| # taz.de -- Neuer Scorsese-Film „The Irishman“: Der Fremde, der sich Vater … | |
| > Martin Scorseses Film „The Irishman“ ist eine nuancierte Dekonstruktion | |
| > von Männlichkeit. Sein Hauptdarsteller Robert De Niro wird digital | |
| > verjüngt. | |
| Bild: Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino) und Auftragskiller Frank Sheera… | |
| Was für ein irritierender und zugleich abgehobener und nüchterner Auftakt! | |
| Wie so oft bei Martin Scorsese kommt die Kamera aus dem Nichts. Zu einer | |
| Swing-Musik, die eigentlich nicht zur Umgebung passen will, gleitet sie | |
| durch einen in Braun- und Beigetönen gehaltenen Aufenthaltsraum, in dem | |
| betagte Männer und Frauen in Grüppchen oder allein sitzen. Sie biegt um die | |
| Ecke, hinein in einen endlosen Flur, passiert eine große Jesusfigur und | |
| blickt schließlich in ein altengerechtes Zimmer. Close-up auf das Gesicht | |
| eines Mannes mit zerfurchtem Gesicht und schütterem, nach hinten gekämmtem | |
| Haar. | |
| Der alte Herr, das werden wir im weiteren Verlauf erfahren, ist Frank | |
| Sheeran (1920–2003), Vater von vier Töchtern, Auftragsmörder der | |
| US-amerikanischen Mafia Cosa Nostra, Freund und Berater des einflussreichen | |
| Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa. Robert De Niro spielt diesen Titelhelden | |
| von Martin Scorseses Film „The Irishman“ zurückgenommen, in sich | |
| verschlossen, so als werde seine Figur erdrückt von dem Männerbild, das sie | |
| sich selbst aufgebürdet hat. | |
| Es ist nicht nur das Alter, das die Figur des Killers seltsam starr wirken | |
| lässt. In extremer Nahaufnahme wird sein Gesicht fixiert, weil in der Luft | |
| liegt, dass hier jemand etwas mit sich herumträgt – und aussprechen möchte. | |
| Lebensgeschichte, einsamer Monolog, Heldenstory, Heldenabgesang oder | |
| Beichte? | |
| Wir folgen Frank Sheerans Ich-Erzählung, seinen Erinnerungen, die hin und | |
| her springen zwischen fünf Jahrzehnten und unzähligen Orten, zwischen | |
| Morden, Abendessen, Taufen, kleineren und größeren Aufträgen. Und wir | |
| folgen einem Scorsese-Film, der von einem Monster erzählt, dessen | |
| Kreatürlichkeit auch immer mit im Bild ist. „The Irishman“ beginnt im | |
| Altersheim, mit einem Protagonisten, der sich kaum mehr auf Krücken | |
| fortbewegen kann. | |
| Bereits die erste Rückblende hat etwas von einer Kastration. Sie beginnt, | |
| als sich Sheerans Aufstieg vom Lastwagenfahrer aus der Provinz zum | |
| Chauffeur und engsten Vertrauten des Mafia-Bosses Russell Bufalino längst | |
| vollzogen hat. Die Optik entspricht dem Selbstbild, das hier am Werke ist: | |
| Cool glänzender Schlitten, protziges Freizeitoutfit, einschließlich eines | |
| bunten Hemds und übergroßer Sonnenbrille. Das Abholen von Geldumschlägen | |
| wird mit einem Ausflug verbunden. | |
| ## Entmachtung auf allen Ebenen | |
| Sheerans und Buffalos miteinander befreundete Ehefrauen haben auf dem | |
| Rücksitz Platz genommen. Sie bestimmen den Rhythmus der Fahrt, mehrmals | |
| muss angehalten werden, weil die beiden Gattinnen, gekleidet in | |
| pastellfarbene Schlaghosen, eine Zigarettenpause einlegen möchten. Zwei | |
| Männer, die eigentlich gewohnt sind, das Sagen zu haben, werden von ihren | |
| angeregt sprechenden Frauen im Hintergrund dominiert. Und das ist erst der | |
| Anfang. „The Irishman“ ist eine groß angelegte, nuancierte Dekonstruktion | |
| von Männlichkeit. Eine Entmachtung auf allen Ebenen. | |
| Bereits in seinen früheren Mafiafilmen ging es Scorsese nicht um die | |
| mächtigen Paten und Bosse. Seine Good Fellas aus dem gleichnamigen Film, | |
| seine hypernervösen Straßenjungs von den „Mean Streets“ in Little Italy | |
| hingen immer an den Fäden der großen Marionettenspieler, sie waren | |
| Handlanger, Boten, Büttel und durften manchmal mit am Tisch sitzen. Auch | |
| Frank Sheeran findet sich plötzlich in einem italienischen Restaurant | |
| wieder. Ihm gegenüber sitzt der Mafiaboss Russell Bufalino, gespielt von | |
| einem großartig perfiden Joe Pesci, der mit sanfter Stimme erklärt, wo es | |
| langgeht, ohne dass einer seiner Sätze wie ein Befehl klingt. | |
| Wieder zeigt sich Scorseses Vermögen, die sozialen Codes und | |
