# taz.de -- Arbeitskampf in den USA: Der Zorn des neuen Proletariats | |
> Sie sind jung, fleißig, selbstbewusst – und wollen sich nicht länger | |
> ausbeuten lassen. Jetzt streiten Starbucks-Beschäftigte US-weit für ihre | |
> Rechte. | |
Bild: Mit bunten Buttons zeigen Menschen US-weit ihre Solidarität mit den Kaff… | |
Der Eingang zur Starbucks-Filiale auf der Commonwealth Avenue in Boston ist | |
verbarrikadiert. Seit fast zwei Monaten wird hier gestreikt, rund um die | |
Uhr. An der gläsernen Front kleben Plakate mit Forderungen und Parolen, auf | |
einem Tisch liegen Spiele und Pappteller, daneben steht eine Thermoskanne. | |
Ein Stück Karton weist auf Telefonnummern einer Bereitschaftshilfe hin. Es | |
ist ein gleißend heller Septembertag, drei Streikende sitzen unter einem | |
Sonnenzelt. Alle zwei Stunden wechseln die Angestellten sich ab. Der | |
Filialleitung werfen sie unlautere Beschäftigungspraktiken vor. | |
Und sie sind nicht allein: Seit einigen Monaten gründen sich in den | |
Vereinigten Staaten mit rasantem Tempo neue Gewerkschaften – ausgerechnet | |
in dem Land, in dem Entlassungen unter dem Begriff „hire and fire“ zur | |
Normalität gehören. Starbucks ist mit fast 400.000 Angestellten der größte | |
Kaffeehauskonzern der Welt. 15.000 Läden werden allein in den USA | |
betrieben. Mittlerweile sind die Angestellten des Kaffeegiganten bei | |
Gewerkschaftsgründungen besonders umtriebig. [1][Aus gutem Grund]. | |
Lange galt das Unternehmen in der Öffentlichkeit als progressiver | |
Arbeitgeber. Starbucks legt Wert auf ein familiär wirkendes Betriebsklima. | |
So werden die Angestellten „Partner“ genannt und das Einarbeiten | |
„Weiterbildung“. Der Konzern [2][versteht sich als queer- und | |
trans*freundlich], Geschäftsführer Howard Schultz hat in der | |
Vergangenheit stets lautstark die Demokratische Partei unterstützt. | |
In den Filialen wird der Kundenkontakt [3][von sogenannten Baristas] | |
getragen, die in Schichtarbeit Getränke und kleine Gerichte zubereiten. | |
Aufsteigen kann man zum Baristaausbilder und zur Schichtleitung. Die | |
jeweiligen Filialleitungen – die meist keine Erfahrung mit der Arbeit vor | |
Ort in den Läden haben – treffen die Personalentscheidungen und erstellen | |
die Dienstpläne. | |
Die Arbeitszeiten, die in einer Filiale anfallen, verwaltet ein | |
firmeneigener Algorithmus, das Stundenbudget wird auf Basis vergangener | |
Umsätze berechnet. Häufig geschieht es, dass Baristas zu Stoßzeiten wegen | |
niedriger Personalzuteilung nicht alle Bestellungen bedienen können. Die | |
Folge: Die Umsätze sinken – was zu einer noch dünneren Personaldecke in der | |
nächsten Schicht führt, ein Phänomen, das manche Angestellte als „cycle of | |
doom“ bezeichnen, als „Kreislauf des Untergangs“. | |
Starbucks bietet seinen Beschäftigten Zusatzleistungen, etwa eine | |
Krankenversicherung, keine Selbstverständlichkeit in den USA. Auch die | |
Gebühren für ein Onlinestudium an der Arizona State University werden vom | |
Konzern übernommen. Wer in den Genuss dieser Extras kommen will, muss | |
mindestens 20 Arbeitsstunden pro Woche leisten. Das Problem: Eine | |
Mindestarbeitszeit ist in den meisten Bundesstaaten nicht gesetzlich | |
zugesichert. | |
## Das freundliche Image täuscht | |
Vor allem wegen der großzügig wirkenden vertraglichen Extras galt Starbucks | |
lange als Bastion gegen eine gewerkschaftliche Selbstorganisation der | |
