500 Euro mehr hörten sich fast vermessen für ihn an.
[3][Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Lohn oder mindestens 500 Euro mehr
Gehalt.] Es wirkt beinahe so, als wäre Katja Barthold, die
Gewerkschaftssekretärin, mit dem falschen Angebot in den Keller gekommen.
Die Kindergärtner:innen hier sehen sich als Idealist:innen und
wollen auch so gesehen werden. Als Menschen, denen es um Kinder geht und
nicht ums Finanzielle. Barthold könnte jetzt unruhig werden. Aber sie hört
nur zu. Bis die ersten in der Runde sagen, dass Geld auch eine Form von
Anerkennung ist. Bis eine Frau über ihre Angst vor einer kleinen Rente
spricht, vor der Armut im Alter.
„Die Kolleginnen sind im Zweifel immer für bessere Bedingungen und nicht
für mehr Geld“, sagt Claudia Braungart. „Aber wir müssen doch zusammen
kämpfen.“ Braungart sendet diese Jamie-Lee-Curtis-Schwingungen aus, die
einem das Gefühl geben: Egal, wie früh man aufgestanden ist, Claudia war
auf jeden Fall schon wach und hat Kaffee getrunken. Geboren ist sie in
Stuttgart, gewohnt hat sie in Berlin und Bochum, seit ein paar Jahren lebt
sie in Thüringen, seit Kurzem in Jena. Sie ist seit 1989 in der
Gewerkschaft und „kämpfen“ ist heute ihr Lieblingswort.
Nach und nach tröpfelt aus den Erzieher:innen heraus, was sie an ihrer
Arbeit stört. Sie müssen zu viele Kinder betreuen, ständig sind
Kolleg:innen krank, viele arbeiten trotzdem. Sie sollen Kinder aus der
Ukraine und Syrien integrieren, sie zahlen ihren Arabischkurs selbst. Sie
haben Angst, dass bald viele Kolleg:innen in Rente gehen und niemand
nachkommt. Gerade die Arbeit mit kleinen Kindern, die noch getragen werden
müssen, sei schwer und von älteren Erzieher:innen kaum noch zu
schaffen. Oder wie eine dieser älteren Frauen sagt: „Abends bin ich tot.“
Ihre Stimmen werden lauter, manche klingen wütend. Ob alle den Brief des
thüringischen Bildungsministers gelesen hätten, fragt eine mit Bommelmütze.
In dem bedankt sich der Linkenpolitiker für die Arbeit während der
Coronapandemie. „Für so allgemeines Blabla kann ich mir nichts kaufen“,
ruft die Bommelmützenfrau. „Den Brief hätte ich am liebsten gefressen.“
Es macht auch ein Gerücht die Runde, niemand weiß so recht, ob es in der
Zeitung stand oder in einer Mail der Stadt an die Kindergärten: Es gebe 600
Kita-Plätze zu viel in Jena. Einige der Frauen fürchten, sie könnten
gekündigt werden. Die, die streiken, sind dann doch bestimmt als Erstes
dran. „Wie oft habe ich das von den fallenden Kinderzahlen schon gehört“,
sagt B. und atmet so laut aus, dass es im ganzen Keller zu hören ist. „Wie
oft jagen sie uns damit noch Angst ein?“
Angst. Es hat einen Grund, warum B. hier nur mit der Abkürzung ihres Namens
auftaucht. Sie ist 52, seit 1990 Mitglied in der Gewerkschaft. Sie hat
schon mehr als einen Streik hinter sich. Und wenn sie nicht gerade jemanden
als erste ansprechen muss, dann kann ihre Stimme sehr fest sein. Doch B.
möchte nicht so leicht im Internet gefunden werden. Damit ist sie hier
nicht allein.
In Jena sind Gewerkschaftsmitglieder, wie meistens in Ostdeutschland, in
der Minderheit. Von den etwa 220 Erzieher:innen in den kommunalen Kitas
sind knapp 70 bei Verdi. Die, die sich wirklich reinhängen fürs Arbeiten
und Organisieren, sind nochmal weniger.
Claudia Braungart will nicht anonymisiert werden. Vielleicht weil sie aus
dem Westen kommt, wo die Menschen weniger öffentlichkeitsscheu sind. So
lautet ein ostdeutsches Klischee. Vielleicht stimmt daran auch etwas. „Hier
schämen sich Leute, dass sie in der Gewerkschaft sind“, sagt Braungart.