| Verhaltensregeln seiner Gangster bis in die kleinsten Gesten und Details zu | |
| inszenieren und mit Mehrdeutigkeit zu belegen. Wenn Bufalino sich wundert, | |
| woher der Ire Sheeran weiß, dass man in Sizilien frischgebackenes Brot in | |
| Rotwein tunkt, nimmt auch die Sehnsucht nach Heimat und das Amerika der | |
| Einwanderer mit am Tisch Platz. | |
| ## Blutige Mafiageschichte | |
| Eine Rückblende erklärt, warum Sheeran überhaupt Italienisch spricht: Als | |
| GI bewacht er während des Zweiten Weltkriegs im Süden Italiens zwei | |
| gefangene Soldaten, die sich ihr eigenes Grab schaufeln – und die er nach | |
| erledigter Arbeit umgehend erschießt. Stets wird die Gewalt in „The | |
| Irishman“ hart, trocken und lakonisch ins Bild gesetzt und montiert (wie | |
| immer von Thelma Schoonmaker). Die blutige Mafiageschichte etwa erschließt | |
| sich beiläufig über eingeblendete Inserts. Sie geben Aufschluss darüber, | |
| wann, wo und mit wie vielen Kugeln Männer, die man für einen kurzen | |
| Augenblick während Verhandlungen in Hinterzimmern, auf Feiern oder an | |
| öffentlichen Plätzen sieht, in der Wirklichkeit umgebracht wurden. | |
| Die von Sheeran ausgeübte Gewalt lässt auch etwas in ihm absterben, führt | |
| zu einer Verrohung, die er mit nach Hause nimmt. Scorsese zeigt ihn als | |
| selbstgefälligen Patriarchen, der meint, seinen Töchtern alles zu geben. | |
| Doch wenn die Kamera den Familientisch umkreist, ein Anruf das Essen | |
| unterbricht und Sheeran wie ferngesteuert aufsteht, spricht das | |
| verängstigte Gesicht eines kleines Mädchen Bände: Wer ist dieser Fremde, | |
| der am Tischende thront und sich Vater nennt? Später wird ihm eine der | |
| Töchter erklären, dass ihre Schwestern und sie ihn nie um Hilfe bitten | |
| konnten, weil die Wahl seiner Mittel stets unverhältnismäßig gewalttätig | |
| ausgefallen sei. | |
| Mit der Arbeit für Jimmy Hoffa setzt sich Sheerans Aufstieg fort – so wie | |
| sein inneres Sterben. Er fungiert als Verbindungsmann, als von der Mafia | |
| eingeschleuster Ausspäher, der die Machenschaften von Jimmy Hoffa und | |
| seiner Gewerkschaft der Transportarbeiter kontrollieren und manipulieren | |
| soll. Mit eitlen Gesten und exzentrischem Mienenspiel legt Al Pacino seine | |
| Rolle des Gewerkschaftsführers an, spielt ihn als hemmungslosen Narzissten | |
| und Größenwahnsinnigen. | |
| ## Die Strippen in der Hand | |
| Fernsehnachrichten berichten vom Attentat auf John F. Kennedy, die Fahnen | |
| im Land werden auf Halbmast gesetzt. Hoffa stürmt auf das Dach des | |
| Teamsters-Gewerkschaftshauses und lässt sie wieder hochziehen. Ein | |
| ikonografisches Bild. Wer hält in diesem Land eigentlich die Strippen in | |
| der Hand? | |
| Zunächst als Berater eines Untersuchungsausschusses gegen das organisierte | |
| Verbrechen und später als Justizminister versucht Robert Kennedy, die | |
| Verbindungen Hoffas zur Mafia nachzuweisen. Der Staat erklärt dem | |
| Staat-im-Staat den Kampf, denn längst hat die Cosa Nostra die Politik | |
| infiltriert. Um das System am Laufen zu halten, braucht es folgsame Männer | |
| wie Sheeran. Er mag goldene Armbanduhren anlegen und mit mächtigen Männern | |
| auf Du und Du sein und bleibt doch nur ein Rädchen im Getriebe des | |
| Verbrechens. | |
| Manche Bildfolgen von „The Irishman“ wirken wie ein Fegefeuer, das nicht in | |
| Läuterung oder gar Erlösung enden kann. | |
| Der teure Prozess des digitalen De-aging wiederum (der Film hat 159 | |
| Millionen Dollar gekostet) bringt eine ganz eigene Form des Unerlöstseins | |
| hervor: In den Rückblenden sind die Gesichter weniger faltig, dennoch haben | |
| die Figuren die eher verlangsamten Bewegungen älterer Herren. Schon als | |
| Jüngere sind sie, was sie sein werden. So als könnten sie ihren späteren | |
| Taten nicht entkommen. Ohnehin liegt über dem Film der Determinismus eines | |
| Marionettentheaters: Männer halten andere Männer an den Strippen. Der | |
| Abgrund von Schuld, Einsamkeit und Tod erwartet die einen wie die anderen. | |
| 13 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Anke Leweke | |
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