Mitarbeitenden. Dem netten Image standen aber stets herbe Vorwürfe | |
gegenüber: die Macht des Unternehmens über die Ausbildung und die | |
Krankenversicherung seiner Angestellten; die Überlastung von Baristas; die | |
Missachtung von Beschwerden aus der Belegschaft. | |
Am 9. Dezember 2021 beschlossen die Angestellten eines Cafés in Buffalo, | |
sich zu organisieren. Seither haben fast 400 weitere Starbucks-Läden über | |
die Gründung einer eigenen Arbeitnehmer*innenvertretung abgestimmt. | |
Die Betriebsräte bei Starbucks sind, wie allgemein in den USA, sehr autonom | |
– sie bezeichnen sich selbst als „union“, jede Filiale muss einzeln über | |
ihren Tarifvertrag verhandeln. Das ist eine der Bedingungen, die die | |
Konzernleitung stellte, um sich auf den Vorstoß einzulassen. Immer wieder | |
kam es zu Verzögerungen, doch nun, im Oktober 2022, beginnen endlich die | |
Tarifvertragsverhandlungen in über 230 Starbucks-Filialen. Es ist der Start | |
für die zweite, entscheidende Phase in der Geschichte dieser so jungen und | |
so kampflustigen Bewegung. | |
Große, etablierte Gewerkschaften gelten in den USA als eingerostete, träge | |
Apparate und werden oft als irrelevant betrachtet, angesichts des | |
Niedergangs der verarbeitenden Industrie. Eine komplizierte Geschichte von | |
Korruption und Rassismus – oft wurden schwarze, aus den Südstaaten | |
migrierte Arbeiter*innen als Streikbrecher angeworben – machte das | |
Image nicht besser. Entscheidend für die Verdrängung der Gewerkschaften | |
waren auch der Lobbyismus der Arbeitgeber, der stets auf offene politische | |
Türen stieß, und die Zersplitterung und Flexibilisierung des | |
Arbeitsmarktes. | |
Die Eckpunkte gewerkschaftlicher Organisation in den Vereinigten Staaten | |
sind bald ein Jahrhundert alt: 1935 wurden sie im sogenannten Wagner Act | |
abgesteckt. Mit ihm wurde auch das National Labor Relations Board (NLRB) | |
gegründet, das bis heute über die Einhaltung der entsprechenden Gesetze | |
wacht. Um eine Gewerkschaft zu gründen, müssen mindestens 30 Prozent eines | |
sogenannten „bargaining units“, also eines Betriebs – in diesem Fall einer | |
Filiale – eine Abstimmung unter den Mitarbeitenden einfordern. Wenn bei | |
einer solchen geheimen Abstimmung mehr als die Hälfte der | |
Mitarbeiter*innen zustimmt, ist der Arbeitgeber verpflichtet, über | |
einen Tarifvertrag zu verhandeln. Von den Beschäftigten gewählte | |
Vertreter*innen, sogenannte „stewards“, sollen anschließend die Einhaltung | |
des Vertrags überwachen. | |
Versuche der Verzögerung und der Sabotage dieses komplizierten Prozesses | |
müssen von den Gewerkschaften beim NLRB angezeigt werden. Allerdings | |
herrscht auch dort Personalmangel, weshalb die Auseinandersetzungen sich | |
oft in die Länge ziehen. Die junge, sich gerade erst entfaltende Bewegung | |
der Starbucks Workers United verfügt bislang über keine finanziellen | |
Mittel, einzelne Filialen vernetzen sich untereinander und mit anderen | |
Gewerkschaften über soziale Medien. Lose sind die Starbucks Workers an die | |
weit größere Gewerkschaft Workers United angebunden, die wiederum einem | |
Dachverband angehört. Im Gegensatz zu traditionsreichen größeren | |
Gewerkschaften sind die neuen Bewegungen stark von der Basis getragen, | |
viele Mitglieder gehören gesellschaftlichen Minderheiten an. | |
## Die Konzerne schlagen mit Anwälten zurück | |
Ihnen gegenüber stehen die Starbucks-Anwälte von Littler Mendelson, einer | |