„Das kenne ich gar nicht.“ Sie sagt, in Bochum waren 80 Prozent ihrer
Kolleg:innen bei Verdi. Vielleicht ist es Braungart auch einfach
gewöhnt, aus einer Position zu sprechen, die keine Mehrheit hat. Sie ist
auch Mitglied einer kleinen kommunistischen Partei, die sehr wenige
Menschen wählen.
## Furcht vor dem Zorn der Eltern
Angst davor, die Arbeit zu verlieren, ist das eine. Angst davor, als von
der Gewerkschaft gesteuerte Unruhestifterin zu gelten, das andere. Aber die
größte Furcht scheinen die Erzieher:innen vor den Eltern zu haben. Die
Eltern könnten sie für geldgierig halten, fürchten sie. Die Eltern könnten
am 8. März gestresst sein, weil sie ihre Kinder selbst betreuen müssen. Die
Eltern könnten sich andere Kindergärten suchen. Nur 11 sind in kommunaler
Hand, über 50 werden in Jena von freien Trägern betrieben. Die streiken
seltener.
B. sagt: „Wir wollen die Eltern mit ins Boot holen.“
Claudia Braungart sagt das auch.
Die Erzieher:innen wollen Briefe an die Eltern schreiben. Am besten
auch in Ukrainisch und Arabisch. Naja, eigentlich wollen sie, dass Verdi
das macht. Katja Barthold pumpt die Wangen auf und lässt durch den
gespitzten Mund langsam die Luft entweichen. Sie muss sich auch noch mit
den Busfahrer:innen befassen, da will sie auch Aktive finden. Nach
Weimar und Saalfeld müsste sie auch mal wieder. An einer Wand in ihrem Büro
hängen elf Rechtecke aus Buntpapier, die stehen für die Unternehmen, auf
die sie sich gerade konzentriert. Würde sie für alle ihre Betriebe ein
buntes Rechteck an die Wand pinnen, bräuchte sie wohl ein zweites Zimmer.
„Ich rede mal mit dem Stadtelternrat“, sagt Katja Barthold. Und sie fragt:
„Kriegen wir im März die Hälfte der Kitas zu? Oder 100 Leute zum Streik?“
Am besten beides, das wäre ein Erfolg.
„Können wir das unserer Kita-Leitung so sagen? Dass die Kitas zu sein
sollen?“, fragt eine Erzieherin.
„Das entscheiden die doch nicht!“ Katja Barthold geht in die Knie und
faltet die Hände. „Sondern ihr!“
Die Erzieher:innen entscheiden jedenfalls, dass sie das nächste Mal in
die Kindergärten gehen. Und sie machen bei WhatsApp eine Chatgruppe auf.
Am 23. Februar verhandeln die Vertreter:innen der Gewerkschaft und der
Kommunen in Potsdam. Die Arbeitgeber:innen bieten 3 Prozent in diesem
Jahr und 2 Prozent im nächsten. Außerdem wollen sie ihren Beschäftigten
2.500 Euro zahlen, um die Inflation auszugleichen, verteilt über zwei
Jahre. Verdi droht mit Warnstreiks.
Am Tag darauf treffen sich die Erzieher:innen im Tagungshaus in Jena
wieder, dieses Mal in dem Raum unterm Dach. Claudia Braungart ist nicht da,
der Kita-Leiter, der beim letzten Mal noch dabei war, fehlt ebenfalls. B.
hat eine junge Kollegin mitgebracht.
Eine Erzieherin erzählt, ihre Vorgesetzte habe mit ihr darüber gesprochen,
ob man mit den Kolleg:innen, die nicht streiken wollen, einen Notdienst
einrichten könnte. Damit wenigstens einige Eltern ihre Kinder abgeben
können. Aber Notdienste könnten nur die Tarifparteien miteinander
vereinbaren, also Verdi und die Stadt Jena. „Löst bitte nicht die Probleme
der Arbeitgeber“, sagt Katja Barthold.
Ein Gewerkschafter aus Halle soll per Video zugeschaltet werden. Der
Bildschirm von Bartholds Laptop funktioniert nicht richtig. Also steht da
nur „Marcus“ und eine Männerstimme sagt: „Ihr habt doch gerade erst
angefangen, Euch zu organisieren. Nehmt Euch nicht zu viel vor. Wenn ihr
70, 80 Leute auf die Straße bekommt, das wäre doch echt der Knaller.“
Ein paar Frauen lachen.
