# taz.de -- Spielfilm „Silence“ im Kino: Das Kreuz des Martin Scorsese | |
> Glaube muss sich Vernunft stellen: Martin Scorsese zeigt in „Silence“ | |
> eine christliche Mission im Japan des 17. Jahrhunderts als irdische | |
> Unternehmung. | |
Bild: Christen im Untergrund: Pater Rodrigues (Andrew Garfield) zelebriert die … | |
Auch dieser Martin-Scorsese-Film hat seine ganz eigenen Orte. Es sind | |
Schauplätze, die sich sowohl über ihre natürliche Beschaffenheit als auch | |
über ihre Symbolik definieren. Und über das Leben, das sich in ihnen | |
abspielt. | |
Schon bei der Ankunft der beiden portugiesischen Missionare an der | |
japanischen Küste spürt man die Entlegenheit dieses Ortes, der mit dem Rest | |
der Welt nicht in Verbindung zu stehen scheint. Im Moment der Landung der | |
Männer schwingt sich die Kamera in die Vogelperspektive. Das Meer stürmt, | |
zwei Gestalten springen von einem Holzboot in die hohen Wellen. | |
Ihr Ziel ist eine kleine Siedlung, die man zwischen dicht bewachsenen Hügel | |
kaum wahrnimmt. Das Boot kehrt direkt um, die Männer sind ihrem Schicksal | |
überlassen. Nun fährt die Kamera in ihre Augenhöhe. Es ist eine | |
Perspektive, die Martin Scorseses Leinwandadaption von Endo Shusakus 1966 | |
erschienen Historienroman „Silence“ immer wieder einnehmen wird. | |
Pater Sebastião Rodrigues (Andrew Garfield) und Pater Francisco Garupe | |
(Adam Driver) reisen um 1640 in christlicher Mission nach Japan. Ihr | |
Unterfangen wird von Scorsese jedoch als durchaus irdische Unternehmung | |
gezeigt werden. Die Jesuiten sind auf sich selbst gestellt, die Konflikte, | |
die moralischen Dilemmata, in die sie geraten werden, müssen sie selbst | |
lösen. Auf ein göttliches Zeichen warten sie vergeblich, der Blick nach | |
oben in den Himmel bleibt unerwidert. | |
## Scorsese wollte Priester werden | |
Zunächst gilt es, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Die | |
Natur wirkt undurchdringlich. Dauerregen, nebelverhangene Hügel, matschige | |
Wege – ein Weiterkommen scheint kaum möglich. In seiner Struktur erinnert | |
„Silence“ an Joseph Conrads Klassiker „Herz der Finsternis“. Ein | |
Abtrünniger, einer, der womöglich die Seiten gewechselt hat, soll gefunden | |
und zur Rechenschaft gezogen werden. Es handelt sich um Sebastiãos Mentor | |
Cristóvão Ferreira, der schon längere Zeit in Japan verweilt. Gerüchten | |
zufolge soll er vom katholischen Glauben abgefallen sein, mit japanischer | |
Frau und Kind leben, ein Business betreiben. Sebastião will Ferreiras Namen | |
und den Mann selbst retten. | |
Schon seit den neunziger Jahren interessiert sich Scorsese für das auf | |
realen Ereignissen basierende Buch, das bereits 1971 von dem Japaner | |
Masahiro Shinoda verfilmt wurde. Man könnte auch sagen: Er ist davon | |
besessen. Oder er scheint mit dem Projekt wie symbiotisch verwachsen zu | |
sein. Tatsächlich ist Scorsese ein Regisseur, der sich seinen Themen, | |
Motiven, Figuren nicht von außen nähert. Sie gehören zu seiner Biografie, | |
seiner Geisteshaltung, seiner Persönlichkeit. Der Zugang bleibt eher | |
intuitiv, entwickelt ein Eigenleben, das sich endgültigen Erklärungen | |
entzieht oder ihnen einen Haken schlägt. | |
Man könnte das Interesse an „Silence“ mit Scorseses Herkunft erklären. | |
Seine katholische Schule und die St. Patrick’s Cathedral waren ihm im | |
unruhigen, lauten, kriminellen Milieu vom Little Italy friedvolle | |
Rückzugsorte. Damals, in den fünfziger Jahren, verliebte er sich nach | |
eigenen Worten in die Religion und in die Menschen, die sie ausübten. | |
Scorsese wurde Messdiener und wollte Priester werden. | |
## Als Passionsgeschichte angelegten Reise | |
Vor diesem Hintergrund lassen sich die schwarzen Engel seiner Filme – | |
Charlie aus „Mean Streets“ (1972) und Travis Bickle aus „Taxi Driver“ (… | |
) – als abgespaltene Ichs oder Wiedergänger aus Scorseses Kindheit und | |
Jugend lesen. Sie haben den katholischen Glauben verinnerlicht und werden | |
in eigener und mitunter pervertierter Form missionarisch tätig, bis hin zum | |