Kanzlei, die sich auf „union busting“ spezialisiert hat, auf die | |
Zerschlagung jeglichen gewerkschaflichen Engagments. Die Rechtsprofis | |
fechten Abstimmungsergebnisse und Entlassungsklagen an, verzögern mit | |
legalen Kniffen Abstimmungen und Verhandlungen. Konzerne wie Starbucks | |
lassen sich solcherlei Unterstützung einiges kosten: Für einzelne | |
Gerichtstage stellen diese Kanzleien mitunter mehrere hunderttausend Dollar | |
in Rechnung. Im Internet kursieren Handbücher zur | |
„Gewerkschaftsvermeidung“. Bei Starbucks wurde im September ein Extrakonto | |
nur für Angestellte ohne Gewerkschaftsbindung angekündigt. | |
Howard Schultz, der langjährige CEO von Starbucks, hat in Reden und | |
Interviews mehrfach betont, eine Gewerkschaft nicht als Teil des | |
Unternehmens akzeptieren zu können. Mehr als 100 Mitarbeiter*innen | |
wurden [4][im Zusammenhang mit der neuen Gewerkschaftsbewegung] schon | |
gefeuert, in vielen Filialen wurde das Personal ausgetauscht, einige | |
Baristas sind im Begriff, ihre Krankenversicherung zu verlieren, weil ihnen | |
nicht ausreichend Arbeitsstunden zugeteilt werden. | |
Jahrzehntelang haben Beschäftigte in den USA stagnierende Löhne und | |
schwindende soziale Mobilität mehr oder minder klaglos hingenommen. Doch | |
die öffentliche Meinung hat sich unter dem Eindruck der Finanzkrise | |
gewandelt. Jetzt [5][tritt eine neue, noch ganz junge Generation von | |
Arbeitnehmer*innen an] – und diese hat sich nicht zuletzt [6][durch | |
die Black-Lives-Matter-Proteste stark politisiert]. | |
Zurück zur Starbucks-Filiale in Boston, in der seit zwei Monaten gestreikt | |
wird. An der nahe gelegenen Universität ist heute der erste Vorlesungstag | |
nach den Semesterferien. Immer wieder kommen Studierende mit Kaffeedurst | |
vorbei, doch statt eines Latte Macchiato bekommen sie hier nun Infomaterial | |
zum Arbeitskampf in die Hände gedrückt. Manche gehen gleich weiter, zum | |
nächsten Starbucks-Laden, nur fünf Minuten entfernt. Andere aber werden | |
neugierig, bleiben stehen – und beginnen angeregte politische Diskussionen, | |
untereinander und mit den aufgebrachten Baristas. | |
## „Wir sind immer unterbesetzt und überarbeitet“ | |
Gabrielle ist mit ihrer Schicht durch, die grüne Barista-Schürze trägt sie | |
noch bei sich. Es ist ein träger Nachmittag in einem Vorort von Salt Lake | |
City. Nur am Drive-in stauen sich die Autos: Der Reihe nach bestellen | |
Kund*innen am Mikrofon, bekommen Kaffee durch das Fenster gereicht und | |
fahren weiter. | |
„Für viele in meinem Alter ist die Arbeit hier eine Zwischenstation, ein | |
Nebenjob. Ich habe nicht viele Wahlmöglichkeiten in meinem Leben. Da ist | |
das Starbucks-Studienprogramm, zusammen mit der Krankenversicherung ein | |
echter Rettungsanker. Dafür bin ich sehr dankbar,“ erzählt Gabrielle. | |
Die Mutter von zwei Kindern spricht überlegt, sie macht Pausen zwischen den | |
Sätzen. Auf die Frage, wieso sie der Gewerkschaftsbildung zugestimmt hat, | |
zögert Gabrielle kurz: „Als die Pandemie sich zurückzog, schien alles zur | |
Normalität zurückzukehren – nur Starbucks kam nicht aus dem Krisenmodus. | |
Die Personalsituation ist verrückt, wir sind immer unterbesetzt und | |
überarbeitet, besonders morgens. Dann kam die Scheidung von meinem Mann. | |
Meine Kinder hatten sich mit Corona angesteckt, ich musste drei Wochen zu | |