Katja Barthold hat auch mit dem Sprecher des Stadtelternrates geredet. Der
findet es gut, dass endlich mal was passiert.
Ein Aufatmen durchfährt den Raum. Die Eltern machen mit.
Aber die Erleichterung hält nicht lange. Katja Barthold fragt, wer am 8.
März auf der Demonstration reden will. Sie sagt: „Versteckt Euch nicht
hinter Claudia, ich werde Euch finden!“ Außerdem möchte sie Streikposten
vor die Kindergärten stellen. Morgens um sieben. Sie hat die Namen der
Häuser auf Buntpapier geschrieben und vorn an eine Tafel geklebt. Jede:r
im Raum soll seinen oder ihren Namen dorthin schreiben. B. sagt, sie hat
Angst.
„Wir machen uns einen richtig guten Tag“, sagt Barthold.
Dann ist es 12 Uhr. Es geht los. Katja Barthold, B. und eine Fahrerin
fahren Richtung Kindergärten, zwei Neubaublocks aus DDR-Zeiten. Die
Stimmung im Auto ist gelöst, man erzählt sich, was Kinder sich so alles in
die Nase schieben. Es läuft laute Rapmusik.
Im ersten Haus fängt eine blonde Frau die drei ab. Nein, sie könnten jetzt
nicht nach oben, dann würden sie die Kinder aufwecken. Streikende
Erzieherinnen, die nicht nur Stress machen, sondern auch noch Kinder nicht
schlafen lassen? Widerstrebend lassen sich Katja Barthold, B. und ihre
Fahrerin in ein kleines Zimmer führen. „Ich frag mal oben nach, ob jemand
Lust hat, mit Euch zu reden“, sagt die blonde Erzieherin.
Nach fünf Minuten kommt niemand, nach zehn Minuten auch nicht. Dann geht
die Tür auf. Eine Frau in schwarzen Leggins und einem weiten grauen
Oberteil stürmt herein. Sie redet schnell: „Leute, ihr müsst da was
machen!“ Sie zählt auf, was die drei Frauen selbst kennen. Zu viele Kranke.
Zu viel Arbeit. Zu wenig Personal. B. sagt: „Mit Verdi können wir dieses
Mal nur für Geld demonstrieren, aber meine Vision ist, dass wir uns wieder
mehr vernetzen und stärker werden.“
Die Frau sagt, sie kommt am 8. März. Dass hier heute noch jemand anderes
mit den Dreien redet, glaubt sie nicht.
Im zweiten Kindergarten treffen Katja Barthold und B. eine Kollegin, die
beim Treffen am 9. Februar auch im Keller saß. Sogar ihre Chefin sei für
den Streik, hat sie damals gesagt. Doch die Stimmung hat sich gedreht. Die
Leitungen hätten irgendetwas beschlossen, sagt die Kollegin. Dass sie den
Streik nicht unterstützen, so genau weiß sie das nicht. Sie kann sich nicht
vorstellen, dass aus ihrem Haus viele kommen.
Auf dem Weg zurück ist die Stimmung gedrückt. Als die anderen Gruppen
zurückkommen, sieht es so aus, als würden am 8. März nur drei Kindergärten
schließen. Ob 80 oder sogar 100 Leute streiken, ist ebenfalls unsicher.
Am 2. März ist Mitgliederversammlung bei Verdi. In einem kleinen Zimmer im
Gewerkschaftshaus, zwei Türen neben Katja Bartholds Büro. Sie hat
Farbflaschen hingestellt, Eddings und Pappschilder, die aussehen wie große
Sprechblasen. Außerdem weiße Transparente zum Bemalen.
B. liegt krank im Bett, dafür ist ihre beste Freundin K. da. Claudia
Braungart sagt zu Katja Barthold: „Guck mal in die Zeitung.“ Barthold
scrollt auf ihrem Smartphone. Jenas Oberbürgermeister erzählt von sinkenden
Geburtenraten und dass die Stadt zu viele Kita-Plätze hätte: „Wir sind
planerisch dem Mangel hinterhergelaufen“, liest Barthold vor.