Amoklauf. Mit nicht weniger als dem Schlusschor aus Bachs | |
„Matthäus-Passion“ jagt Scorsese zu Beginn von „Casino“ den von Robert… | |
Niro gespielten Gangsterboss in die Luft, dieser Film ist angelegt als | |
Totenmesse, Hohes Lied und Abgesang auf das paradiesische Sündenbabel Las | |
Vegas. | |
Nicht nur in seinen Filmen „Die letzte Versuchung Christi“ und „Kundun“, | |
die sich explizit mit Religion und Glauben beschäftigen, bilden diese | |
Themen, ihre Symbolik und Ikonografie das erzählerische und visuelle | |
Zentrum. Man könnte vom Glauben als dem roten Faden von Scorseses | |
Filmografie sprechen. Er ist die Triebfeder für die verzweifelte Suche all | |
seiner Helden nach Gnade, Versöhnung und Erlösung. | |
In „Silence“ gibt es eine Figur, die Pater Sebastião wie ein Phantom, wie | |
ein Schatten verfolgt. Es ist ein junger, bereits zum Christentum bekehrter | |
Japaner, der zu der Dorfgemeinschaft gehört, welche die aus der Ferne | |
angereisten Glaubensmänner zu Beginn des Films ehrfürchtig begrüßt. Auf den | |
Etappen der als Passionsgeschichte angelegten Reise durch das Land wird der | |
Japaner seinen Glauben in zwangsneurotischer Manier immer wieder verraten | |
und sodann um Gnade betteln. Doch wo keiner Gnade walten lassen kann, gibt | |
es keine zentrale Perspektive. Sie bleibt auch in diesem Scorsese-Film | |
unbestimmt, rätselhaft und unerklärlich. | |
## Zeugen eines Gewissenskonflikts | |
Manchmal hat die Kamera fast etwas Dokumentarisches, sie tritt einen | |
Schritt zurück, schaut, ohne werten zu wollen, das Geschehen an. | |
Eingeschlossen in einem Käfig, muss Pater Sebastião dabei zusehen, wie die | |
gläubigen Christen in Ketten vorgeführt werden. Entweder schwören sie ihrer | |
Religion ab, indem sie den Fuß auf eine Christusikone setzen, oder sie | |
werden gefoltert, hingerichtet. | |
Dann wechselt die Perspektive in die Subjektive, den Ausgang des Prozesses | |
sieht man mit den Augen von Sebastião. Die Gitterstäbe bekommen eine | |
seltsame Zweideutigkeit, sind Gefängnis und Beichtstuhl zugleich. Zweifel | |
sind mittlerweile am Werk, der Pater wird zum ohnmächtigen Beobachter | |
seines eigenen Glaubens und der Zuschauer zum Zeugen eines | |
Gewissenskonflikts. | |
Sebastiãos Flehen, sich für die anderen zu opfern, wird nicht erhört, | |
vielmehr suchen die japanischen Machthaber den Dialog. Mit dem christlichen | |
Glauben sind sie bestens vertraut und konfrontieren den Pater mit dessen | |
eigenen Prinzipien. Er könnte die Männer und Frauen, die kopfüber mit einer | |
kleinen Schnittwunde am Hals an einem Seil hängen, bis sie ausbluten, von | |
ihrem qualvollen Tod erlösen. Er muss nur mit dem Fuß auf seinen eigenen | |
Gott treten. | |
Es sind qualvolle Szenen, die sich wiederholen und neu variiert werden. Sie | |
entwickeln einen Sog, eine schauerliche meditative Kraft. Der Glaube muss | |
sich der Vernunft stellen, nun wird die Natur zur unerbittlichen | |
Zuschauerin. | |
## Zeichen einer Bürde | |
Je länger die Suche nach dem Mentor dauert, desto mehr hellen sich das | |
Wetter und damit die Verhältnisse auf. Die gebildeten japanischen | |
Machthaber kennen kein Erbarmen, die Christen bleiben weiterhin Verfolgte, | |
während die gnadenlose Sonne zur Mitpeinigerin der am Kreuz hängenden | |
Menschen wird. | |
Auch in „Silence“ gibt es die für Scorsese typischen, sprunghaften | |
Aufnahmen von Details. In diesem ansonsten eher ruhig fotografierten | |
Leidensweg wirken sie umso verstörender. Es handelt sich um kleine Kreuze, | |
aus Metall gegossen, aus Holz gezimmert oder aus Stroh geflochten, die den | |
Besitzer wechseln, die weitergegeben werden. | |
Diese Kreuze sind nicht die Insignien einer Hoffnung, eines Glaubens, der | |
weitergegeben wird. Sie sind Zeichen einer Bürde. Vielleicht muss Scorsese | |
auch deshalb weiter Filme drehen, weil er sich selbst und seinen Figuren | |
die Erlösung stets aufs Neue verweigert. | |
2 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
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