Hause bleiben, bekam aber nur fünf Krankheitstage bezahlt und hätte also | |
fast die Ansprüche auf meine Krankenversicherung verloren. Ich war | |
frustriert und ängstlich zugleich. Durch die Gewerkschaft ist mir klar | |
geworden, dass ich nicht einfach darauf warten kann, dass die Filialleitung | |
oder die Firma meine Arbeitsbedingungen verbessern.“ | |
## „Schon mit 17 wurde ich für Doppelschichten eingeteilt, als | |
Minderjährige“ | |
Hätte ich gewusst, dass es Gewerkschaften gibt, wäre ich schon an meinem | |
zweiten Arbeitstag beigetreten.“ Laila sitzt am Rand des Demonstrationszugs | |
am New Yorker Times Square und ist sichtlich erschöpft. Zwei Flüge hat die | |
19-Jährige hinter sich, um bei diesem Labor Day am 5. September dabei zu | |
sein. Auch sie hat vor der Menge eine kleine Rede gehalten, und die | |
Demoroute war weit: von der Zweitwohnung des scheidenden Starbucks-CEOs | |
Howard Schultz zogen die Protestierenden zur Zweitwohnung von Jeff Bezos, | |
CEO von Amazon, insgesamt einmal quer durch Manhattan. | |
Lailas Hände mit den roten Klebenägeln werden unruhig, wenn sie über ihre | |
Arbeitsbedingungen spricht: „Als ich mit 17 bei Starbucks anfing, wurde | |
gegen alle Regeln der Beschäftigung von Minderjährigen verstoßen, an | |
manchen Tagen waren es zwei Schichten hintereinander, neben der Schule. Mit | |
der Pandemie wurde es schlimmer. Ich blieb dabei, weil ich nicht | |
verschuldet studieren wollte.“ Als dann ein Krankenhausaufenthalt die | |
Finanzierung ihres Studiums durch ihren Arbeitgeber infrage stellte, wandte | |
sich Laila an einen älteren Kollegen: „Ich war wirklich verzweifelt und | |
sagte Bill, dass ich hinschmeißen würde. Da fragte er mich, ob ich | |
stattdessen versuchen wolle, eine Gewerkschaft zu gründen. So haben wir | |
angefangen, mit unseren Kolleg*innen zu sprechen.“ | |
Nach nur zwei Tagen, am 22. Januar 2022, hatten 12 der 19 Angestellten der | |
Filiale im Norden von Phoenix ihr Interesse bekundet – damit war dann | |
bereits die dritte Starbucks-Filiale im Bundesstaat Arizona auf dem Weg der | |
Gewerkschaftsgründung. | |
Prompt setzten die Repressionsmaßnahmen ein: Am folgenden Montag wurde | |
Laila zum ersten Mal in mehr als zwei Jahren Beschäftigung schriftlich | |
verwarnt. Über Monate wechselten sich Vorladungen zu Vorgesetzten und | |
Verwarnungen ab. Laila begann, Teile der Gespräche als Beweismaterial | |
mitzuschneiden. Kurz vor der offiziellen Abstimmung zur | |
Gewerkschaftsgründung wurde sie entlassen. Nun bemüht sie sich, ihr Studium | |
dennoch abzuschließen, spricht immer wieder bei Veranstaltungen von | |
Starbucks Workers United und hat eine weitere, eigene Organisation | |
gegründet, die Restaurantarbeiter*innen vertritt. „Früher war ich | |
sehr schüchtern, konnte mich kaum mit Leuten unterhalten und schon gar | |
nicht vor Publikum sprechen. Ironischerweise habe ich das bei der Arbeit am | |
Starbucks-Drive-in gelernt.“ | |
## „Der halbe Laden war kurz davor, hinzuschmeißen“ | |
Es ist ein heißer und trockener Tag in Phoenix. Bill, der seine junge | |
Kollegin Laila vor knapp einem Jahr zur Gewerkschaft gebracht hat, wohnt | |
nur ein paar Straßen von seinem ehemaligen Arbeitsplatz entfernt. Bills | |
Hunde hecheln pausenlos, ein Wasserzerstäuber soll die 44 Grad | |
Außentemperatur erträglicher machen. Bei Starbucks hatte Bill im Mai 2020 | |