„Da kriegst du doch das Kotzen“, sagt Braungart und verschränkt die Arme.
„Aber so etwas haben sie in Bochum vor den Streiks auch versucht.“ Sie
schreibt in eine Sprechblase aus Pappe: „Volle Kampfkraft für 10,5 %“ und
in eine andere „Waffen runter! Löhne rauf!“.
Am Tag vor dem Streik fahren Katja Barthold und eine Erzieherin noch einmal
durch die Kindergärten. Zwei Aktivist:innen vom feministischen Streik,
die mit Verdi zusammenarbeiten, machen das ebenfalls. Sie sprechen Eltern
an, verteilen Postkarten. Von etwa dreißig Menschen, die mit ihnen reden,
reagieren nur drei genervt. Es sieht wieder besser aus als am 24. Februar.
Die Gewerkschafterin, die mit Barthold das erste Treffen organisiert hat,
stellt eine Tabelle in den WhatsApp-Chat. In der Spalte „Einrichtung zu“
steht bei vier Kindergärten ein „Ja“. Bei dreien ein „Unsicher“.
## Schneesturm und zerstochene Reifen
Die schlechten Nachrichten kommen am Abend. Katja Barthold steht in ihrem
Büro und schaut auf ihr Smartphone. „Scheiße, morgen gibt es einen
Schneesturm. 90 Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit.“ Außerdem hat
irgendwer dem Kleinbus, mit dem eine Gewerkschafterin Fahnen und
Transparente aus Erfurt nach Jena bringen sollte, die Reifen zerstochen.
Nazis, vermutet Barthold, das passiere alle drei, vier Monate. Die Fahrerin
ist dazu noch krank. Die Fahnen bleiben in Erfurt.
Am Morgen des 8. März stellt sich B. nicht als Streikposten vor einen
Kindergarten. Das macht ihre beste Freundin K. Um 5 Uhr steht sie dafür
auf. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle läuft sie durch Schnee. Ihr
blasses Gesicht verschwindet bis auf die blauen Augen hinter einer Mütze
und einem riesigen Schal. Um 7.08 Uhr steht sie vor dem Kindergarten und
zieht sich ihre gelb leuchtende Verdi-Weste an. Die Fenster der umgebauten
Villa sind dunkel. Sie rüttelt am Tor, Flocken rieseln herunter. Sie ist
umsonst hier, aber aus einem guten Grund: der Kindergarten hat geschlossen,
weil die meisten Erzieher:innen zum Streik gegangen sind. Das war am
Abend zuvor noch nicht klar.
Claudia Braungart steht ebenfalls vor einem Kindergarten. Auch der bleibt
zu.
Um 8.30 Uhr treffen sich B., K., Braungart und Katja Barthold wieder in dem
Tagungshaus, in dem sie diesen Streik vorbereitet haben. Später sollen sie
mit dem Bildungsminister diskutieren, mit dem stellvertretenden
Bürgermeister und der Fachdienstleiterin für Jugend und Bildung. Aber das
interessiert B. gerade nicht. Sondern nur, dass die Zimmer und Flure voller
Menschen in gelben Verdi-Westen sind.
B. umarmt Barthold. Sie sagt: „Ach, das hätte ich nicht für möglich
gehalten.“ Claudia Braungart lacht und umarmt eine Kollegin. „Dieses ganze
Lamentieren nützt doch nichts. Am Ende wird es immer gut.“
Es sind nicht nur 100 Erzieher:innen da, sondern 150. Sechs von elf
kommunalen Kitas haben zu.
Der stellvertretende Bürgermeister sagt in der Diskussion, er könne den
Erzieher:innen zwar nicht garantieren, dass sie für immer im gleichen
Kindergarten arbeiten können. Aber dass sie nicht gekündigt werden, das
schon.
Um 13 Uhr startet die Kundgebung. Es regnet, es ist kalt, manche Reden sind
zu lang, aber die meisten Leute bleiben trotzdem. K. und B. stehen in der
Mitte des Platzes und treten vom linken Bein aufs rechte. Claudia Braungart
wischt mit einem Papiertaschentuch Wasser von ihrem Pappschild. „Waffen
runter! Löhne rauf!“
Um 14.19 Uhr laufen sie dann los. Die Demonstration dauert 20 Minuten.
12 Mar 2023
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Daniel Schulz
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