angefangen, nachdem seine eigene Veranstaltungsfirma wegen der Pandemie | |
dicht machen musste. Er betont, wie schwer es sei, sich im schnellen | |
Arbeitsumfeld der Kette zurechtzufinden: „Ich höre schlecht, hatte damals | |
aber noch kein Hörgerät, und es gab Personalmangel bei einer Schicht. Also | |
stand ich selbst am Drive-in-Mikrofon und wurde immer gestresster und | |
gestresster. Aber über die Zeit fand ich Spaß an der Arbeit und wurde immer | |
besser.“ | |
Was eine berufliche Übergangslösung sein sollte, wurde zu einer kleinen | |
Karriere: Laila und Bill bewarben sich beide auf Schichtleitungstellen. | |
„Hier wurde mir erst wirklich bewusst, unter welchem Personaldruck wir | |
arbeiteten. Ich wurde schlecht für die neue Rolle angelernt und sah überall | |
nur noch Ungleichbehandlungen. Also sprach ich mit den Mitarbeiter*innen, | |
schrieb eine E-Mail, wir redeten auf Zoom. Bald stellte sich heraus, dass | |
der halbe Laden drauf und dran war, hinzuschmeißen.“ | |
Die ersten Pläne für eine Gewerkschaftsgründung stießen auf große Resonanz | |
in der Belegschaft – und sogleich bekam auch Bill Repressionen zu spüren: | |
„Dann ging der Druck erst richtig los. Ständig hatten wir uns über | |
Personalmangel beschwert, doch in der Woche vor unserer Gründungsabstimmung | |
wurden plötzlich sieben neue Leute angestellt. Sie waren alle nicht in | |
unserem Laden angelernt worden, um den Kontakt kleinzuhalten. Und nach | |
unserer Abstimmung wurden sie sofort wieder abgezogen.“ Unentschlossene | |
Baristas mussten zu Einzelgesprächen mit Vorgesetzten antreten, ihnen wurde | |
der Entzug der Zusatzleistungen angedroht. Wer die Gewerkschaftsgründung | |
befürwortete, wurde gekündigt – wie Laila traf es auch Bill. | |
Seine frühere Filiale betreffend ist Bill pessimistisch: „Mittlerweile | |
haben sie dort im Personal fast alle Leute ausgetauscht.“ Beeindruckt hat | |
ihn jedoch die Welle von Solidarität aus der sonst eher konservativen | |
Bevölkerung in Arizona: Ringsum haben Beschäftigte anderer gewerkschaftlich | |
organisierter Branchen, etwa Restaurant- und Hotelkräfte, solidarisch | |
Gelder zur Verfügung gestellt. Damit können beispielsweise Lohnausfälle bei | |
Streiks ausgeglichen oder Übergangsgelder für gefeuerte Beschäftigte | |
finanziert werden. | |
Bill klingt euphorisch, wenn er die Neuartigkeit dieser Bewegung betont: | |
„Das ist alles von Arbeiter*innen selbst getragen, so gab es das in den | |
Vereinigten Staaten noch nie! Alle, die auf Stundenbasis bezahlt werden, | |
rufen wir auf, sich zu organisieren. Ob demokratisch oder republikanisch. | |
Das ist keine Frage der politischen Orientierung für mich.“ | |
Heute arbeitet er in einem anderen Café und als Aushilfslehrer und baut | |
zusammen mit Laila die Arbeitnehmer*innenvertretung aus. „Wir haben | |
Kontakt zu Uber-Fahrern, zur Cannabisindustrie, zu Restaurants. Wir | |
versuchen, allen zu vermitteln, dass es nichts hilft, sich mit dem Chef | |
einzeln zum Plausch zu treffen – es ist an der Zeit, sich zu organisieren.“ | |
## „Die Leute haben auch gearbeitet, wenn sie Corona-positiv waren, es gab | |
Druck“ | |
Viele meiner Kolleg*innen sind nicht wirklich politisch, aber kommen aus | |
prekären Gegenden wie Compton – die leben einfach hier, haben Armut, | |
Polizeigewalt, Rassismus erlebt. Und das Gefühl, alleingelassen zu werden. | |
Als in Buffalo die allererste Starbucks-Gewerkschaft entstand, wusste ich | |
sofort, dass das auch hier passieren muss. Ich konnte so nicht mehr leben, | |
niemand von uns kann so leben, mit einem miserablen und prekären Job, in | |
dem wir ständig unterbesetzt sind. Also war es höchste Zeit, etwas zu tun.“ | |
Tylers düstere Stimmung passt nicht recht in diesen sonnigen Nachmittag in | |
Long Beach, Kalifornien. Er spricht von Boni für Filialleitungen, die sein | |
Gehalt übersteigen. Davon, dass von den rund 10.000 Dollar Umsatz, die jede | |
Woche im Laden generiert werden, bei den Baristas kaum etwas ankommt, | |
während ein einzelner Konzerngeschäftsführer jährlich um die 20 Millionen | |
Dollar kassiert. | |
Der 26-Jährige hat viele Kontakte, kennt Aktivist*innen der Bewegung | |
überall im Land, zählt wohl zu denen, die man in den USA „online people“ | |
nennt: ein Mensch, der sich viel im Netz austauscht. Er spricht von | |
Freund*innen bei den Gewerkschaften von Amazon, dem Telefoniegiganten | |
Verizon und der Restaurantkette Chipotle, alle hat er auf Twitter | |
kennengelernt. „Natürlich gibt es nicht den einen Grund dafür, dass sich | |
diese Gewerkschaften so rasend schnell verbreiten. Aber die Erfahrung der | |
Pandemie, die viele Zeit im Internet – das hat schon etwas verändert bei | |
den Leuten“, glaubt er. | |
„Als die Unternehmen nach den schlimmen Corona-Wellen so schnell versucht | |
haben, wieder auf Normalbetrieb zu schalten, sind viele nicht mitgegangen. | |
Unser Café war nie geschlossen. Im Mai 2020 gab es einen | |
Drei-Dollar-Stundenbonus für diejenigen, die trotz der Pandemie | |
weiterarbeiteten, aber der war nach zehn Wochen auch wieder weg. Die | |
Haltung von oben war: Wenn ihr nicht arbeiten wollt, dann geht doch! Die, | |
die geblieben sind, mussten Mehrarbeit leisten. Es gab zehn Tage bezahlte | |
Krankschreibung, weil das staatlich festgeschrieben war. Leute haben | |
gearbeitet, auch wenn sie positiv auf Corona getestet waren, mit Maske | |
eben. Da haben sich einige irgendwann doch dagegengestellt.“ | |
In Tylers Wahrnehmung liegen die Ursprünge für die Frustration aber noch | |
weit vor der Pandemie: „Gerade in dieser Generation, wo so viele Leute | |
sehen, dass ein Universitätsabschluss sie nirgendwohin bringen wird und | |
dass die Welt auf eine riesige Klimakrise zuläuft, ist das Narrativ des | |
amerikanischen Traums ziemlich ausgeleiert. In dieser gesellschaftlichen | |
Stimmung bin ich in den Arbeitsmarkt eingetreten, mit 19. Ich wurde bei der | |
Arbeit niedergemacht und wusste dabei genau, dass ich finanziell auf keinen | |
grünen Zweig kommen würde.“ | |
Anderen in seiner Altersgruppe gehe es ähnlich: „Eine Zeit lang war es um | |
mich herum Mode, ständig den Job hinzuwerfen und woanders anzufangen. Aber | |
was bringt es, vom Regen in die Traufe zu wechseln? Man muss etwas | |
verändern.“ Dass diese Veränderung sich nun gerade bei Starbucks Bahn | |
bricht, wundert ihn nicht: „Diesem Unternehmen ist die eigene | |
Personalpolitik von Diversität und Inklusion auf die Füße gefallen. Bei uns | |
gibt es dazu einen Running Gag: Wie konnte Starbucks keine | |
Gewerkschaftsbewegung erwarten, wenn alle Leute, die sie einstellen, queer | |
und links sind?“ | |
## „Niemand hatte Ahnung. Das Wichtigste mussten wir uns selbst beibringen“ | |
Das große amerikanische Ding ist wirklich, dass die Trennung zwischen | |
Arbeit und Privatleben eine so geringe Rolle spielt. Arbeitgeber behaupten, | |
dass alle Familie und Freunde seien, und dann versuchen sie, dich | |
auszunutzen“, sagt Kit. „Aber ich bin nicht deine Familie, und ich bin auch | |
nicht deine Freundin, das hier ist meine Arbeit. Wenn es ein Problem gibt, | |
muss man das angehen, und da hilft übertriebene Höflichkeit nicht.“ | |
Am Arbeitsplatz von Kit und ihrer alleinerziehenden Kollegin Gabrielle in | |
Salt Lake City sind die Starbucks Workers United sofort sichtbar, auf | |
ausliegenden Flyern und Ansteckern. „Ein Faktor ist sicher, dass wir hier | |
unsere Rechte kennen und Verstöße dagegen immer sehr bestimmt und sofort | |
angesprochen haben. So vieles hier war anfangs improvisiert. | |
Kolleg*innen kamen zu mir mit Fragen, und alles, was ich sagen konnte, | |
war:,Keine Ahnung, ich hab doch nicht Jura studiert, ich arbeite hier bloß, | |
wie ihr.' Und weil niemand eine Ahnung hatte, mussten wir uns das | |
Wichtigste eben selbst beibringen.“ Kit überlegt kurz, dann grinst sie. | |
„Vielleicht bin ich auch einfach streitlustig und habe keine Angst vor | |
Konfrontationen.“ | |
Kit spricht leise, klingt aber sehr bestimmt dabei. Die Hauptarbeit fällt | |
für sie am Drive-in an: Ein Bildschirm listet Bestellungen auf, in roten | |
und grünen Ziffern wird die Bearbeitungszeit sekundengenau gemessen. Kit | |
und Gabrielle wechseln sich bei den Schichten ab. Vor dreieinhalb Jahren | |
hat sie bei Starbucks angefangen, auch wegen der Krankenversicherung, die | |
geschlechtsangleichende Operationen abdeckt. „Viele andere Arbeitgeber | |
haben Angebote, die eine günstigere und bessere medizinische Versorgung | |
gewährleisten – aber eben nicht diese Operation, weil sie sie als | |
kosmetischen Eingriff ansehen. Ich kenne viele trans Leute, die explizit | |
deshalb hier arbeiten. Auch sind Cafés generell liberalere Orte, das gilt | |
besonders hier im konservativen Utah.Viele queere Leute finden deshalb eine | |
Heimat in dieser Branche.“ | |
Sie selbst hat die Arbeit in der Gastronomie aber nicht nur aus rein | |
pragmatischen Gründen gewählt: „Ich mag diesen Beruf wirklich gern: Ich mag | |
es, mit unseren Kund*innen zu quatschen, und bin eine | |
Kaffee-Enthusiastin. Wenn Geld nicht das Problem wäre, könnte ich mir das | |
für eine wirklich lange Zeit vorstellen.“ Ihre Zukunft, meint Kit, hänge | |
aber entscheidend an der Gewerkschaft: „Da ist viel Hoffnung im Spiel. In | |
unserem Bundesstaat gibt es bis heute nur zwei gewerkschaftlich | |
organisierte Starbucks-Filialen. In letzter Zeit aber, seitdem wir | |
Tarifverhandlungen vorbereiten können, haben wir insgesamt einen Gang | |
zugelegt. Das fühlt sich gut an. Wir haben wirklich versucht, Starbucks an | |
den Verhandlungstisch zu bekommen, und haben uns viel mehr untereinander | |
abgesprochen. Im späten Oktober beginnt nun unsere erste | |
Verhandlungsrunde.“ | |
Diese betrifft nicht nur ihre Filiale allein: „Wenn die Gewerkschaften bei | |
Starbucks und Amazon Erfolg haben, kann das etwas sehr Großes lostreten. | |
Niemand versteht das besser als die, denen diese Unternehmen gehören, und | |
man spürt, dass sie bereit sind, weit zu gehen, um die Entwicklung | |
aufzuhalten. Wenn die Gewerkschaften bei Starbucks und Amazon scheitern, | |
dann wird es für lange Zeit nichts Vergleichbares geben. Es steht also viel | |
auf dem Spiel. Wir werden bald sehen, ob man optimistisch sein kann.“ | |
22 Oct 2022 | |
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